Ästhetik des Widerstands – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Der Transen-Plan http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-neu-el-plan-travesti/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-neu-el-plan-travesti/#comments Tue, 27 Jul 2010 15:00:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=510 …y en plan travesti radical

le doy la espalda a cualquier clase de tristeza…

Fangoria

„Was würdest du lieber sein: Mann oder Frau?“ ist eine der Fragen, die mir zu diesem Abgabethema gestellt wurden. Wenn ich darauf antworte, dass es mir gefällt, das zu sein, was ich bin – klingt das dann selbstgefällig und angeberisch? Alaska, die Sängerin der Gruppe Fangoria erzählt, dass sie mit 12 Jahren die Biographie von David Bowie las; als sie damit fertig war, hatte sie so etwas wie ein plötzliche Erleuchtung. Sie rannte los, um ihre Mutter zu suchen und sagte ganz aufgeregt: „Mama, Mama, ich will ein Mann werden, um schwul sein zu können!“ So etwas Ähnliches würde ich auch antworten, natürlich ohne den Witz dabei, dass ich keine Frau bin, die das sagt. In meinem Fall wäre diese Antwort tautologisch, und vor allem viel weniger glamourös: Ihr fehlt der Glitter und der Bart ist zu viel.

Meine Antwort langweilt mich, aber ich finde die Frage spannend, als eine Möglichkeit, damit zu spielen. Mehr als eine ästhetische denn als eine sexuelle Möglichkeit. Zum Beispiel faszinieren mich die ästhetischen Aspekte der Travestie: Transvestiten, Wesen aus Fleisch und Stoff, die es bis zum äußersten (über)treiben. Sie machen die Oberflächlichkeit zu einer Radikalität. Niemand, nicht mal die Punks, haben es geschafft, allein durch die Kleidung einen Mechanismus zu entwickeln, der in der Lage ist, die Gesellschaft aus der Fassung zu bringen. Ein Mann in Frauen-Kleidern, der in ein Restaurant kommt, kann mit seiner bloßen Anwesenheit bei den anderen Gästen die Diskussion auslösen: „Was würdest du lieber sein: Mann oder Frau?“ Und auch: „Hättest du mich gerne anders?“

Obwohl: Ein Transvestit will es tatsächlich sehr selten schaffen, wie eine Frau zu sein, das stellte schon der Poet Juan Carlos Bautista fest. Ein Transvestit will es schaffen wie ein Transvestit zu sein. Es gibt immer irgendwas, das den Transvestiten verrät: die Größe der Hände, die Perücke, die im ungünstigsten Moment verrutscht, das Brusthaar, das aus dem Dekolletee herausblinzelt. Und genau das macht den Reiz aus. Im Gegensatz zu den Transsexuellen sucht der Transvestit keine festgelegte Identität, er thematisiert sie vielmehr mit dem einfachen An- und Ausziehen der Kleidung. Auf eine gewisse Art ist die geschlechtliche Undefiniertheit des Transvestiten viel gefährlicher für die binäre Denkweise, als die Transsexualität. Aber es ist ungerecht von mir so über Transsexualität zu sprechen. Natürlich können ihre Möglichkeiten so abwechslungsreich sein wie radikal und destabilisierend. Der/die KünstlerIn Del LaGrace Volcano hat wundervolle Fotografien zur Geschlechtsumwandlung gemacht. Eigentlich sind Drag-Kings ihr Spezialgebiet, also Menschen, die als Frau geboren wurden und eine Über-Maskulinität entwickelt haben – und damit meine sexuelle Vorliebe in Frage stellen.

Auch wenn die Maskulinisierung des Femininen bei den Drag-Kings von Del LaGrace Volcano eindeutig ist, machen die Transvestiten ihrerseits ein anderes Phänomen der Maskulinisierung des Femininen sichtbar, das weniger offensichtlich ist. Was für ein Frauentyp wird in einer Travestieshow imitiert oder karikiert? Selten eine normale, durchschnittliche Frau. Normalerweise identifizieren sich, ästhetisch betrachtet, die Transvestiten eher mit Frauen, deren weibliche Attribute überdurchschnittlich ausgeprägt sind. Egal, ob Sängerinnen oder Porno-Darstellerinnen, bei den Frauen, die den Transvestiten als Vorbild dienen, schwingt immer eine maskuline Version des Femininen mit. Ich meine damit: Eine Porno-Darstellerinnen, die sich die Brüste extrem vergrößern ließ, entspricht mehr einer männlichen Phantasie, als einer realen Frau. In ihrer Über-Weiblichkeit gibt es etwas, was das Männliche berührt, da sie den Blick des Mannes auf sich ziehen will, der Fleisch gewordene Blick sein will.

Natürlich hat heutzutage, viel mehr als früher, jeder die Möglichkeit des Teiresias, jenes Thebaners, der als Mann geboren wurde und später zu einer Frau verwandelt wurde und dann wieder zu einem Mann wurde; den Jupiter und seine Frau bezogen auf seinen Werdegang befragen, wer den sexuellen Akt mehr genießen würde: Mann oder Frau? Aber auch heute ist wie damals die Frage viel amüsanter als die Antwort.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-neu-el-plan-travesti/feed/ 2
Sich lustig machen über Pilatus http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/ http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/#comments Thu, 17 Jun 2010 17:20:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=268 Er heißt Fernando Barrientos, aber fast alle nennen ihn flaco, den Dünnen. Er wurde 1977 während des Karnevals geboren, just zu dem Zeitpunkt, als das Farbfernsehen nach Tarija kam und diesen Ort in noch ein telenoveleskeres Dorf verwandelte. Er glaubt, sich genau an den Moment zu erinnern, als von ihm im Alter von vier Jahren ein Foto gemacht wurde, das bis heute im Haus seiner Eltern vergrößert an der Wand hängt, und in Originalgröße seinen Kinderreisepass schmückt. 1986, kurz vor dem Morgengrauen eines merkwürdigen Tages, sah er den Kometen Halley vorbeifliegen. Als er zwölf Jahre alt war, kaufte er sich seine ersten Schallplatten und wurde ein Fan der Gewalt in der Musik. Nachdem er mit 18 Jahren seinem dogmatisch-militanten Dasein in der bedeutungslosen Heavy-Metall-Szene abgeschworen hatte, das ihm fast die Stimmbänder gekostet hätte, irrte er ein wenig unsicher umher, auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit, seine Gangster-Energie zu entladen.

Aus Neugierde für den Rauch, der aus einer Bruchbude mit unleserlichem Klingelschild stieß, lernte er ein Paar exzentrische Personen kennen, die ihn sogleich adoptierten. Doch kurz darauf floh er zum Soziologiestudium nach La Paz und befreite sich so für eine kurze Weile von ihnen. Im Jahr 2000, so als hätte ihn der Y2K Millenium-Effekt getroffen, stürzte er in eine neue Krise. Er verbarrikadierte sich zum Lesen, brachte die Zeit durcheinander und begann, ein paar kurze Texte zu schreiben, die in den Anthologien „Memoria de lo que vendrá“ (Erinnerung an das, was kommt), „Conductas erráticas“ (Irrige Verhaltensweisen) und anderen Sammelbänden, Magazinen und Zeitungen erschienen. In der dritten Person Singular zu sprechen, ist für ihn eine Art Therapie.

Er hat all seine Eigenschaften und Fehler einer Prüfung unterzogen und zieht es derzeit vor, leichterdings durchs Leben zu gehen. Eine andere, unverhofftere Metamorphose machte ihn 2008 zum Verleger (eine Tätigkeit, bei der man nichts verdient, aber die man genießt) des Verlags „El Cuervo“ (der Rabe). Er brüstet sich wie ein Pfau mit den ersten drei von ihm verlegten Büchern: „Cuaderno de Sombra“ (Heft des Schattens) von Julio Barriga; „Diario“ (Tagebuch) von Maximiliano Barrientos und „Vacaciones permanentes“ (Permanente Ferien) von Liliana Colanzi. Er ist verliebt in Miss Thailand. Dieses Jahr hat er vor, noch drei weitere Bücher zu verlegen und sich über Pilatus lustig zu machen.

Übersetzung: Anne Becker

]]>
http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/feed/ 2
Con algo hay que empezar http://superdemokraticos.com/poetologie/con-algo-hay-que-empezar/ Sat, 12 Jun 2010 07:59:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=172 Mit irgendetwas muss man ja anfangen: Wir schreiben das Jahr 1997. Die studentische Linke an der Universität zu Köln war fest in der Hand der Regionalwissenschaftler. Regionalwissenschaft Lateinamerika, so hieß der Studiengang offiziell, und die Linken waren mit Solidaritätskundgebungen, Waffeln für Nicaragua, der alten Kuba-Romantik und dem obligaten Chili con carne („Jeder Löffel ein Schlag in die Fresse des Kapitals“) beschäftigt. Nichts für mich, das wurde mir schnell klar, zu Südamerika hatte ich keine Bindung, höchstens zu Spanien, aber eigentlich war ich Poplinker und Wahlfranzose. Denn, außer den ganzen tollen Filmen der Nouvelle Vague und den ganzen tollen Romanen der Surrealisten und des Nouveau Roman, die ich verschlang, kamen auch die Theoretiker aus Frankreich, die damals mein sozusagen linkes Bewusstsein bestimmten. Und ich las sie alle, die Strukturalisten, die Poststrukturalisten, die Dekonstruktivisten und Postmodernen, von Althusser bis Lyotard, von Foucault bis Baudrillard, von Bourdieu bis Deleuze.

In den Neunzigern wurde es Zeit, mit alten Mythen und Romantizismen aufzuräumen, die Ideologien kamen in Misskredit, die Mauer war gefallen, die zweite Welt untergegangen. „Das Jahr 2000 findet nicht statt“, sagte Baudrillard, alle Freiheit schien eingetauscht gegen die technischen Erleichterungen des Lebens, alles kam ins Rutschen und dann ins Fließen, der Kapitalismus schien auf Jahrhunderte unschlagbar. Aber welche Freiheit eigentlich? Welche Freiheit war gemeint – schließlich schien es diese in den östlichen Nationen Europas eben gar nicht gegeben zu haben. Zwar herrschte Gleichheit, aber eben auch Gleichförmigkeit und Unterdrückung alles Unangepassten. Die DDR hatte sich als paranoid, als Zwangsjacke entpuppt. Im wiedervereinten Deutschland, das mich natürlicherweise mehr interessierte als ferne Länder auf anderen Kontinenten, brannten Asylheime und Wohnhäuser, eines sogar in meiner Geburtsstadt Solingen. In Köln antwortete man mit alten Ritualen – man ging auf die Straße, man sang betroffene Lieder, man gab sich ernster als sonst, man demonstrierte. All das gefiel mir auch nicht. Ich wollte schreiben, Schriftsteller werden, wenn überhaupt irgendetwas, das war mir schon vorher klar gewesen. Und neben der Liebe und dem Sex, dem Pop und der Musik, waren der Staat und die Politik die Themen, die mich interessierten.

Und ein Zurück in die Befindlichkeit, in die Bekenntnis- und Betroffenheitslyrik der achtziger Jahre konnte es, das war mir schnell klar, nicht mehr geben. Wie also politische Literatur? Ich schaute in die Franzosenbücher. Und wie war das jetzt noch mal mit der Freiheit? Es gab ein Buch eines deutschen Sozialisten, nicht DDR, sondern Schweden, ein Ziegelstein, ein Schinken – vielleicht sollte ich erst mal lernen, woher die Ideen, die ich gut fand, kamen, und was aus und mit ihnen passiert ist. Das so oftmalige Scheitern der kommunistischen Idee studieren. Das Buch, das dafür in Frage kam, und das ich mit auf die erste Reise seit Jahren nahm, ich war 26, war „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, und die Reise, die ich unternahm, führte nach Barcelona.

Con algo hay que empezar: Von Peter Weiss ist auch das Buch, das ich jetzt lese, es sind die Notizbücher, die rund um das große Buch angelegt wurden. Das andere Buch, das ich gerade anfange, stammt von einem lateinamerikanischen Autor, der lange Zeit in Barcelona gelebt hat und leider schon verstorben ist. Er ist gewissermaßen der Antipode, der notwendige Gegenpol zu Weiss. Ein wenig magischer Realismus und die neue Narration. Das Buch stammt von dem Chilenen Roberto Bolaño und heißt „2666“. Diese beiden Bücher werden mein Denken und Arbeiten hier in den nächsten Wochen begleiten. Mal sehen, was so alles dabei herauskommt.

]]>