Hier hört niemand mehr die Stimmen von Burayr, dem verwüsteten Dorf. Ein paar Alte wiederholen die offizielle Geschichte mit der Überzeugung derjenigen, die sich auf bibliographische Angaben stützen können. Ein oder zwei erzählen mit Scham von einer nebulösen Exkursion von fünf Männern mit Gewehren, oder eher Jungs in Todesangst. Die neuen israelischen Historiker behaupten felsenfest, dass die Bewohner dieses Dorfes gewalttätig vertrieben wurden. Es könnte so aussehen, als würden die zerbrochenen Mosaike, die wir auf unserem Ausflug aufs Land finden, dies bekräftigen. Aber dann gibt es da noch die Geschichte von den zu Tode verängstigten Jungen.
Ich lese auf Wikipedia, dass jenes Dorf einmal jüdisch gewesen ist und Beror Hayil hieß. Später wechselte es seinen Namen und seine Hände: Buraryr, Buriron und noch einmal erneut Beror Hayil. Jedem dieser Wechsel ging ein Konflikt voraus, mit seinen jeweiligen zerbrochenen Fliesen. Ich glaube Wikipedia in der selben Art und Weise, wie ich der Geschichte glaube: wohlwissend, dass die Tatsachen beweglich, konstruiert, verformt sind. Die Geschichte ist eine Knetmasse, die jeder nach seinem Belieben zurecht formt. Ein uraltes Wikipedia, das immer wieder von den Siegern neu geschrieben wird. Die Sieger, die vormals die Besiegten gewesen waren. Die Besiegten, die später die Sieger sein werden.
Wenn man irgendetwas von der viel betatschten Geschichte lernen kann, dann, dass all das, was heute eine Gewissheit darstellt, morgen ein tiefer Weiher voller Zweifel sein wird, umgeben von den Spuren der Gewalt. Ich frage mich und mich überkommt Schüttelfrost, ob dieser Kibbutz weiter seinen Namen wechseln wird. Werden womöglich die Fliesen von diesen Häusern in vielen Jahren von einer Familie auf einem Sonntagsausflug gefunden werden?
Übersetzung: Anne Becker
]]>Ich nehme an, ich muss das erklären: Ich weiß nicht wie es in anderen Ländern ist, aber in Mexiko ist es zumindest so, dass die Geschichte (die offizielle natürlich) eine Art Märchen ist, welches Kindern erzählt wird, um ihnen hartnäckig vaterländische Werte beizubringen -so ungefähr wie der Katechismus, nur unterhaltsamer. Und das obwohl der Katechismus seine Heiligen und seine Märtyrer und seine Heiligenbilder hat. Übrigens, erst vor wenigen Wochen wurden die Reliquien der Unabhängigkeitshelden für einen Straßenumzug ausgegraben: in Mexiko wird nämlich derzeit der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit gefeiert – mit all der überladenen, offiziellen Feierlichkeit, die so ein Tag fordert. Vielleicht kommt daher der genervte Tonfall, in dem ich diesen Text schreibe.
Denn eigentlich fasziniert mich -wie alle Mexikaner- die Geschichte. Möglicherweise weil es Geschichten waren, die uns als Kindern erzählt wurden. Es ist erwiesen, dass Geschichtsbücher -die in Romanform verfasst sind, natürlich- die meistverkauften Bücher in den mexikanischen Buchhandlungen sind. Mexiko hat eine Tradition von hervorragenden Geschichtsschreibern und auch eine bemerkenswerte Tradition von historischen Romanen. Ein faszinierendes Beispiel dafür sind die Nachrichten aus dem Imperium von Fernando del Paso. Kauft das Buch, ich kann es nur empfehlen… Literatur und Geschichte: Die Grenzen sind nicht immer klar. Ist die Geschichte im Grunde nicht immer Literatur, Erzählungen, Fiktion, Mythos, Poesie?
Die Azteken, beispielsweise zerstörten ihre eigenen, traditionellen Handschriften, nachdem sie ihr Imperium festigen konnten, um ihre Geschichte neu zu erfinden: Sie dichteten sich einen neuen, ruhmvolleren Ursprung an, der sie von den Tolteken -eine Art lokaler griechischer Kultur- abstammen ließ. Um bei diesem didaktischen Vergleich zu bleiben, kann man sagen, dass die Azteken die Römer dieser Geschichte waren.
Eine andere Geschichte: Das Kindermädchen meiner Großmutter lebte in Teotihuacan: einem der wichtigsten präkolumbischen zeremoniellen Zentrum vor dem Aufstieg der Azteken. Laut meiner Oma befanden sich Haus und Ackerland des Kindermädchens genau neben der Ruine der großen Mond-Pyramide, bis diese von der Regierung gerettet und zum nationalen Kulturerbe erklärt wurde. Als das passierte, wurde das Kindermädchen von all ihren Besitztümern enteignet und musste trotz ihres Alters von Verwandten aufgenommen werden. Meine Oma erzählte uns, dass sie als junges Mädchen manchmal sonntags nach Teotihuacan ging, um ihr Kindermädchen zu besuchen. Daher hatte sie auch ihre kleine Sammlung präkolumbischer Dinge: Scherbenstücke von Gefäßen, Messer aus Obsidiansgestein, anthropomorphe Figürchen. „Die kamen aus dem Maisfeld“, erklärte sie uns, „wenn sie die Erde pflügten, um die Saat vorzubereiten. Deshalb nennt man diese Figürchen ,Kinder des Maisfelds‘“. Ich stelle mir meine Oma gerne so vor: ein kleines Mädchen, das Teile der Geschichte aufsammelt, wie andere Kinder Muscheln und Schnecken am Strand sammeln oder Glühwürmchen jagen gehen.
Sie hat uns auch erzählt, dass in dem Hühnergehege ein Zugang zu der Pyramide war, aber ihr Vater hatte ihr immer verboten dort hineinzugehen. Diese Geschichte faszinierte mich als Kind natürlich: das Mysterium des Geheimgangs, was wohl dort drinnen war? Von meiner Oma und von Indiana Jones habe ich meine Faszination für die Archäologie. Aber – man muss bei der Wahrheit bleiben – meine Oma hatte sehr viel Phantasie und sie erzählte mir eine Menge Geschichten, von denen ich erst später langsam herausfand, dass sie nicht ganz so wahr waren, wie ich annahm. Dadurch lernte ich, die Quadratwurzel aus der Geschichte zu ziehen.
Vor ein paar Jahren stieß ich auf eine Nachricht in der Zeitung: Archäologen fanden an einer Seite der Mond-Pyramide -genau da, wo laut meiner Oma das Haus des Kindermädchens gewesen war- einen Eingang zu einem Geheimgang: Es stimmte also doch! Ich schnitt den Artikel aus und brachte ihn aufgeregt meiner Oma. Sie las gelangweilt die Neuigkeit und gab mir den Ausschnitt gleichgültig zurück. Ihre Emotionslosigkeit brachte mich durcheinander. Erst später verstand ich es: Für sie bedeutete die sogenannte Entdeckung weder eine Überraschung, noch eine Neuigkeit: Sie wusste es ja schon seit ihrer Kindheit! Für mich jedoch bedeutete die Entdeckung, dass die Geschichten manchmal eben doch wahr sind.
Und, liebe Freunde, so endet diese Erzählung und die Moral von der Geschichte: Oh nein, wie furchtbar! Genauso wie diese alten Märchen, die den Kindern erzählt werden.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
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