América Latina – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Meine deutschen Worte in einem Café in Berlin http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/meine-deutschen-worte-in-einem-cafe-in-berlin/ Thu, 07 Oct 2010 06:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2339 Ich stelle mir vor, dass jemand in einem Café in Berlin eine Zeitung (oder ist es eine Zeitschrift, verzeiht, aber ich bin zerstreut) auf einem Tisch liegen lässt. Bevor die Kellnerin sie in den Müll schmeißt, wirft sie einen mürrischen Blick auf die Zeitung. Sie ist müde: So viel Tassen sind abzuräumen, so viele Aschenbecher zu leeren. Doch auch so erweckt der Titel, in dem von schwarzen Puppen und Angosturabitter die Rede ist, ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht meinen Namen dort stehen, sie findet, dass er komisch klingt. Ist Lara nicht ein russischer Name? – überlegt sie, bevor sie meinen Artikel liest. Sie liest schnell, eine flüchtige Lektüre, damit niemand bemerkt, dass sie liest, anstatt Tische abzuwischen. Sie lacht kurz. Am Ende wirft sie die Zeitschrift (oder ist es eine Zeitung?) weg und so enden meine in die Sprache Goethes übersetzten Worte in einem großen Mülleimer, angereichert mit Zigarettenstummeln, Brotresten, Kaffeetropfen. Naja, wahrscheinlich wird der Müll getrennt, und so finden sich meine Zeilen zwischen benutzten Servietten, Altpapier und zerrissenen Postkarten wieder. Zur selben Zeit bin ich, auf der anderen Seite des Globus, unglaublich froh, dass ich das Glück gehabt habe, an einem multikulturellen, globalen, transnationalen, Internetprojekt  teilnehmen zu dürfen, durch welches meine Worte in einer anderen als meiner Sprache gelesen werden konnten. Als ich 15, vielleicht 16 Jahre alt war, habe ich „Gruppenbild mit Dame“ von Heinrich Böll gelesen und beschlossen, dass er mein Lieblingsschriftsteller sein würde, auch wenn ich nur dieses eine Buch gelesen hatte (mit 15 Jahren sind alle Entscheidungen kategorischer Natur und so brauchte ich sie nicht lange hin und her zu wälzen). Seit diesem Moment haben sich deutsche Straßen, bestimmte deutsche Namen und ein paar Blumen wie auch eine übersetzte deutsche Syntax in meiner Vorstellungswelt eingenistet. Es war eine unglaubliche Erfahrung, mich in der Sprache von Böll zu lesen oder dies zu glauben.

Dieses globale und plurale Internetprojekt hat es möglich gemacht, dass meine Texte, auch in meiner eigenen Sprache, jenseits meiner unmittelbaren Umgebung von einem räumlich entfernten und in sich sehr unterschiedlichem Publikum gelesen werden konnten. So wie es auch ermöglicht hat, dass ich hervorragende, mir unbekannte lateinamerikanische Autoren lesen konnte. Die heitere Tilsa, die ultrapoetische Lena, die intellektuelle Lizabel, die leidenschaftliche María. Von den Jungs ganz zu schweigen! Mein Landsmann Leo Felipe Campos ist eine kleine „Perle“, ich bin sein erklärter Fan. Viele Intellektuelle, die über Migrationen, Exil, Bewegungen, Irrungen, Identitäten und sonstige Kleinigkeiten nachdenken, sagen immer wieder, dass die Heimat die Sprache ist. Und dieser Raum hat gezeigt, wie 15 so unterschiedliche Personen keinerlei Übersetzung unter einander benötigten, weil sie einer Sprache entsprangen, die sich zwar verästelt und verschiedene Farben annimmt, aber dennoch ein und dieselbe bleibt. Ich mochte es nie, über Lateinamerika als einer Einheit zu sprechen, aber es gibt gewisse Dinge, die wir, wenn wir weit von einander entfernt sind, als Einheit stiftend empfinden. Ich lese diese lateinamerikanischen Autoren und ich verstehe sie auf eine Art und Weise, die weit über das Verstehen der Wörter hinausgeht. Denn diese kosmische Sprache, die uns verbindet, reicht weiter, als es ihre eigenen Vokabeln tun. Ich, die ich Tag für Tag im sprachlichen Exil lebe, hege daran keinen Zweifel.

Ein andere wunderbare Erfahrung, die dieser Raum darbot, war die Möglichkeit deutsche Autoren meiner Generation zu lesen. Böll ist sehr gut, aber es war ein großes Vergnügen die wunderschön entrückte Sprache von René Hamann oder die Eleganz von Emma Braslavsky zu lesen. Euch alle zu lesen war, als ginge ich in diesem Moment die (gepflasterten?) Straßen einer deutschen Stadt entlang. Die Texte der fünf beteiligten deutschen Autoren zu lesen, bedeutete zeitgenössische deutsche Literatur zu lesen – eine für mich, die ich die Sprache nicht spreche und nicht über die Mittel verfüge, an Übersetzungen (sofern sie existieren) heranzukommen, so schwierige Angelegenheit. Ich spürte den Puls der Texte dieser unterschiedlichen Autoren und vermochte auch hier ein zart gestricktes Muster zu vernehmen, das es mir irgendwie ermöglichte, Zugang zu einer Generation von Deutschen zu bekommen, von der ich nichts wusste. Die Fäden dieses Strickmusters weisen Ähnlichkeiten mit meinem eigenen Strickmuster auf. Wir sind mit unsichtbaren Fäden mit einander verstrickt und nur dieser Raum hat sie spürbar werden lassen. Wir sind durch das Netz „verstrickt“, durch die Globalisierung, die Generation oder wie auch immer man das nennen mag, was mich dazu befähigt, euch zu verstehen, Übersetzer wenn man will, aber weit über den unmittelbaren Wortsinn des Übersetzers von Worten hinaus.

Ich danke Rery Maldonado und Nikola Richter für diese aus dem Wollknäuel ihrer Träume entwickelte Idee, uns alle zusammen zu bringen. Dank ihnen sind meine Worte in einem Café in Berlin. Und meine Stimme in einem Ort im Äther des Cyberspace. An einem Ort dieser Raumzeit Null – dieses Chronotopos cero – haben wir uns getroffen.

Übersetzung: Anne Becker

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Heute Bürger, morgen Fremder? http://superdemokraticos.com/themen/burger/heute-burger-morgen-fremder/ Thu, 09 Sep 2010 07:48:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1785

Cover, Sherry Yorke: Multicultural Literature. Foto: Linworth Books

Mein Land ist Kuba, aber heute bin ich zu Besuch in den USA, um genauer zu sein, in Miami. Eine erstaunliche Stadt, voller Latinos – Immigranten aus Lateinamerika – und mit einem Klima, das dem von Havanna ähnelt. Die Kategorie Latino scheint nur hier Sinn zu machen oder im Rest der USA und Kanada. Latino ist eine Etikettierung, die ich politisch sehr produktiv finde, da sie von den kulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten Zeugnis ablegt, das heißt, den Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten zwischen dem Nordamerikanischen oder dem, was als Gringo bezeichnet wird, und den verschiedenen Kulturen Lateinamerikas.

Es ist nicht so, dass alle Latinos in den USA denselben Umgang mit dem Nordamerikanischen führen würden, natürlich nicht. Die Kubaner, die Puertorikaner, die Mexikaner – die in Texas am zahlenstärksten sind – die Kolumbianer, die Menschen aus der Dominkanischen Republik, unter vielen anderen, eignen sich auf verschiedene Weise den american dream an. In Miami, zum Beispiel, scheinen die Kubaner tendenziell nach einem wirtschaftlichen american dream zu streben und ihn zu erreichen. Ich weiß von Puertorikanern in manchen Gegenden dieser Stadt, die in Vierteln wohnen bleiben, die als arm und schwarz gelten. Ersteres kann man dort mit eigenen Augen erfahren, zweiteres hat mit der Stellung zu tun, die bestimmte kulturelle Identitäten innerhalb der Vorstellung des Nordamerikanischen innehaben, die von dem Attribut „white people“ dominiert wird, was zugleich auf eine ethnische wie eine politisch-ökonomische Überlegenheit hinweist. Mit „white people“ meint man Angelsachsen oder deren Nachfahren. Alles, was da nicht reinpasst, fällt bezeichnenderweise aus der Kategorie Weiß heraus – was uns in Erinnerung ruft, dass die Kategorie Rasse zur Zeit der Kolonisierung Amerikas geboren wurde.

In einem informellen Treffen mit Studenten und Bibliotheksangestellten der Universität von Miami traf ich auf junge Leute, die aus Puerto Rico, Mexiko, Kolumbien, Haiti, Kuba… ausgewandert waren. Alle lebten schon seit Jahren in den USA, und ich hatte den Eindruck, dass sie von ihrem Ursprungsland wie von einer entfernten Vergangenheit sprachen oder wie von einem Ort, den man verlassen musste, weil die USA ein besserer Ort seien. Sie fragten mich, ob ich nicht lieber hier bleiben würde, statt nach Kuba zurückzugehen. Als ich verneinte, fragten sie mich, warum.

Warum würde jemand in ein Land zurückgehen wollen, in dem die wirtschaftliche und soziopolitische Lage instabil ist oder  gar einem Alptraum gleicht – in dem Sinne, dass sich das Land in einem Teufelskreis ohne sichtbaren Ausweg zu befinden scheint? Meine Antwort liefert keine Begründung, sie basiert auf Intuition. Auch wenn ich es für wichtig erachte, die Latino-Identität als ein Gegenmittel zur  unheilbringenden Ideologie der bis zu einem gewissen Grad hinfälligen nationalen Identität zu stärken, möchte ich zurückkehren. Denn ich erachte es für wichtig, sich in der Zivilgesellschaft jener Länder einzubringen, die zurück gelassen werden, wenn die Menschen auswandern. Ich finde es wichtig, Migration weniger als Auswanderung aufzufassen – Kuba und jedes andere  lateinamerikanische Land sind so an Abschiede und an durch Ozeane getrennten Familien gewöhnt – denn als ein Hiersein, während man dort ist und viceversa. Nicht gen Norden oder nach Europa als einem Vorbild zu schauen, sondern als ein Beispiel dessen, was wir nicht sind und nie sein werden. Ich schlage also das Reisen als einen Lernprozess vor. Damit meine ich nicht eine Auswanderung, um eine neue nationale Identität oder eine doppelte Nationalität zu erlangen, sondern den Versuch, die sich selbst überholte oder im Wandel begriffene – wann war das in Lateinamerika nicht der Fall? – nationale Identität  abzulegen und zu einer neuen Form der Idenität zu gelangen. In dieser Identität kreuzt sich das Erfahrungswissen, das Wissen, was aus nichts anderem als aus der Erfahrung gewonnen wird… , mit den eigenen und fremden kulturellen Praktiken.

Ich schlage vor, das Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren. Meine Heimat, meine Stadt, befinden sich vor allem an Schnittstellen. Und ich glaube, damit bin ich nicht die einzige…

Übersetzung: Anne Becker

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