„Sitzt nicht so viel vorm Computador!“

Porträt der österreichisch-jüdischen Buchhändlerin Lilly Ungar, die die älteste mehrsprachige Buchhandlung Bogotás betreibt, die Librería Central.

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Lilly Ungar lässt es sich nicht nehmen: Jeden Morgen um 9.30 Uhr ist sie eine der ersten in der Librería Central im Norden von Bogotá, Calle 94, # 13-92. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, der an einer Wand zwischen der internationalen und der lateinamerikanischen Literatur steht, dort empfängt sie Gäste, Freunde, Mitarbeiter, Journalisten, aber auch Telefonate. Sie gibt Bestellungen auf, bespricht die Anordnung der Bücher in den Schaufenstern. „Ich kann nicht mehr 24 Stunden am Tag lesen, meine Augen sind nicht mehr so gut“, erklärt sie lächelnd. Sie durchforstet die Kataloge, die nationalen und internationalen Zeitschriften, bestellt aus Deutschland, den Staaten und Spanien und bei den kolumbianischen Filialen der Verlage aus Mexiko und Spanien.
„Haben wir genug von dem Jobs?“ Das Buch über den Apple-Gründer Steve Jobs werde doch gerade überall besprochen, das sollte auf jeden Fall sichtbar an der Kasse stehen. Die 90-Jährige Buchhändlerin und -liebhaberin, die vor 60 Jahren mit ihrem vor ein paar Jahren verstorbenen Mann Hans Ungar die erste Buchhandlung in Bogotá gründete, wie sie sagt, „sein Hobby und sein Glück“, spricht freundlich, aber bestimmt. Sie ist die Chefin hier über spanische, englische und deutsche Bücher. Und sie ärgert sich maßlos darüber, dass das lokale Goethe-Institut seine Bibliothek einfach auflöste, aus Platzgründen. „Wie soll man denn ohne Bücher eine Sprache lernen?“

Das Ehepaar Ungar leistete wie kein anderes einen Beitrag zur Kulturszene der Stadt: Es eröffnete die erste Galerie, die sich der zeitgenössischen kolumbianischen Kunst widmet und unter anderem die ersten Ausstellungen von Fernando Botero oder Alejandro Obregon organisierte; Hans Ungar machte sich einen Namen mit anthropologischen Reisen in unerschlossene Gebiete des Landes.
Während eine Mitarbeiterin uns Kräutertee serviert, nehme ich auf einem Ledersessel Platz, blicke auf Familienfotos an der Wand, eine volle Ablage und auf eine elegante Dame im Wollpulli mit Perlenketten, die ein singendes Wienerisch spricht, das gespickt ist von Spanizismen. „Zu Hause haben wir eine Bibliothek von 26.000 Bänden, die vier Zimmer füllen. In vier Sprachen, was einmal ein Problem für unsere Erben sein wird, die alle kleine Apartementos haben.“

1939 floh Lilly Ungar mit ihrer Schwester und ihrem Vater „aus politischen und rassischen Gründen“ gerade noch rechtzeitig aus Österreich, im September, als der Krieg ausbrach. Auf dem Schiff nach Kolumbien lernten die Geschwister aus einem Buch Spanisch, Lilly Ungar war noch keine 18 Jahre alt, jede Person durfte nur 25 Dollar mitnehmen. Zunächst lebten sie ein Jahr in Medellín, wo der Bruder schon einen Posten hatte. Als er dann einen besseren in Bogotá fand, zogen alle mit ihm um. Dort lernte Lilly ihren Mann Hans kennen. „Trotz allem, was passiert ist, reisten wir später einmal im Jahr nach Wien, wir hatten doch viele Freunde dort. Heute sind nicht mehr viele übrig“, berichtet sie leise.

Aus Lilly Ungar spricht eine selbstverständliche Kultiviertheit. Gerade habe sie wieder Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ wiedergelesen und es ganz anders verstanden als früher. Das Buch steht in spanischer Übersetzung an der Kasse – neben Jobs und neben dem aktuellen gefeierten Roman „Tres ataúdes blancos“ ihres Sohnes Antonio Ungar, der in Palästina lebt, einem Politthriller über das fiktive Land Miranda, das nicht nur zufällig Kolumbien ähnelt.

Mit einem unerschütterlichen Glauben hat Doña Ungar zeitlebens die Literatur verteidigt. Doch nun sieht sie eine aktuelle Bedrohung: „Der Computador ist ein großer Schaden für alle Buchhandlungen. In Paris haben 35 Prozent der kleinen Buchhandlungen schon zugesperrt.“ Daher wünscht sie sich, dass „die Leute mehr lesen und weiter Bücher kaufen, und nicht nur am Computador sitzen. Wir als Kinder waren glücklich, wenn man uns Bücher geschenkt hat.“ Zum Abschied schenkt sie mir zwei Bonbons, und den Rat, mich in Ruhe unter den 35.000 Büchern des Ladens umzuschauen. „Lassen Sie Ihre Tasche hier bei mir unter dem Schreibtisch, das ist der sicherste Ort.“

3 Kommentare zu '„Sitzt nicht so viel vorm Computador!“'

  1. Barbara sagt:

    Habt ihr ein paar Büchlein gefunden, die mit euch über den Ozean reisen oder ist schon eine große Kiste nach Europa unterwegs? Es lebe das Buch!

  2. Nikola sagt:

    Heute packen und verschicken wir unsere Kiste!

  3. Antje sagt:

    Eine tolle und bewundernswerte Dame!
    Den Café tinto und die nette Unterhaltung werden wir immer in Erinnerung halten!