Das transtemporäre Schawarma

In jener kleinen Straße in Kreuzberg gibt es einen ganz besonderen Schawarma-Laden. Ich werde euch die genaue Adresse nicht verraten, denn es ist einfacher sich der Entropie hinzugeben und einfach auf ihn zu stoßen.

Genau so habe ich ihn gefunden, aus blindem Zufall, nachdem ich drei Stunden lang verloren durch Berlin irrte und versuchte die Bibliothek des Iberoamerikanischen Instituts zu finden. Ich wollte dort ein bisschen über Zeitreisende nachlesen und in einigen brasilianischen Chroniken des deutschen Expeditionsteilnehmers Hans Staden recherchieren, aber schlussendlich besiegte mich am Ende der Hunger und die Verzweiflung, darum betrat ich den kleinen Schawarma-Laden.

Ich bestellte mir zwei.

Sehr lecker das erste Sandwich. Und dann das zweite, irgendetwas mussten sie mir hineingemischt haben, denn auf einen Schlag verstand ich, dass der Drehspieß, auf dem das Fleisch seine Runden drehte, in Wahrheit eine Vorrichtung sui generis ist, welche dimensionale Sprünge von Personen aus verschiedenen Zeiten und Orten ermöglicht. Ich schwöre, genau so ist es. Warum sollte ich euch auch anlügen? Das ist ein Artikel und keine Fiktion. Jedenfalls sah ich, während ich auf einem saftigen Stück Lammfleisch kaute, wie vor diesem Drehspieß ein Kubaner erschien, oder er erschien mir eben als solcher, dunkelhäutig, gekleidet genau wie ein Galan der 1950er, in Begleitung von drei Frauen, herausgeputzt für den Karneval von Rio.

Der Kubaner und seine Begleiterinnen erstrahlten im Glanz der Aale in Gewässern der Dunkelheit. Sie begannen Hegels Dialektik zu diskutieren und hauten sich gleichzeitig gegenseitig auf den Hintern. Sie sprachen perfektes Englisch und schienen wirklich aus einer anderen Zeit zu sein, denn mit keinem Wort erwähnten sie Fidel Castro. Das fand ich sehr gut. Cha Cha Chá: Der Drehspieß war ein einziger Lichtstrahl.

Nach kurzer Zeit sah ich ein neues Funkeln aufleuchten … ein Gesicht zeichnete sich ab, wie ein außerirdisches Poster an der Wand eines Teenager-Zimmers. Es war eine Albino-Frau. Ich würde sie ja blond nennen, aber das Wort würde ihr nicht gerecht werden. Weiß, wie die weiße Magie des Milchpulvers. Ihre Gesichtszüge hingegen waren die eines Menschen mit indio-amerikanischen Wurzeln. Aztekin, vielleicht. Das auffälligste an ihr war aber, dass sie einen Huipil, einen traditionellen Umhang aus präkolumbischer Zeit trug, mit all den typischen Färbungen, aber mit einem sehr modernen Hoody integriert als schillernden Federbusch. Sie sah mir direkt in die Augen und vermittelte mir ein telepathisches Wissen, das mich zum Weinen brachte. Die anderen Gäste dachten, meine Tränen rührten daher, dass ich zu viel Chili in meine Tacos getan habe.

Ich ging auf die Toilette und kam nach wenigen Minuten zurück.

Der Nächste, der erschien, war Muammar al-Gaddafi. Oder jemand, der ihm wirklich sehr ähnlich sah, etwa 15 Jahre älter. Ein Klon, der aus der Zukunft kam? Genauso gruselig und grausam, er wand er sich in einer Sprache an mich, von der ich annahm, dass es Griechisch sei: „Was guckst du, blöder Hund?“, keifte er. Und ich verstand es. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass er mir keine Angst gemacht hat, aber anstatt zurückzuschrecken konterte ich mit einer heftigen, politischen Tirade, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere und die den libyschen Führer nicht einmal mit der Wimper zucken ließ. Er ging einfach weiter, sein Schawarma kauend, mit einer Afri Cola in der Hand.

Während ich verdaute, wurde mir bewusst: Das ist mein Berlin.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Kommentare geschlossen