Lügen verleiht Flügel

Und wohin fliegt man dann? Los Superdemokraticos will mit dem Monatsthema „Lüge“ über aktuelle Unwahrheiten sprechen, zwischen Paaren, Parteien, Populisten.

Lügner geben sich schnell zu erkennen. Denn Lügen haben kurze Beine und lange Pinocchionasen. Lügner verdrehen die Augen, schauen den anderen nicht an, blinzeln häufig, haben einen starren Blick, verschränken die Arme aus Abwehr, kratzen sich im geröteten Gesicht, nässen ihre Lippen und lächeln grundlos. Sie hängen wie Marionetten an ihrer eigenen fixen Idee. Und wie alles, was irgendwie als „böse“ gilt, übt die Lüge eine unheimliche Faszination aus. Sie ist des Teufels, der ihr Vater war, sie verführt mit süßen Schmeicheleien und erlernbarer Rhetorik: „Du bist der Stern meines Lebens“ etcetera etcetera. Gebrannte Kinder können hier nur lachen, denn sie sind nicht so einfach zu manipulieren. Wenn der Glauben an die Worte des anderen enttäuscht wurde, helfen nur noch Taten wie „Immer da, wo du bist, bin ich nie“ (Element of Crime). Denn das Gegenteil, ein totaler Faktencheck, ein „Bildblog für dich“, das akribisch deine persönlichen Fakten bei anderen überprüft, geriete zum Privacy Showdown.

Schwieriger wird es, wenn die Lüge aus dem Privaten in das Öffentliche schwappt. „I never had a sexual relation with that woman“, erklärte Bill Clinton vor Gericht. Für ihn hätte eine sexuelle Beziehung erst dann bestanden, wenn nicht nur sein Schwanz im Mund von Monica Lewinsky, sondern er als Gesamtmensch einen aktiven Part übernommen hätte. Es kommt, wie bei so vielem, auf die Interpretation an. Bis vor einem Jahr hieß der „Krieg in Afghanistan“ in der deutschen Öffentlichkeit noch „bewaffneter Konflikt“. Der damalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichnete im April 2010 als einer der ersten die Situation als „kriegsähnliche Kampfhandlung“. Danach stürzte er allerdings über eine andere Lüge: Er vertuschte die Quellen seiner Doktorarbeit, die sich als ein aus Fremdzitaten zusammengeschustertes Plagiat entpuppte, und musste schließlich als Lügenbaron zurücktreten.

200mal pro Tag lügt der Mensch jeder Couleur, hat der Alltagspsychologe John Frazer herausgefunden. Damit ist klar: Lügen macht das Zusammenleben erträglich. Die so genannte soziale Lüge ist eine Konvention, die zu anderen Zeiten Anstand, Höflichkeit oder Aufrichtigkeit hieß. Mit dieser bürgerlichen Tugend wurden Verwürfnisse verschleiert, Beleidigungen verhindert. Friedrich Nietzsche nennt sie in seinem Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ von 1872 einen „Friedensschluss“, der den Krieg aller gegen alle verhindert.

Dieser Friedensschluss bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an „Wahrheit“ sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge.

Die Postmodernen wissen genau, dass es so etwas wie die großgeschriebene Wahrheit nicht gibt. Ebensowenig wie die „Afghanistan-Lüge“, die „Biosprit-Lüge“, die „Euro-Lüge“. Die Lüge ist eine von vielen Möglichkeiten der sprachlichen Erfassung der Welt anhand einer bestimmten Ideologie. Lügner wollen täuschen, Gelder verschwinden lassen oder vermehren, Macht gewinnen, Fehler verheimlichen. Wollen am Ende vielleicht einfach nur geliebt werden, von einer Person, der Geschichte, dem wie auch immer gearteten „Betrieb“, der Familie, Freunden oder von einem Wahl-Volk. Jonathan Swift nimmt in seinem Essay „The Art of Political Lying“ (1729) die politische Elite seiner Zeit aufs Korn und identifiziert sie anhand ihrer schnellen Wirkung: „Es kommt oft vor, dass eine Lüge nur eine Stunde geglaubt wird, dann aber hat sie ihr Soll erfüllt. … Falschheit fliegt, die Wahrheit humpelt hinterher.“ Jede Lüge hat Flügel, aber sie fliegt nur soweit, wie jemand ihr glaubt. Fliegt die Lüge auf, sind die Lügner meist schon woanders, nicht dort, wo Federn gelassen werden.

Die Lüge ist immer spannend, ist Erzählung. Sie füllt Lücken, versucht, Zusammenhänge herzustellen, wenn da keine sind. Manchmal heißt sie Literatur oder als Krankheit „Konfabulieren“. Interessanterweise ist Lügen schwieriger als Nicht-Lügen: Neurophysiologen haben herausgefunden, dass das Gehirn stärker beansprucht wird, wenn man sich doppelt, also auf das Original und den Schein, das alternative Gedankengebäude, konzentiert. Moralisch bewertbar ist das erstmal nicht, moralisch verwerflich kann höchstens die Haltung und die Absicht sein, die der Lügner oder die Lügnerin haben, sagt Adorno in Jinn Pogys Video. Lügner nehmen ihre Gegenüber nicht für voll, degradieren sie, indem sie sie im Unklaren lassen. Immanuel Kant diskutiert lieber gar nicht erst über die Wahrheit, sondern über die Wahrhaftigkeit. Wer diese Pflicht nicht erfülle, füge der Menschheit, so Immanuel Kant, ein Unrecht zu.

Ich glaube das auch. Diese Wahrhaftigkeit muss es in persönlichen, juristischen, ökonomischen, politischen Beziehungen geben. Nur auf dieser Basis sind wahrhaftige Beziehungen überhaupt möglich. Der einzige Ort, wo die Wahrhaftigkeit außer Kraft gesetzt werden kann, ist die Kunst. Die verleiht ja bekanntlich auch Flügel.

Bisher 1 Kommentar zu 'Lügen verleiht Flügel'

  1. herzbine sagt:

    es gibt nur eine situation, in der der mensch nie lügt – wenn er eine entscheidung trifft.

    sagt zumindest thomas müller, der kriminalpsychologe. anhand der entscheidungen die ein mensch trifft, kann man deshalb auch rückschlüsse auf dessen charakter, vorlieben etc schließen. was sagt uns dass dann zb bei clinton? ;-))