Die Zukunft der fehlenden Seiten

Eigentlich wollte ich diesen Text im Flugzeug schreiben. Über den Wolken. In einer Turkish Airlines Boeing, mit der ich von Berlin nach Istanbul gebracht wurde. Ans Goldene Horn. Dahin, wo Okzident und Orient zusammentreffen. Ich dachte mir, in diesem Luftgefährt kommen mir bestimmt geniale Ideen, die mein Leben in der deutschen Hauptstadt mit den touristischen Erfahrungen in der türkischen Metropole beschreiben. Ich würde neue Einsichten in das Europäische des 21. Jahrhunderts bekommen, aber auch in das Globale (so von oben auf die Welt geschaut), vielleicht auch den Zufall als Lehrmeister haben und neben einem klugen Traveller sitzen, einem Alltagsintellektuellen. Aber es kam anders. Ich schlief ein. Unter mir brummten die Düsen. Die Frau neben mir schlief ein. Das Mädchen neben ihr schlief auch ein. Müder alter Kontinent…

Ich hatte einen Traum.

In meinem Traum gab es keine Talkshows, keine Podiumsdiskussionen, auf denen irgendwelche scheinbar aktuellen Fragen von immer denselben Experten verhandelt wurden, keine Jetsetintellektuellen, da auch das Fliegen unbezahlbar geworden war. Regionale Denker hielten Vorträge, zu denen per Mundzumund-Propaganda eingeladen wurde. Das Fernsehen war abgeschafft worden, weil es keiner mehr schaute. Das Internet war kontrolliert, nur noch, wer zahlte, durfte Inhalte online stellen. Eine Stunde surfen pro Tag war kostenlos, danach galten Minutenpreise. Facebook kostete pro Post, Like und Message – die Monatsgebühr von 20 Euro hatte damals niemanden abgeschreckt, so dass Zuckerberg auf andere Zahlmodalitäten gekommen war. Da in die Bibliotheken schon lange nicht mehr investiert worden war, hatte der vollständige Bestand im Jahre 2011 aufgehört, danach hatte man den Katalog kosten- und platzsparend auf Ebooks umgestellt. Jetzt, im Jahr 2033, waren die Lesegeräte rar, mit denen man diese alten Daten hätte lesen können. Und auf Amazon und Google gabs nur US-amerikanische Klassiker günstig zu erwerben. Viele Autoren schrieben auf Englisch oder Chinesisch, weil der Markt nur nach diesen Sprachen fragte – kleinere Sprachen hielten sich auf Minimalniveau im Alltagsgebrauch, das Vokabular schrumpfte. Wer ein Wörterbuch besaß, war eine lokale Größe.

Wer etwas zu sagen hatte und dies nicht nur mündlich weitergeben wollte, musste eine der wenigen existierenden Druckereien aufsuchen und dort per Hand seinen Text setzen oder einen Kopisten, einen Abschreiber finden. Papier war teuer geworden, wie alle Rohstoffe, aber wer Kontakte hatte, konnte auf alte Reserven der Verlage zurückgreifen. Die meisten waren konkurs gegangen, weil sie verpasst hatten, relevante, eigenständige Programme zu entwickeln und sich immer stärker den Marketingabteilungen gebeugt hatten. Honorare für Buchcover waren höher gewesen als die Vorschüsse für die Autoren. Letztere waren daher vermehrt auf den Selbstverlag umgestiegen, so mussten sie nicht damit rechnen, dass ihr Buch sechs Monate nach Erscheinen Makulatur wurde. Wer kein Geld für ein gesamtes Buch zusammenbekam, war zufrieden mit Flugblättern und Kleineditionen, die dann meist durch viele Hände gingen. Ein einzelner Gedanke war wertvoll, weil selten. Da die Arbeitslosigkeit fast 100 Prozent erreicht hatte, setzte der Staat auf regionale, von Bürgern organisierte Bildungsangebote, Naturpflege und Sport, was gegen Vereinsamung helfen sollte. Einige erinnerte das an die 1930er Jahre in Deutschland, und sie sehnten sich nach dem Individualismus des späten 20. Jahrhunderts zurück. Aber der war unwiderbringlich verloren gegangen. Jetzt zählte ein neuer Verantwortungskollektivismus…

Ich schreckte auf, als mir ein dreigängiges Menü serviert wurde. What would you like to drink, M’am? Tomato Juice, please.

Und ich nahm eine gedruckte Zeitung zur Hand, den Herald Tribune, mit einem Porträt des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami, der darin von sich sagte, er sei zu 99 Prozent Autor und zu einem Prozent Bürger. Wenn er etwas Politisches zu sagen habe, dann würde er es deutlich sagen. Und somit war er eine der lautesten Stimmen, die sich in Japan gegen die Weiterbenutzung von Atomkraft aussprach. Ansonsten, schrieb der Journalist, lebte er wie ein Mönch, mit seinen 10.000 Schallplatten – aus der Zeit, als er noch in Tokio eine Jazzkneipe betrieb. Ein versteckter Staatsintellektueller. Auch er hätte den Nobelpreis verdient.

Please fasten seatbelts. Ready for landing.

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