Neue Welt im Netz – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Gruppen-Trolling in der fünften Internationale http://superdemokraticos.com/poetologie/gruppen-trolling-in-der-funften-internationale/ Fri, 16 Nov 2012 16:30:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6458

Wir sagen: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Dort, wo Facebook der drittgrößte Staat der Welt ist, wo es keine Netiquette gibt, aber Nutzungsverträge, die niemand liest, wo Liebe wirklich immer ein Wort ist, wo Zustimmung nur einen Mausklick bedeutet, wo wir uns mit Unbekannten anfreunden und Bekannte entfreunden und wo das Dark Web von selbsterwählten Nerds und Hackern regiert wird, wo Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht sich in HTML auflösen, sind wir Hyperlinks in einer hyperlinken Zeit.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Innerhalb der Mauern der hyperlinken Zeit entwickelt sich die Utopie eines vormarxistischen Ursozialismus. Das hegelianische Fortschrittsdenken hat sich aufgelöst, die lineare Hoheitsbetrachtung der Geschichte hat abgedankt. Sich über die technische Revolution neu zu erfinden, bedeutet, flüssige Zeit- und Raumverständnisse zu vertreten. Zum Beispiel: am Berliner Schreibtisch bolivianisches Radio hören. Also muss heute jeder ein Anarchist sein. Denn das Internet bedeutet Freiheit, Unordnung, unkontrolliertes Sprechen und Schreiben, zumindest in seinem Idealzustand. Das freie Web lässt uns in kurzer Zeit einfach und schnell neue Ideen entdecken, Ideen, gegenüber denen es eventuell Vorurteile gibt. Gegebene Machtstrukturen werden durch diese Entwicklungen ernsthaft in Frage gestellt – die Reaktion darauf ist, dass im Namen von Sicherheit und Gerechtigkeit, Einschränkungen vorgenommen werden. Die Bullen sind schon da, aber wir fordern Wlan weltweit. Das Netz darf nicht kolonialisiert werden, es gehört allen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im freien Netz entstehen.

Vor allem sind wir im Netz sprachlich verfasste Wesen. Unsere Subjektivität stellt sich durch Worte und Bilder dar, in ästhetischen Entscheidungen, die sich auf kollektives Unterbewusstes beziehen. Die geheimen Sehnsüchte der Menschen treffen sich online.

Das Netz gibt uns die Möglichkeit, unsere eigene Minderheit weltweit maßzuschneidern, ständig vernetzt, oft allein, als Aktivisten für die Verbreitung von Inhalten. In der Anonymität unserer Avatare brauchen wir uns nicht an dominante Meinungen anzupassen – vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran, hoch, runter, lady bum. So können Stereotype eher gebrochen werden.

Daher ist das konsequenteste befreite Schreibverhalten das Schreiben von Blogs. Blogger sind bewusste Internet-Nihilisten. Ihre „zero comments“-Haltung ist eine positive Strategie für das Vorbeischreiben am Mainstream und am Verlagswesen der Bertelsmänner und Pinguine. Bertelsmannprodukte sollte man kennzeichnen wie Zigarettenschachteln. „Achtung: Die Pseudokultur, die wir verkaufen, kann ideologischen Schaden zufügen.“

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur in freien Räumen im Netz entstehen.

Wir sind umgeben von einer Ästhetik der Oberfläche. Das ist auch das Problem von linken Parteien und Institutionen, die sich auf eine oberflächlich-linke Ikonographie beziehen, die mehr der Nostalgie gewidmet ist als einem neuen Umgang miteinander. Hauptsache, Rot, Rot, Rot. Und mit Bart. Gerne auch ein Che-Guevara-Jutebeutel. Hammer und Sichel. Dabei ist das Arbeiterproletariat durch das Proletariat der Tastatur-Dienstleister ersetzt worden, die eher einem Chat auf Global English als einer Gewerkschaft beitreten würden. Doch wo ist die übernationale Lobby für die neuen Netzarbeiter? Wer kämpft für das globale Grundeinkommen von Freidenkern, die demokratische Strukturen aufrechterhalten wollen?

Das Internet muss als politischer und kultureller Ort aufgewertet werden. Es gräbt Klassiker aus und rettet sie vor dem Vergessen. Die Bibliothekare des Internets sind Kopisten, die ihre Lieblingstexte abschreiben, mit URLs versehen und der globalen Leserschaft schenken. Hyperlinke Autoren müssen sich stärker mit ihrem linken Stammbaum beschäftigen, auch mit dem Teil des Stammbaumes, der gezwungen war, Europa zu verlassen. Lateinamerika ist überfüllt von Anarchisten und Trotzkisten, zwei linken Minderheiten, die sich mit Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft beschäftigt haben und die es nie groß in die Medien geschafft haben.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch Wissenskommunen entstehen.

Lasst uns über Trotzki reden. Er war einer der weniger Revoluzzer, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigt haben. Ein Mann mit Bart. Und ein Exilant in Lateinamerika. Wir haben sein Haus im bürgerlichen Stadtteil Coyoacan in Megalo-Mexiko-City besucht. Seinen Bunker. Den Innenhof, in dem er Kaninchen und Hennen in Ställen züchtete, weil er glaubte, dass der revolutionäre Schreiber sowohl intellektuelle Arbeit als auch Handarbeit leisten müsse.

Die erste Bedingung für den Künstler ist die thematische Freiheit, um zu einer eigenen Ästhetik zu gelangen, schrieben Trotzki und Breton in einem gemeinsamen Manifest, das sie 1938 in Mexiko verfasst haben. Daher wird ein Roman, der den Untertitel „linker Roman“ trägt, als linker Roman scheitern. Das Andocken an eine linke Systemästhetik nimmt dem Kunstwerk seine ästhetische Eigenständigkeit. Wir müssen unterscheiden zwischen links als Label, als Aufkleber auf dem Fahrrad oder Auto, und zwischen hyperlinks als utopischem Aktionismus. Ein hyperlinker Autor ist der, der frei schreibt und als Mensch gerecht handelt. Freie Kunst wird von den orthodoxen Linken, die es in die Geschichtsbücher geschafft haben, nicht allzu sehr geschätzt.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch freie Geister im Netz entstehen.

Als freie Geister werfen wir uns tiefe Blicke zu, in denen sich die Gegenwart zur Unendlichkeit ausdehnt. Wir dürfen auch mal was Romantisches sagen. Die Zukunft, in der wir uns treffen, verläuft als kodierte Doppel-Helix, sie besteht aus unendlichen Kombinationen von Nullen und Einsen, Xen und Ypsilons. Die fünfte Sonne der Mayas fängt in diesem Jahr im Dezember an, ein neuer historischer Abschnitt beginnt. Es ist die Zeit gekommen, dass der hyperlinke Autor einen ganz neuen Menschen und neue Leserschaften erfindet, die sich über Grenzen hinweg organisieren. Sie alle brauchen Übersetzer, um plural und demokratisch zu bleiben, etwa wie Yoani Sanchez, die kubanische Bloggerin, deren Blog von Freiwilligen in etwa 20 Sprachen übersetzt wird. Trotzky sprach Spanisch mit russischem Akzent. Die neuen literarischen Netzaktivisten lesen und schreiben auch mit Akzent, sie sind fehlerhafte Mestizen mit vielen Augen und Sichtweisen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale fordert: Benutzt „FREE GOOGLE TRANSLATE“.

Es müssen neue Tätigkeiten anerkannt werden: Statt Toto Lotto zu spielen, sollte jede Woche der beste Tweet mit 30.000 Euro ausgezeichnet werden. Aphorismen zu schreiben, ist hartes Brot. Wenn schon Facebook alle unsere Inhalte speichert und auswertet, sollte der Konzern auch ab und zu das beste Foto kaufen. Wer seine Lieblingsbücher einscannt oder abtippt und für die Netzbibliothek digitalisiert, verdient einen fairen Lohn. Genau wie Programmierer und Entwickler von freier Software. Wenn Trotzki heute im Exil wäre, würde er von Mexiko aus nonstop über alle Kanäle kommunizieren. Trotzki wäre ein durch crowdsourcing finanzierter Troll. Aber Trolling gegen eine Regierung ist schwieriger als man es sich vorstellt. Derzeit setzen viele Länder Facebook-Polizisten ein, die einzelnen Personen auf ihren Internetprofilen Drohungen hinterlassen, das ist für Bolivien, Venezuela, Iran so, in Spanien, Griechenland, Italien wird zur Zeit über ähnliche Maßnahmen diskutiert.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale wird von hyperlinken Trollen aufgebaut.

Hyperlinke Trolle handeln stets im Sinne der Gruppe, für die sie kämpfen und leisten Lobbyarbeit für hyperlinkes Gedankengut. Sie schreiben obsessiv über ein Thema, überall, wo sie können, auch wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Sie sind provokant. Worte sind ihre Waffen. Sie verstecken ihr Gesicht nicht in einer Sockenpuppe, sondern stehen öffentlich zu ihrer Meinung. Sie reagieren impulsiv, sind kommerziell-unbewusst, nicht am Markt, sondern an Menschen orientiert. Daher ist eines der Grundgebote der hyperlinken Trolle das Teilen: Das ist die bessere Nächstenliebe! So bauen sich diese Einzeltäter textuelle Kooperativen auf, welche unabhängig und selbstständig Inhalte weitertrollen. Solidarität unter Trolls ist ein Muss, Gruppen-Trolling ist die revolutionäre Taktik.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann sich nur durch Gruppen-Trolling im Netz verbreiten. Deutschland, vergiss deinen Impfpass. Relajate y disfruta.

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Herbst in Peking http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/herbst-in-peking/ http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/herbst-in-peking/#comments Mon, 25 Jun 2012 09:45:14 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6441 Ich habe immer schon fernab von der Zivilisation gelebt. In einem abgeschiedenen Kaff mitten in einem abgelegenen Land, in dem die Buchläden voller Schulbedarf, Modezeitschriften und vereinzelter Bestseller waren. Einmal kam – vermutlich aus Versehen – das Buch „Herbst in Peking“ von Boris Vian in eine dieser Buchhandlungen. Mein Vater kaufte es, ohne zu zögern. Er trug es nach Hause, als wäre es eine Rarität. Tatsächlich war es sogar in zweifacher Hinsicht eine Rarität: Zum einen handelte es sich bei diesem Roman um ein derart außergewöhnliches Werk, das ein prüder und geldgieriger Verleger in dieser Zeit niemals herausgegeben hätte, zum anderen ist es für mich unvorstellbar, welches Ausmaß an Verwirrung dieses Buch in jene Auslagen voller Bleistift-Spitzer, Farbstifte, Hefte, Stephen Kings und Hello Kittys bringen konnte. Ich war fasziniert von diesen Seiten und reiste gemeinsam mit dem Hauptdarsteller in einem absurden Autobus in jenen nicht existierenden Herbst, ohne Peking.

In den Buchläden am Ende des Universums gab es sonst nur Bücher, die kurz davor waren zu Staub zu zerfallen. Uralte Reliquien, die sich mehr und mehr mit Termiten füllten. Es waren durchaus gute Bücher, das schon, aber keines davon war jünger als die Buchhandlung selbst. Es gab nichts Aktuelles, als ob die Literatur eine Sache aus einer anderen Zeit wäre.

Jetzt lebe ich an einem anderen Ende, in einem Land, in dem eine andere Sprache gesprochen wird als die meine. Überall gibt es Bücher, zu denen ich keinen Zugang hatte, bis ich dieses starre Alphabet beherrschte. Und selbst jetzt, wo ich es kann, lese ich immer noch lieber Bücher in einer Sprache mit lateinischen Buchstaben. Selbst heute habe ich immer noch keinen Zugang zu diesen Büchern, denn ich „beherrsche“ noch nicht die Wirtschaft. Ich lebe an einem wirtschaftlichen Ende, an dem ich all die Büchern, die ich gerne lese würde, nicht kaufen kann.

Aus all diesen Gründen habe ich nur selten Bücher gekauft. Meine unsichtbare Bibliothek setzt sich aus Leihgaben und Diebesgut zusammen. Früher war sie voller Fotokopien. Heute sind es PDFs, legale und illegale, die im Cyberspace kursieren. Oder Bücher, die ich mir in dieser hervorragenden, öffentlichen Bibliothek ausleihe, bei der ich eingeschrieben und von der ich abhängig bin. An mir gewinnen die Verlage und die Schriftsteller lediglich eine Leserin. Die sich durch Begeisterung, Leidenschaft, Bewunderung erkenntlich zeigt, aber nicht finanziell, niemand gegenüber. Ein Leser mehr – wen interessiert das? So wie es um die Dinge steht, ist es nicht wichtig, Leser zu gewinnen, das einzige, was interessiert, sind die Käufer. Vor ein paar Monaten wurde in der spanischsprachigen Presse von einem Skandal berichtet: Eine ziemlich bekannte spanische Schriftstellerin beschwerte sich öffentlich darüber, das ihr Buch wesentlich häufiger illegal aus dem Netz „heruntergeladen“ wurde, als es verkauft wurde. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Ich schließe mich denjenigen an, die darauf hinweisen, wie gering jene Autorin doch die große Anzahl an Lesern wertschätzte, die so ihr Werk lesen konnten und es auf einem anderen Wege nicht getan hätten.

Denn dieser Weg gibt Menschen, die es aus den einen oder anderen Gründen sonst nicht getan hätten, die Möglichkeit, etwas zu lesen. Ich lobe und preise den Informationsfluss, den man von jedem Ende der Welt aus abrufen kann, sobald man sich nur mit einem Kabel ans Netz anschließt. Gäbe es diesen kulturellen Strom nicht, der mir Zugang zu all diesen gemeinnützigen, aber auch illegalen Seiten verschafft, würde ich wohl kaum lesen. Ich könnte mir nur ein, maximal zwei Bücher kaufen. Gäbe es nicht diesen literarischen „Robin-Hood“-Freund, wäre ich überhaupt nicht auf dem neuesten Stand. Gäbe es nicht diese Bibliothek oder jene andere, wäre ich weiterhin abgeschieden von der Welt. Aber es interessiert niemanden, dass ich mich der Welt nähere. Das stellt nämlich weder für die einen noch für die anderen irgendeine Form des Gewinns dar.

Und lasst uns gar nicht erst über Musik reden: Während ich das schreibe, höre ich eine Band namens Chinawoman, auf die ich niemals gekommen wäre, wenn sie nicht jemand auf seiner Facebook-Pinnwand geposted hätte und wenn ich sie nicht über irgendwelche Pfade des Internets weiterhin hören könnte.

Über genau solche Pfade reise ich nun zu diesem Herbst und zu diesem Peking, das eine Rarität war, in jenem abgeschiedenen Kaff und in jenem abgelegenen Land, in dem ich einen Großteil meines Lebens verbracht habe.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ich http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ich/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ich/#comments Fri, 01 Jun 2012 07:04:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6434 Ein bolivianischer Freund fragte mich kürzlich: Warum willst du in dieses país-no país gehen, in dieses Land, das keins ist? Das ist seine Sicht auf Bolivien. Natürlich ist Bolivien ein Land, ebenso wie Deutschland, Kamerun oder Thailand, mit seinem eigenen Charakter. Doch bleibt die Frage: Was zieht mich dorthin? Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Die Geschichte begann vor langer Zeit, als mich mit 16 Jahren der Zufall an einen Ort namens Tarija im Süden des Landes verschlug, ein Weinanbaugebiet mit mildem Klima unweit der argentinischen Grenze. Hier verbrachte ich ein Jahr, das mir anfangs unendlich erschien. Ich schrieb Briefe an meine Familie und Freunde in Berlin, die ihr Ziel nach durchschnittlich sechs Wochen erreichten, wenn sie überhaupt ankamen. Meine Mutter rief mich wöchentlich an und zahlte horrende Telefonrechnungen. Die schnellste Art der Kommunikation war neben dem Telefon das Fax; eine Maschine, die beim Empfangen von Nachrichten schiefe Melodien erzeugte und im Minutentakt eine Zeile ausspuckte. Den kommunikativen Beschränkungen geschuldet, entfernte sich mein Zuhause auf der anderen Erdhalbkugel zunehmend, während mein Aufenthaltsort immer präsenter wurde. Als ich nach Europa zurückkehrte, um mein früheres Berliner Leben wieder aufzunehmen, verstand ich nicht, was mit mir los war. Es fühlte sich nicht an wie vorher. Ich stellte fest, dass irgendetwas von mir dort geblieben sein musste.

Ich ging es Jahre später suchen, als ich zurückkehrte, um einige Zeit in La Paz zu verbringen, der auf 4.000 Meter Höhe gelegenen Stadt in der Form eines Topfes, in der es immer gleichzeitig heiß und eisig ist. Ich begriff, dass diese Zeit vor ein paar Jahren keine verstreute Randnotiz gewesen war. Ich fand nicht, was ich suchte, aber stattdessen Neues, Unerwartetes, wie meinen tarijeñischen Freund. Es folgten Jahre des Kommens und Gehens, in denen ich mich, stets im Aufbruch begriffen, wie ein Vogel von Norden nach Süden bewegte. Seit meinem ersten Aufenthalt in Bolivien war die Technologie vorangeschritten. Über das Internet und Chatprogramme führten wir „Videokonferenzen“, konnten uns in 2D in unseren eigenen Umfeldern beobachten. Im Cyberspace schufen wir unsere eigene Welt, unsere Sprache, unsere Codes. Ich fragte mich, wie Paare vor fünfzig, hundert Jahren die Distanz überbrückt hatten. Was hatten sie in Notfällen unternommen und seien sie emotionaler Art?

Ich lebte gleichzeitig hier und dort und war nirgendwo angekommen. Mit der Zeit entwickelte ich eine Art geografische Bipolarität. Meine Freunde sagten, ich solle endlich realistisch werden und mein Leben in Berlin beginnen. Sie verstanden nicht, dass dies alles sehr real war. Und es war keine Frage des Auswählens. Doch obwohl die virtuellen Hilfsmittel eine Nahezu-Gegenwart schaffen, ist ein Chat nicht das Gleiche wie ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Während Vorstellungskraft und Ausdauer übernatürliche Kräfte entwickeln, zeichnet sich körperliche Nähe durch ihre Abwesenheit aus. Sex wird zu einem abstrakten Konzept. Liebe schrumpft zu Emoticons zusammen: <3 oder :*. Ich fragte mich, wie viel seit dem letzten Treffen vom „Wir“ geblieben und wie viel zu einer Idee geworden war.

Schließlich beschloss ich, nach Bolivien zu ziehen. Es fällt mir schwer, mein Bedürfnis zu erklären, immer wieder in jenes Land zurückzukehren, das meinem so fern und so fremd ist. Ob es am weiten und ruhigen Hochland liegt, die Nähe zum Himmel, die mich glücklich macht? Ist es, wie eine bolivianische Freundin beschrieb, die existenzielle Angst, die einen begleitet, etwa wenn man im Bus zwei Zentimeter vom Abgrund entlangfährt? Ist der Grund mein imaginärer Freund? Oder der verseuchte See, an den wir fahren, um Fischchen zu essen? Ist es das, was ich suche? Möglicherweise habe ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr einfach einen sprunghaften Puls, der mir keine Ruhe lässt. Ich kann weder eindeutig erklären, warum ich gehen will, noch was ich suche. Ich bin mir einzig ziemlich sicher, dass die Sehnsucht meine treue Begleiterin sein wird. Sollte ich keine Bleibe finden, weiß ich immerhin, dass der Cyberspace mich stets willkommen heißen wird.

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10 Punkte für ein neues Urheberrecht http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/10-punkte-fur-ein-neues-urheberrecht/ Mon, 21 May 2012 09:32:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6358 Aus aktuellem Anlass habe ich mich mal hingesetzt und ein paar Punkte für ein neues Urheberrecht entworfen, denn das derzeitige scheint nicht mehr so richtig zu funktionieren. Es ist kompliziert, und ich habe bestimmt einiges nicht bedacht, daher bitte ich um Ergänzungen.

1. Der Künstler, Journalist oder Musiker ist kein „Filter“ (Piratin Julia Schramm, bei Minute 2:29:31 im Podcast bei „Wir müssen reden“)? , sondern ein Mitteilungsmedium. Ihm/ihr gehört seine Mitteilung als geistiges Eigentum. Er ist der erste, der sie verkaufen und verbreiten darf. Sobald er sie aber verkauft oder verbreitet hat, gehört ihm seine Mitteilung im klassischen Sinn nicht mehr. Sein Name und die Originalquelle müssen jedoch bei jeder Weiterverbreitung genannt werden.

2. Wer die Mitteilung eines Künstlers privat kostenlos genießt, darf das. Das ist nicht illegal.

3. Wer mit Verbreitung der Mitteilung eines Künstlers Geld verdient oder verdienen will, muss den Künstler bei der Erstverbreitung ausreichend entlohnen. Bei Wiedernutzung (Klicks bei Youtube) wird an den Künstler ein Anteil gezahlt, der sich aus den Klickzahlen berechnet.

4. Wir brauchen einen echten Mindestlohn für Kunst-Verwertung! Nutzungsverträge, die weniger als den derzeitigen Mindestlohn (umsonst) einbringen, dürfen nur über die einfachen Nutzungsrechte abgeschlossen werden. D.h. ein Journalist verkauft seinen Artikel nicht mehr dem Verlag inklusive aller Rechte, sondern verkauft seinen Artikel für die einmalige Nutzung und kann seinen Artikel weiterverkaufen, -veröffentlichen, etwa auf seinem Blog. (War übrigens so bei LSD als wir noch Geld hatten).

5. Nutzungsverträge über die umfassenden Nutzungsrechte müssen ein faires Honorar enthalten.

6. Öffentlich-rechtliche Medien müssen eingekaufte Inhalte dauerhaft öffentlich im Netz zugänglich machen. Sie dürfen als nur noch so produzieren, dass sie die Rechte länger als für 7 oder vierzehn Tage haben, etwa rechtefreie Musik verwenden und damit eine Band bekannter machen, etwa Musik komponieren lassen und damit neue Jobs schaffen, teure Bilder nicht verwenden, sondern zeichnen lassen, also: kreativ die Inhalte herstellen, die dauerhaft nutzbar sein können, am besten auch mit Hilfe von „Urhebern“, die dafür einmalig und gut bezahlt werden.

7. Der Künstler selbst muss entscheiden, wie sein Werk verändert, geteilt, genutzt, kopiert werden darf. Nicht die Urheberrechtsverträge und Urheberrechtler. (Es ist derzeit etwa vollkommen unmöglich, das ist meine eigene Erfahrung, Standardverträge zu verändern, etwa nur das einfache Nutzungsrecht zu verkaufen, um das Recht an Texten zu behalten, die ja eh schnell entsorgt werden, wenn sie kein Riesenerfolg werden)

8. Die Verlinkung von Werken ist kein Verstoß gegen das Urheberrecht.

9. Nationales Urheberrecht ist gleich internationales Urheberrecht. Das Netz ist ein internationaler Markt.

10. Identische Kopien sind keine künstlerische Mitteilung.

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Randglossen zu einem Text aus dem Internet http://superdemokraticos.com/themen/deutschland-themen/randglossen-zu-einem-text-aus-dem-internet/ http://superdemokraticos.com/themen/deutschland-themen/randglossen-zu-einem-text-aus-dem-internet/#comments Sat, 12 May 2012 09:01:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6382 Vorsatz:

Im land, in dem ich meine kindheit und jugend verbrachte, galt von staats wegen nur der als künstler, der von anderen künstlern in einen künstlerverband aufgenommen wurde, je nach gattung die sparte. Die partei wachte mit argusaugen darüber, dass keiner einfach sich hineinverirrte. Verwirrte, also solche, die aus eigener vorstellug künstler sein wollten, wurden draußen gehalten, denn sie hätten ja die reinheit der versammlung gestört. Ihnen wurden jedoch arbeitsplätze außerhalb der kunst zugewiesen, im bergbau oder in der stahlindustrie, und wenn sie diese verließen, in staatlichen verwahranstalten. Alle hatten in diesem land so ihr auskommen. Freiheit, nun ja, freiheit war etwas, das als überwunden galt (bürgerliche) beziehungsweise sich in unterwerfung realisiert. Einsicht in die notwendigkeit, nannte man das. Und die kunst hatte dieser einsicht zu dienen. Dieses land jedoch ist geschichte.

Wir-sind-die-urheber

Der text, um den es hier geht, nimmt stellung zu einer sache, die seit wochen die gemüter erhitzt. Die wellen schlagen hoch, weil die piratenpartei verkündete, dass urheberrecht abschaffen zu wollen. Jetzt fassen sich alle, die sich für urheber halten zwischen die schenkel, wie weiland die männer angesichts der aufkommenden frauenbewegung. Denn die männer bekamen angst, sie würden kastriert, weil frauen rechte einforderten, die sie lange schon hatten.

Teilen heißt verlust. Daran musste ich denken, als jüngst Sven Regener ausfällig wurde, und sich von straßenmusikern distanzierte, die offensichtlich nicht durchs urheberrecht geschützt sind, das ihm zu bescheidenem wohlstand verhilft. Wie auch? Sind die straßenmusiker ja keine urheber und haben auch sonst kaum rechte, weil sie sich der überlieferung bedienen. Ganz im gegensatz zu Regener, den man ja als erfinder des pop, seiner rhythmik und seiner harmonien bezeichnen muss und als erfinder der melancholie.

Als solcher geht er mit einer großen schallplattenfirma, die letztlich nur das ziel verfolgt, dass sich niemand ungefragt an Regeners Erfindungen vergreift, einen vertrag ein. Die jugendlichen, die ja dafür bekannt sind, sich zugang zu aktueller musik zu verschaffen, ohne dafür zu bezahlen, sollen schon gar nichts einfach so können.

Einige dieser jugendlichen spielen sogar gitarre.

Der text, um den es hier geht, beginnt zunächst mit einer anmaßung:

Wir sind die Urheber!

Ausfrufungszeichen. Auch die Internetpräsenz lautet so: www.wir-sind-die-urheber.de. Man behauptet nicht, urheber dieses auf dieser seite veröffentlichten textes zu sein, sondern man nimmt gewissermaßen die urheberschaft schlechthin für sich in anspruch, man behauptet in etwa, der erste beweger zu sein, und leitet daraus das recht ab, sich jede weitere bewegung, auch die der anderen, bezahlen zu lassen. Und weil man die bewegungen selbst nicht kontrollieren kann, übergibt man dieses recht wiederum einer industrie, die das urgehobene scheinbar sicher ummantelt und auf den markt bringt.

Wer anderes denkt als die selbsternannten urheber, wäre nach ihrer logik gar keiner, sein werk ist kein werk und sein gedanke verlässt jeden schutzraum. Gut, es gibt gesetze, und in denen ist festgeschrieben, wer als urheber gilt und wer nicht. Aber diese gesetze entstammen einer zeit, in der an das internet noch gar nicht zu denken war, und auch die verfielfältigung erfolgte noch analog zumeist. Und sie entstammen einer sehr romantischen vorstellung des einsamen urhebenden genies, das alles aus sich selbst heraus schöpft. Worte wie gesellschaftlichkeit und diskurs sind ihm unbekannt. Allerdings bemerkte schon Novalis, dass alle kunst übersetzung sei, und dahinter wollte zumindest ich nicht zurück gehen.

Dass es hier nicht um das moralisches recht geht, sich urheber zu nennen, wird jedem klar sein. Urheber ist kein geschützter begriff. Es geht viel mehr um einen juridischen prozess der aneignung. Aus dem urheberrecht erwächst die verfügungsgewalt über ein werk, das wie auch immer früchte tragt. Doch hier liegt der hase im pfeffer. Denn veräußerbar ist einzig die hülle, der dieses werk aufgrdruckt einverleibt oder wie auch immer verbunden wurde. Also schon der Gedanke an das, was urheberschaft sei, drängt sich selbst in den hintergrund.

Gegen den Diebstahl geistigen Eigentums

Gegen diebstahl! oho! Da sind wir doch alle gegen, oder? Wir wollen nicht, dass der alten frau an der ecke ihre handtasche entrissen wird, selbst wenn ein manuskript drin steckt oder ein ölgemälde. Ok. Eigentum ist uns heilig, aber was ist geistiges eigentum? Gedanken? Worte? Wortgruppen?

Mit Sorge und Unverständnis verfolgen wir als Autoren und Künstler die öffentlichen Angriffe gegen das Urheberrecht. Das Urheberrecht ist eine historische Errungenschaft bürgerlicher Freiheit gegen feudale Abhängigkeit, und es garantiert die materielle Basis für individuelles geistiges Schaffen.

Und hier wird es ganz krud. Das urheberrecht regelt bislang die übergabe einer bürgerlichen freiheit gegen entgelt. Es garantiert zunächst ersteinmal gar nix. Zumal das hervorbringen eines werkes noch nix über dessen verkaufbarkeit aussagt. Van Gogh hat zu lebzeiten kein einziges bild verkauft. Gerhard Richter bezeichnet die preise, die seine bilder erzielen als widersinnig. Es gibt autoren, die romane nur aus der überlieferung samplen und damit millionen verdienen. Es gibt autoren, die spracharbeit leisten, dass diese überlieferung nicht versiegt, und diese autoren verdienen nix, weil ihre arbeit nicht in dem maße auf ein aufgeschlossenes publikum stößt. Diese experimentatoren auf eine ungewisse zukunft zu vertrösten, halte ich für zynisch. Auch sie wollen jetzt leben, auch sie haben bedürfnisse.

Der in diesem Zusammenhang behauptete Interessengegensatz zwischen Urhebern und „Verwertern“ entwirft ein abwegiges Bild unserer Arbeitsrealität. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft geben Künstler die Vermarktung ihrer Werke in die Hände von Verlagen, Galerien, Produzenten oder Verwertungsgesellschaften, wenn diese ihre Interessen bestmöglich vertreten und verteidigen.

Wenn diese ihre interessen vertreten. Verlage sind nicht die interessensvertreter der autoren, sie nehmen autoreninteressen nur dann war, wenn sie dem verlagsinteresse korrespondieren. Im normvertrag steht, dass die einkünfte an zweitverwertung (filmrechte etc.) zu gleichen teilen zwischen urheber und verlag aufgeteilt werden. Warum? Was hat ein verlag geleistet, um daran beteiligt werden zu müssen, und warum genau zur hälfte. Der normvertrag in deutschland entspringt einer auseinandersetzung zwischen urhebern und verwertern und nicht der bürgerlichen freiheit, die zugestandenermaßen eine basis dafür ist, diese auseinandersetzung zu führen. Das urheberrecht ist also ausdruck eines interessensausgleich, und der normvertrag eine gewerkschaftliche errungenschaft.

Die neuen Realitäten der Digitalisierung und des Internets sind kein Grund, den profanen Diebstahl geistigen Eigentums zu rechtfertigen oder gar seine Legalisierung zu fordern. Im Gegenteil: Es gilt, den Schutz des Urheberrechts zu stärken und den heutigen Bedingungen des schnellen und massenhaften Zugangs zu den Produkten geistiger Arbeit anzupassen.

Es geht vielmehr darum, das recht, den neuen bedingungen anzupassen, und nicht darum, die menschen, zumeist jugendliche, die sich der neuen technik bedienen, zu kriminalisieren, zumal sie zum glück immer wege finden werden, gesetze und kopierschutz zu umgehen.

Das Urheberrecht ermöglicht, dass wir Künstler und Autoren von unserer Arbeit leben können und schützt uns alle, auch vor global agierenden Internetkonzernen, deren Geschäftsmodell die Entrechtung von Künstlern und Autoren in Kauf nimmt. Die alltägliche Präsenz und der Nutzen des Internets in unserem Leben kann keinen Diebstahl rechtfertigen und ist keine Entschuldigung für Gier oder Geiz.

Gier und geiz streich ich mal lieber, weil sie mir nicht als praktikable begriffe in dieser auseinandersetzung erscheinen. Es gibt in meinem bekanntenkreis sehr viele künstler, die nicht von ihrer arbeit leben können. Diesen misslichen umstand teilen sie mit friseurinnen und andren prekär beschäftigten. Einen ausweg daraus könnte ein existenzsicherndes grundeinkömmen* sein. Das würde den bastlern und tüftlern ein leben ermöglichen und vor diesem hintergrund könnte man dann auch das urheberrecht erneut diskutieren.

*Marx‘ Thesen über Feuerbach: „11. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ Der spruch hing im osten in jedem 2. schulhaus direkt neben lenins: lernen, lernen und nochmals lernen!

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Warum ich nicht auf Facebook bin http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/warum-ich-nicht-auf-facebook-bin/ http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/warum-ich-nicht-auf-facebook-bin/#comments Thu, 01 Dec 2011 17:09:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6049 Ich habe kein Facebook-Profil. Und das liegt nicht daran, dass ich mich von Anfang an dagegen gesträubt hätte oder dass ich ein militanter Verfechter der Diskretion wäre. Ganz im Gegenteil: Ich liebe Klatsch! Es ist nur so, dass mich eine Freundin, María Rivera, Poetin und aktive Polemikerin in den sozialen Netzwerken, jeden Nachmittag anruft, um mir die Neuigkeiten des Tages auf Facebook zu erzählen: die Diskussionen, die Streitereien und die täglichen Indiskretionen aller gemeinsamen Bekannten: alles intrigante Schriftsteller wie wir selbst. Man kann also sagen, dass ich, obwohl ich kein Facebook-Profil habe, dennoch Zugang zu Facebook habe, wenn auch indirekt und durch eher rudimentäre Technik.

Apropos rudimentäre Technik: Einem anderen Freund von mir, dem Poeten Daniel Saldaña París, kam die wahnsinnig witzige Idee, etwas zu initiieren, dem er den Namen „Faxbook“ verlieh: eine Art freiwillig-reaktionäre und mittlerweile gescheiterte Imitation von Facebook. Es hätte sich dabei um Zusammenkünfte gehandelt, bei denen eine Gruppe von Freunden statt Computern Faxgeräte benutzt, um sich gegenseitig unsere Neuigkeiten, Klatsch und Kommentare mitzuteilen. Eine Art anti-ökologische Performance, bei der in jeder Sitzung eine Menge Papier verschwendet wird, die etwa ein paar Bäumen entspricht. Ich weiß nicht, warum ich kein Facebook-Profil habe, aber ich würde keinen Moment zögern, mich bei Faxbook einzuschreiben, wenn es das denn gäbe. Ich weiß nicht, möglicherweise habe ich kein Facebook-Profil, weil ich zu lange gezögert habe, und da jetzt wirklich jeder eines hat, finde ich es interessanter, keines zu haben. Oder vielleicht, weil es für mich einfach eine Horrorvorstellung ist, den Menschen den Kontakt zu mir zu ermöglichen, die ich im Leben zurückgelassen habe. Ich habe absolut kein Interesse daran, von meinen Ex-Kindergartenfreunden gefunden werden zu können. Ich will gar nicht wissen, ob sie verheiratet sind, Kinder haben, ob sie ein Perücken-Geschäft eröffnet haben oder eine Zahnarztpraxis. Ich will auch nicht ihre Bilder aus dem Türkei-Urlaub sehen: diese verkürzten und glücklichen Versionen des Lebens, die für das gesamte Publikum geeignet sind. Natürlich kann man auch eine Freundschaftsanfrage ablehnen, aber ich kenne mich, und mir fällt es schwer Nein zu sagen. Ich habe kein Facebook-Profil und das liegt mitnichten daran, dass ich es für das absolut beste Spionage-Netzwerk schlechthin halte, in dem jedes Mitglied freiwillig zum Informanten und Denunziant seiner selbst wird, es liegt an der Unentschlossenheit. Denn ich muss auch sagen, dass ich mich manchmal so fühle, als würde ich etwas verpassen, vor allem, wenn meine Freundin mir eine Diskussion vorliest, an der ich gerne teilgenommen hätte. Es ist schon komisch: Einige mexikanische Schriftsteller, egal wie politisch und herzlich sie als Menschen sind, zeigen auf Facebook ihre Seite als hitzige Polemiker. Sie sagen Dinge, die sie beispielsweise bei einer öffentlichen Diskussion vor Publikum nicht sagen würden. Ich nehme an, dass liegt an dieser gewissen Atmosphäre der Intimität: Ansichten über Politik und Literatur wechseln sich mit Fotos von der Familie und von Haustieren ab. Außerdem steckt ja die Idee dahinter, dass man sich „unter Freunden“ unterhält. Obwohl man viele davon nicht kennt und den Verdacht hegen kann, dass es sich bei denen um Feinde handelt, getarnt mit falschen Identitäten. Tatsächlich ist es nun so, dass Facebook zu einem Forum für Debatten wurde, zumindest unter den mexikanischen Dichtern, in dem Dinge gesagt werden, die sonst nirgends gesagt werden würden. Natürlich passiert es nicht selten, dass die intellektuelle Debatte in Richtung persönlicher Diskreditierungen schlingert, wahrscheinlich begünstigt durch genau diese Atmosphäre der Intimität. Und so wechseln sich Argumente mit Links zu unerträglichen Liedern mit Beleidigungen und Geburtstags Glückwünschen ab. Das wurde mir jedenfalls so erzählt. Eine Mischung, die ich faszinierend finde. Manchmal. Denn mir wurde auch berichtet, dass ein gewisser verabscheuenswerter Dichterling mich vor einigen Wochen auf seiner Pinnwand beleidigt hat. Tja, und weil ich eben nicht auf Facebook bin, konnte ich mich nicht verteidigen… Nun gut, warum bin ich nicht auf Facebook?

Ich weiß es nicht. Ich nehme an, dass es früher oder später damit endet, dass ich auch einen Account eröffne. Ja, ich sehe mich schon gemeinsam mit hundert anderen Personen „Gefällt mir“ klicken auf ein Bild vom neuen Haus von der Cousine der Tante vom Lehrer des Töpferkurses, bei dem ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr war.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Myspacefreunde http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/myspacefreunde/ http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/myspacefreunde/#comments Sun, 27 Nov 2011 07:09:08 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5620

(c) Ulla Loge

Werden meine Myspace-Freunde weinen, wenn mein Tamagotchi stirbt?

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Ein Klick http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/ein-klick/ Fri, 25 Nov 2011 06:58:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5884 Es ist 20:30. Ich setze mich an meinen Computer, öffne den Texteditor und zünde mir eine Zigarette an, um über die Beschaffenheiten der sozialen Netzwerke, ihre Zweckmäßigkeit und das demokratisierende Potential im Internet nachzudenken. Mich erschreckt der Gedanke, mich ebenfalls über ein Thema auszulassen, das laut meiner Überzeugung schon bis zum Überdruss wiederholt wurde. Davor klicke ich das Spotify Icon an, mit der Intention einen Soundtrack zu finden, der meine Gedanken zum Fließen bringt. Es überfordert mich, ein Musikstück auszuwählen; das verfügbare Angebot ist unendlich. Ein Geistesblitz erleuchtet in mir die Erinnerung an Paolo Conte, ein Hybrid aus Tom Waits und Ennio Morricone. Es ist verfügbar. Sparring Partner ist das Lied, das ich suche. Für den Anfang gefällt es mir; ich tauche in eine süßliche Melancholie ein, die Reflexionen über dieses und jenes begünstigt. Uff! Es steht auf der Liste, ist aber nicht verfügbar. So ein Scheiß! Ich bestehe darauf und gebe in das Suchfeld den Namen des Liedes ein, nicht den Sänger. Ich finde es, aber der Interpret ist nicht Conte. Es handelt sich um eine Version von Carla & The Real Lowdown. Ich drücke Play. Kein Zweifel: Es ist dasselbe Lied, aber auf Englisch. Ich lasse das Lied laufen, gehe auf den Browser und google den Namen der Band. Es stellt sich heraus, dass Carlas voller Name Carla Sanabra ist. Sie singt auf Englisch, aber ihr Äußeres und ihr Nachname weisen offensichtlich auf ihre spanische Abstammung hin, was meine Neugierde weckt. Ich brauche mehr Daten. Ich öffne ein Tab und tippe Face… ein, die Pinnwand meines Facebook Accounts öffnet sich. In dem ersten Post steht „Venezuela: man muss die Pressefreiheit vor Chávez und den Medien selbst beschützen“. Es handelt sich hierbei um einen Artikel, den der venezolanische Journalist Boris Muñoz für sein argentinisches Blog „Puercoespin“ (Stachelschwein) schreibt. Ich schätze seine Arbeit, klicke ohne weiter darüber nachzudenken „Gefällt mir“und öffne den Link. Ich prüfe den Titel und die Zusammenfassung. Ich scrolle schnell nach unten. Meine Augen überfliegen ziellos den Bildschirm, ohne einen einzigen Satz einzufangen. Ich gebe auf und lasse den Tab noch geöffnet, für später. Ich gehe zurück und tippe „Carla Sanabra“ ins Suchfeld. Facebook bietet verschiedene Optionen. Eine davon ist die Seite der Künstlerin, mit einer einzigen verfügbaren Option: „Gefällt mir“. Wo ich schon mal da bin, klicke ich darauf. Die Seite informiert mich über das, was ich intuitiv schon wusste: Carla ist katalanischer Abstammung. Aus der Ferne höre ich, wie meine Waschmaschine durchdreht und zu zittern beginnt, während sie schleudert. Ich frage mich immer noch, wer Carla Sanabra wohl ist und gehe auf Twitter. Die arme Carla hat insgesamt nur 68 Followers. Ich entschließe mich, ihr auch zu folgen. Bevor man die ersten 100 erreicht hat, ist jede neue Person eine heilige Liebkosung für unser digitales Ego. Ich schwöre mir, ihr nächsten Freitag ein #FF zu schenken.

Hier bekomme ich noch andere Daten, ihre Internetseite, die ich in einem anderen Tab öffne. Ihr neues Album wird beworben, das ab Januar des kommenden Jahres auf iTunes verfügbar sein wird. Die Seite bietet dem Benutzer auch die Möglichkeit dieses „vorzubestellen“. Klick. Ich mache ein allgemeines Panning über das Interface des Apple Stores und entdecke, dass in Verbindung mit der Diskografie von Sanabra auch der Soundtrack von „Der Kaufmann von Venedig“ zu haben ist. Da ich den Film vor einigen Tagen gesehen habe und mich Shakespeares Talent als Drehbuchautor überraschte (unerfüllte Liebe, schmerzvoller Verrat, Habsucht, bedingungslose Freundschaft und unerwartetes Ende), kehre ich zurück zum Browser, klick, öffne einen neuen Tab und gehe zu Wikipedia.

Ich tippe „Der Kaufmann von Venedig“ ein. Ich weiß nicht genau, nach was ich suche, aber mich überkommt die Gewissheit einer kurz bevorstehenden Entdeckung. Der Umfang des Artikels enttäuscht mich. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht vor ihn komplett zu lesen, aber ich hätte mich an dem Versprechen der reichhaltigen Information erfreut. Ich gebe mich nicht zufrieden und mache noch ein Klick auf dem Namen Michael Radford, dem Regisseur des Filmes. Ich überfliege seine Filmographie und die Titel rauben meine Motivation. Alle, ohne Ausnahme, offenbaren eine grauenvolle Kitschigkeit: „Die letzten Tage in Kenya“, „Ein brillanter Plan“ (dt. Flawless), „Another Time, another Place“. Es kommt mir so vor, als ob die Filmtitel von der Nichte des Kinobesitzers übersetzt wurden, der die Rechte für die Filme erworben hat. Ich lenke mich wieder ab und meine Augen schweifen auf einen Tab im Browser, der schon seit vielen Stunden geöffnet ist. Es ist ein Artikel in „Ñ“, dem Beiheft für Literatur und Kunst der argentinischen Tageszeitung Clarín. Ich klicke darauf und gehe ihn durch. Er trägt den Titel „Cantar con la boca llena“ (Mit vollem Mund singen). Ich lese die Zusammenfassung. Ich muss ihn ganz durchlesen und ihn auf meiner Pinnwand posten. In ihm wird ein Buch von Puntocero (der Verlag des Autors, Anm. d. Übersetzerin) erwähnt und dafür sind die Netzwerke ja definitiv da, oder etwa nicht?

Meine Priorität ist es jetzt aber herauszufinden, ob der Film von Pacino das Werk von Shakespeare originalgetreu umsetzt. Ich bin immer noch hungrig auf mehr Information und verfolge eine weitere Erleuchtung: Vielleicht kann ich ja auf Amazon eine digitale Version des „Kaufmanns“ bekommen, dann könnte ich es heute noch lesen. Los geht’s. Ich öffne einen weiteren Tab und suche nach dem Stück. Wahnsinn, da ist es und es kostet nur einen Euro! Ein Klick. Großartig. Ich durchsuche den Kindle mit dem strukturellen Misstrauen eines Menschen, der im 20. Jahrhundert gelebt hat – vor dem Internet, vor all dem. Tatsächlich, hier ist der Text. Er ist nicht allzu lang und ich freue mich darauf, ihn lesen zu können, bevor ich schlafen gehe. Ich schaue auf die Uhr in der rechten oberen Ecke meines Computers. 1:15 morgens, steht da. Ich bin perplex. Ich schaue auf die Uhr in der Küche. 1:16. Jetzt ist schon fast Morgendämmerung, und ich habe noch nicht einmal angefangen zu schreiben. Ich überprüfe ein letztes Mal die Tabs auf meinem Browser. Es sind mehr als 12. Ich verspüre eine starke Erschöpfung im Nackenbereich. Ich mache den Computer aus. Klick.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Am fliehenden Rand der Flucht http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/am-fliehenden-rand-der-flucht/ Mon, 21 Nov 2011 07:34:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5838 Das Netz lauert. Es registriert jede Bewegung. So wie im Frost jede Bewegung durch Kontakt mit der kalten Luft schmerzt, macht auch das Internet jede Bewegung kristallin, sichtbar, vereinzelt, erstarrt. Bögen, die mich früher trugen, muss ich gegen das Internet durchhalten, als trüge ich mich selbst als wasserempfindliches Hologramm über meinem Kopf, während ich durch einen reißenden Strom wate. Ich lebe jedoch immer noch nach dem Prinzip, man muss sich in den Strom stürzen, nicht zögern.

Ich hätte nie gedacht, dass technisch zu machen wäre, dass überall Strom ist.[1]

Mein freies Leben setzt sich aus Zerstreutheit zusammen. Bei jeder Blockade in einer Aufgabe gibt es andere, die leichter gelöst werden können. So postmodern wie meine eigenen Zellen funktioniere ich. Kein fixes Fließband ist meine Arbeit, sondern ein Raum mit osmotisch fließenden Grenzen, in denen die RNA, Proteine etc. (Arbeitsanweisungen und Kopien) herumschweben und ich das Nächstbeste greife, was mich aufgrund seiner Natur und meiner Bereitschaft anzieht. Mein Gehirn funktioniert so, meine Nahrungsaufnahme, meine Freundschaften.

Es zieht mich hin zu Leuten, die im Internet Genuss finden und Lebensart haben. In der Stadt, auf Feldwegen, auf Gartenparties, in Diskos, immer bin ich auf der Flucht. Da entsteht keine Lebensart. Immer bin ich auf Besuch. Dankbar, wenn man mich mag. Dankbar auch für Struktur, Zwänge – denen ich ja allzuleicht entkomme – Rhythmen. Wenn es kein Internet gibt, kann ich einen Haufen Arbeiten jetzt nicht erledigen, das macht die Orientierung leichter. Wenn es draußen sehr unwirtlich ist, stärkt es meinen Entschluss, bei einer Sache zu bleiben.

Das Internet kann man kennen, man kann es bauen, es entspricht Strukturen des Denkens. Es kann ein Lächeln sein, wenn man seine Musik versteht. Es ist doch wie das Werk eines Komponisten. Man muss es lesen können, etwas heraushören. Die Partitur an sich ist unsinnlich. Was für eine riesige Wolke an Kompetenz es doch jetzt gibt! Und die Systeme sind immer noch komplexer, das Internet ist uns in allen Richtungen immer voraus, wie dem Grottenolm der Boden, dem Wal das Meer. Wir sind darin kompetent, aber an ein Ende kommen wir nie.

Freedom is wasted on the free, singt Neil Hannon (Divine Comedy).

Ich gehöre nicht ins Internet. Auch nicht in eine Familie. Auch nicht an eine Uni. Doch zieht es mich dort hin. Ich will nicht mehr Resultate produzieren! Ich wuerde gerne in einen Arbeitsprozess integriert werden. Einen, den nicht ich selber alleine ausgedacht habe. Heißt das nicht schlicht, ich kann mit der Freiheit meiner freien Arbeit nicht umgehen? Ich meine, es hat auch eine andere Komponente. Es braucht die Fiktion von Resultaten, von Achievement, einen naiven Glauben ans Fertig-Werden und eine ungeheuer robuste Perfektionstheorie, um als freier Dienstleister nicht verrückt zu werden. Oder man schafft sich den Arbeitsplatz selber, indem man sich mit Kollegen, die auch so frei umherschwirren, befreundet. Dass sie auch Konkurrenten sind, wäre im Buero genauso der Fall, das ist nicht das Problem. Zweideutige Beziehungen sind der Normalfall. Und dann baue man sich nach und nach eine gemeinsame Orientierung, erarbeite sich, ohne isolationsbedingt verrückt zu werden, eine vernünftige Einstellung zur eigenen Arbeit und deren Beziehung zu den so unterschiedlichen Kontaktpersonen. Hierin könnte die Freiheit wirklich der Boden für das werden, was man an Paradies mit Menschenmitteln bauen kann. Die Isolation ist in der Freiheit eigentlich leicht zu lindern.

Das Problem an der Freiheit ist der Wunsch. Der Wunsch ist ja an sich nie frei. Er kennt die verzwicktesten Winkel der Seele, wo er seine Wurzeln einschlägt, wenn alles schon die reinste Skaterhalle der Wollust geworden ist. Um den Wunsch zu erkennen, muss man die eigenen Unfreiheiten erkennen. Fehlt äußerliche Unfreiheit, gegen die sich der Wunsch sonst sammelt, ist er schwer aufzufinden und funkt ungreifbar herum. Die Möglichkeit, im Internet immer woanders hinzugehen, wirkt wie ein Aufheben des Leidens. Man leidet höchstens, weil man ungeschickt ist oder Schnupfen hat oder Empathie. Wer seine Wünsche kennt und ihnen vertraut, handelt in der Welt wie im Internet meist geschickt, wie auch der, der ein kräftiges Programm hat, dem er folgt. Nur wer das Leiden meidet, kommt in die merkwürdige Situation des Leidensentzuges, das auch ein Freudenentzug ist. Auf ein ewiges Kind wie mich, das will, was es sieht, und vergisst, was es nicht sieht, wirkt das Internet so fatal schützend wie ein Laufkäfig: Man kann fast überall hin, ist aber nicht richtig dort. Und das, was einen wirklich interessiert, ist – das weiß ich genau – woanders.


[1] Ist auch nicht.

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Die Kinder des Netzes http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/#comments Thu, 17 Nov 2011 08:01:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5828

Die Wege des Lebens sind nicht diejenigen, die ich erwartet hatte, sie sind nicht so wie ich es gewollt hatte…
Vallenato

Auf der 73. Straße in Bogotá fährt ein Bus nach San Blas und nach Germania. Als ich diesen sah, musste ich einfach lachen, denn ich glaube, ich hatte, ohne es zu wissen, vor vielen Jahren genau diesen Bus genommen. In einer anderen Stadt, mit einem Ex-Freund, der Blas hieß und mit dem ich in Potsdam, Deutschland, landete. Im Juli 2012 gedenke ich den 15. Jahrestag dieser ersten Reise. Seitdem überquerte ich viele Male den Atlantik.

Praktisch meine gesamte Familie lebt immer noch in den Anden und ihren Ausläufern, verteilt zwischen der Hauptstadt meines Landes, La Paz, und Tarija, im südlichen Tal, an der Grenze zu Argentinien, aus dem wir eigentlich alle stammen. Dort liegt die Wiege der Galarzas, der Ort, den mein ganzer Clan in sentimentaler Imagination in sich trägt, obwohl wir möglicherweise niemals dort gelebt haben. Das ist es, was beispielsweise meinen beiden Neffen passierte, den beiden Kinder, die fröhlich in London aufwachsen. Die beiden kleinen englischen Kids, die ich so sehr liebe.

Ich kann sie mir nicht vorstellen, die Zeit, in der der Kontakt zueinander auf dem Rücken den Maultiere aufrechterhalten wurde, anhand von Briefen, die Jahrhunderte brauchten, um anzukommen, wenn sie denn eines Tages ankamen. Ich weiß von Freunden, dass sogar Anfang der 1980er noch nicht einmal das Telefon ein sicherer Weg war, um den Kontakt mit der Familie zu halten. Die Telekommunikation war mangelhaft, im Hintergrund hörte man die Geräusche der Welt und die Stimmen derer, die man tatsächlich hören wollte. Sie mussten sich die Seele aus dem Leibe schreien, um sich in diesem Chor der Störgeräusche, diesem ununterbrochenen Lärm, Gehör zu verschaffen.

Ich dagegen hatte das unglaubliche Glück in der Offenheit der Welt des Internets aufzuwachsen und mein Ausländerdasein wird erträglich, weil ich mit meiner Mutter bei einem Konferenzgespräch Kaffee trinken kann. Ich kann sie sehen und hören, mit ihr eine Zigarette rauchen, mehrmals die Woche. Es ist erträglich, weil ich sehen kann, wie meine Neffen aufwachsen, und weil ich mit meiner Schwester mit einem Glas Wein zu Abend essen kann, immer, wenn uns danach ist. Ich kann sie zwar nicht anfassen, bin aber dennoch ein Teil ihres Lebens. Ich bin der Kopf auf dem Computer, der versucht sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen. Und die Kleine, mein Augenstern, erkennt in dem typischen Windowsgeräusch, wenn der Rechner hochfährt, ihre Tante oder ihre Oma wieder, und sie hat überhaupt keine Hemmungen diesem flachen Bildschirm herzliche Beweise ihrer Liebe zu erbringen.

In diesem Monat war unser Thema Neue Welt im Netz: Liebe, Arbeit, Freiheit, und ich denke, es sind die Ausländer in aller Welt, egal, woher sie stammen, die am meisten dazu zu sagen haben. Ich werde niemals den überraschten Gesichtsausdruck meines Mitbewohners vergessen, als er eines Nachmittags, vor ein paar Monaten, meine Mutter begrüßen musste. Er, der daran gewöhnt ist, dass seine Eltern nicht jederzeit, wann immer sie wollen, zu ihm nach Hause kommen können, weil sie in Bielefeld wohnen und weil sie nicht mit den neuen Medien vertraut sind, sprang vom Stuhl in der Küche auf, um seinen Schlafanzug zu verstecken. Er, der nicht daran gewöhnt ist, dass der Computer so ein essentieller Teil seines sozialen Lebens ist, verstand letztendlich woher meine Unabhängigkeit kommt. Denn ich muss niemanden in der Realität sehen, ich lebe im ständigen Kontakt mit meiner Familie, meinen Freunden und Arbeitskollegen, wo auch immer sie sein mögen.

Ich bin nicht von einem physischen Raum konditioniert, die meiste Zeit über nicht einmal von einer Sprache. Ich fließe zwischen der digitalen und der analogen Realität hin und her, zwischen dem, was in Bolivien passiert, und dem, was in Deutschland los ist, und auf meine Art und Weise bin ich ein aktives Mitglied beider Gesellschaften. Und genau wie ich sind das auch drei Millionen Bolivianer, die in der ganzen Welt verteilt leben. Ein Viertel der Bürger meines Landes lebt zwischen Buenos Aires, Virginia und Madrid. Die Überweisungen, die sie schicken, sind die drittgrößte Einnahmequelle meines Landes. Unsere Ausländer und ihre bescheidene Lebensweise sind effizienter für die Wirtschaft als die Entwicklungshilfe, wesentlich effizienter. Und unsere Kinder konstruieren ihre neuen Identitäten. Emotionale Zugehörigkeiten, die wir möglicherweise noch nicht in ihren gesamten Dimension wahrzunehmen fähig sind.

Ich kann mir vorstellen, dass es überall an den Universitäten Pflicht werden wird, jeweilige soziologische Studien durchzuführen, um die Generation zu verstehen, die derzeit mit Breitband und mit doppeltem Herkunftsort heranwächst, ohne eine gemeinsame Bezugssprache, die wahren Bürger dieser Welt.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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