Literarischer Aktivismus – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Spanisch verstehen http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/spanisch-verstehen/ Wed, 21 Mar 2012 10:57:00 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6316 Unsere Übersetzerinnen der Agentur In-Kult ziehen ein Fazit: Übersetzungsschwierigkeiten, Herausforderungen, Ansprüche und Fehlerteufel beim Hin und Her zwischen den Sprachen Spanisch und Deutsch.

In einem fremden Land lernt man mit vielerlei Dingen zurechtzukommen, ohne sie nachvollziehen zu können. Man weiß wie das System funktioniert, oder wie es gerne funktionieren würde. Man lernt nette Gesten und nicht ganz so nette Gesten voneinander zu unterscheiden. Man lernt Ironie zu verstehen und Witze zu kapieren. Aber es werden immer genug Dinge übrigbleiben, die einfach komplett unbegreifbar sind. Wenn man als Übersetzerin arbeitet, setzt man sich damit auseinander, mit den verschiedensten Ausdrücken, Sätzen oder Wortspielen, die ungefähr zwei Seiten Erläuterung benötigen würden, um sie in all ihren Bedeutungen übersetzen zu können.

Natürlich, das ist die Essenz einer Sprache, und genau darum geht es: zu übersetzen, aber es gibt immer wieder Sätze, die wesentlich weiter vom Original entfernt sind als andere. Hier sind ein paar Beispiele, die wir bei der Übersetzung der LSD-Texte durchlebt haben:

„La felicidad“, man hört es in fast jedem spanischen Lied. Bekannt, aber unübersetzbar bleibt dieses Wort für uns, weil wir uns jedes Mal für ein Teil seiner Bedeutung entscheiden müssen. Glück, Glücksgefühl, Glücklich-Sein, aber als eigenständiges Substantiv. „La felicidad“ ist ein Lebenseinstellung, ein Lebensziel… das oberste Ziel des Lebens sogar, und Glück scheint im Deutschen eher zufällig und vorübergehend.

So wie wir es in Deutschland ganz oft vermeiden müssen, einige hier rassistisch konnotierte Ausdrücke zu benutzen, wegen der Vergangenheit, der Geschichte, werden in einigen Länder in Lateinamerika solche Wörter so leichtfertig benutzt, dass man Bauchschmerzen kriegt, und das ebenfalls wegen der jeweiligen Geschichte. Nach der Kolonialisierung und allen Unabhängigkeitskriegen werden einige Wörter wie „Schwarz“ oder „Rasse“ sogar in einem positiven Sinn benutzt. „Negrito“, „Schwärzchen“, kann ein liebevoller Kosename sein und ein „escritor de raza“ ist weniger „Rassen-Schriftsteller“ als ein Schriftsteller aus Berufung.

Soziale Zusammenhänge, die einige Witze, Ironie oder einfache Beschreibungen ausmachen, müssen für den Leser bekannt sein, um alles verstehen zu können. Die Frage, die sich uns immer stellte, war: Inwieweit kann man einen interessierten, gebildeten Leser voraussetzen, ohne einen zu elitären Anspruch an die Leserschaft zu haben? Vielleicht kennen die meiste deutsche Leser des Blogs Borges, aber kennen sie auch Cortázar oder Facundo Cabral? Wissen sie von der Herkunft Evo Morales‘ oder warum er immer diese Ponchos trägt? Wie weit müssen wir ausholen, um einen Piropo verständlich zu machen? Haben die argentinischen Leser von dem Guttenberg-Skandal gehört? Oder die kolumbianischen Leser schon etwas über Hartz VI gelesen? In einem Blog ist es ja möglich immer ein Link zu setzen, aber müssen wir dann die Leser so behandeln, als ob sie nicht selber recherchieren können?

Es ist immer schwierig, zwei Welten zusammenzubringen, zwei Sprachen, mit all ihren Dialekten, Soziolekten und Feinheiten, aber dass ist die Aufgabe, der wir uns als Übersetzerinnen gestellt haben. Die Dynamik eines Blogs, technische Schwierigkeiten, internetfreie Zone, der Zeitdruck einer Live-Berichterstattung wie von den beiden Buchmessen – Frankfurt und Guadalajara – und der Stil einiger Autoren waren die besten Freunde der niedlichen, kleinen Fehlerteufel. Dennoch haben wir uns über Ozeane hinweggesetzt, Diskurse über-setzt und mit „Los Superdemokraticos“ und dank dem Internet zeitgenössische Autoren aus Lateinamerika und Deutschland so zeitnah und interaktiv zusammengebracht, wie es vorher noch nie der Fall war.

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Jahresende, Explosionen http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/jahresende-explosionen/ Sat, 31 Dec 2011 09:52:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6297 Die Zeit zwischen den Jahren, wie man auf Deutsch sagt, also die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, sind ruhige Tage. Die Hauptstadt ist leer. Einzig Touristengruppen auf der Friedrichstraße am Checkpoint Charlie trauen sich in das nass-kalte Wetter. Die meisten Menschen ruhen sich  vom Festessen und Endjahresstress aus, schauen ein paar Blockbuster im TV, ordnen Geschenke in die Regale, telefonieren, schweigen, schlafen. Bis dann am letzten Tag des Jahres die Böller kommen. Sie kommen von vorne, von hinten, von oben, am 31. Dezember, wenn es dunkel wird, ist es schwierig, ihnen auszuweichen. Einmal habe ich ein paar Jungs, die gerade dabei waren, etwas zu zünden, zugerufen: „Hey, Jungs, ich hab einen Tinnitus, bitte wartet kurz mit eurem Knaller, bis ich vorbei bin.“ Und sie: „Klar, kein Problem, liebe Dame.“

Diese durch Explosionen immer wieder aufgeweckte Besinnlichkeit könnte ein Bild für den Literarischen Aktivismus sein, ein Verhalten, das wir uns von Superdemokraticos immer wieder auf unsere Fahnen geschrieben haben, dem wir das Monatsthema Dezember, aber auch eine Anthologie gewidmet haben, die für fünf Euro beim Verlag Milena Berlín zu kaufen ist, der sich gründete, nachdem die Verleger 2010 bei der Frankfurter Buchmesse einen Stand besetzten. Literarisch aktiv sein heißt nämlich, sich für die Literatur auch körperlich einzusetzen, nicht nur monetär. Für Autorinnen und Autoren, für Orte, an denen Literatur stattfindet. Heißt, Freiräume aufzusprengen, Aufmerksamkeit zu gewinnen, heißt, sich für etwas, jemanden zu entscheiden, heißt, eine Meinung zu haben, sich nach vorne zu stellen, mit Gesicht, mit Stimme, mit Mikro. Heißt, das Publikum zu schätzen, das mit den Füßen abstimmt. Mal sehen, wer heute kommt, ob jemand kommt…

Als ich 1999 nach Berlin umzog, mit Gedichten in meiner Tasche, lief ich von Lesung zu Lesung, um die anderen Dichter kennenzulernen. Die sollte es doch hier geben. Wo waren sie denn? Zunächst fand ich Veranstaltungsankündigungen in Zeitungen, dann fand ich Bekannte, Komplizen, Vertraute, Verrückte, war Mitglied verschiedener privater Lyrikkreise, die alle gemeinsam hatten, dass der Rotwein floss und die Luft aus Qualm waberte, dass die Egos aneinanderprallten, dass aber auch gemeinsame Publikationen erschienen. Ich organisierte mit anderen eine Lesebühne (visch&ferse), die sich jährlich auflöste und wieder neugründete, und einen mehrsprachigen Salon, den Hinterzimmer-Salon. Mal wurde ich eingeladen, mal lud ich ein. Mal stritt man sich, mal versöhnte man sich, manchmal las man sich nur noch auf Facebook. Da war etwas kaputt gegangen. Explosionen können gefährlich sein.

Aber zum Glück ist das Vertreten von Texten, die Text-PR, so emotional, so im- und explosiv. Neues entsteht, wenn Altes vergeht. In der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift Am Erker wurden gerade 13 Autorinnen und Autoren gefragt, ob zwischen Schriftstellern Freundschaft möglich sei. Allein diese Frage zeigt schon, wie vermint der Boden ist, auf dem sich Schreibende bewegen. Das Jahr ist zu Ende. Wir machen weiter. Weil wir daran glauben, dass nach dem Knall ein Nachhall bleibt. Wenn man zusammen an etwas glaubt und arbeitet.

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schluss mit dem wackelkontakt http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/schluss-mit-dem-wackelkontakt/ Wed, 28 Dec 2011 10:28:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6261 in einer stadt mit einer dichten dichte an dichterInnen dichten heisst dichten sprich schreiben sprich literatur(be)treiben aktiv sein schlechthin und das in einer stadt mit zweihundert nationalitäten davon hundertdreiundsechzig allein in meinem neukölln heisst ein zwischenspiel der vielen sprachen begegnen lesen übersetzen lesen und dann natürlich bierchen trinken das gehört dazu so könnte ichs mir vorstellen aber

leider bleiben die verschiedenen gruppierungen meist unter sich in dieser stadt obwohl man hats versucht ich denke an rage into the night im st. gaudy café oder ähnliche mehrsprachige lesungen im alten finanzamt oder eben auch der schöne samstagnachmittagliche hinterzimmersalon von einst oder eine schöne von lauter niemand bzw. no mans land veranstaltete schifffahrt an einem verregneten samstag im vergangenen sommer wo neben deutsch auch englisch und spanisch zu hören waren zumindest solange der wackelkontakt im mikrofon es zugelassen hat ja

das ist es vielleicht

den wackelkontakt aufzuheben der das gemeinsame literaturmachen stört sogar verhindert i have a dream

worin besteht denn meine ganz persönliche beteiligung in der literaturszene in dieser stadt? bekanntschaften und freundschaften unter schreibenden die lyrik und prosa schreiben sowohl englisch als auch deutsch ich gehe zu deren lesungen und treffe sie gelegentlich auch privat das könnte man nennen: passiver literaturaktivismus ich schreibe selbst lyrik auf englisch und übersetze deutsche lyrik vorwiegend von meinen freundInnen und bekannten ins englische übersetzungen die dann in zeitschriften erscheinen zum beispiel bei no mans land oder shearsman oder great works oder horizon review oder litter aber auch in einigen german poetry special features die in den usa erschienen sind – in der chicago review in der atlanta review in LITmag in shampoo und 2010 erschienen bei shearsman books auch meine übersetzungen von norbert hummelt im band berlin fresco dann noch zweisprachige lesungen unter anderem auch im poets corner im poesiefestival berlin oder in der lettretage gemeinsam mit andré jahn der meine gedichte ins deutsche übertragen hat aber auch auf besagtem boot an besagtem verregneten samstagnachmittag im sommer was man aktiver literaturaktivismus nennen könnte so habe ich sozusagen ein fuß in beiden lagern

im anglophonen lager ist mal mehr mal weniger los mit lesungen und regelmäßigen austausch mit anglophonen communities in prag paris amsterdam und mit kontakten auch zur insel denn jedes jahr im november gelingt es lyriker und lyrikerinnen aus großbritannien und anderen europäischen städten nach berlin zu locken um bei poetry hearings teilzunehmen unserem festival von anglophoner poesie in berlin habe ich prag erwähnt

denn

dort habe ich etwas erlebt was als vorbild dienen könnte wie man und frau die voneinander abgegrenzten literaturaktivismen in berlin zusammenbringen könnte i have a dream

it goes something like this

es wird gemeinsam in verschiedenen sprachen auf einer bühne gelesen – deutsch englisch spanisch französisch russisch und jede andere sprache in der in berlin geschrieben wird – und alle vorgetragenen texte werden vorher übersetzt in die jeweiligen anderen sprachen übersetzt und dann entweder mit vorgetragen oder projiziert

aber so was kann nur dann funktionieren wenn finanzierung gefunden wird um die übersetzungen zu bezahlen oder wenn engagierte menschen die übersetzungen unentgeltlich übernehmen wie ich so oft getan habe und soll das ganze denn an dem schnöden geld scheitern aber das wäre realer literaturaktivismus literarische integration

i have a dream

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Verkaufen lernen http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/verkaufen-lernen/ Sun, 25 Dec 2011 07:32:06 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6256 Wie alle Verlegerinnen und Verleger wollte ich zunächst dichtend zu Ruhm kommen. Auch in meiner Schublade verbirgt sich ein Roman. Umso größer war mein Schock, als ich erkennen musste, dass ich ein guter Verleger bin, doch kein guter Dichter.

Dabei war ich doch nur durch Zufall zum Verlegen gekommen, aus der Liebe zur Literatur heraus. Ursprünglich wollten Werner Labisch, mit dem ich dann den Verbrecher Verlag gründete, und ich lediglich Manuskripte von einigen Autorinnen und Autoren bekommen, kopieren und in unsere Privatbibliothek einfügen. Es waren Manuskripte, von denen wir dank diverser Quellen wussten, dass sie in absehbarer Zeit nicht verlegt werden würden. Es war reine Fanhaltung, die uns zu Verlegern werden ließ – denn irgendwie kamen wir nicht mehr raus aus dieser Nummer.

Mit der Fanhaltung gingen wir auch ans Werk, als wir unsere Verlagsarbeit professioneller gestalten wollten. Wir setzten uns gegen gut gemeinte Ratschläge zur Wehr. Ein Buch gefiel uns nicht – wir druckten es nicht, auch nicht, wenn es sich sicher hätte gut verkaufen lassen. Man müsse Kompromisse machen, sich dem Literaturbetrieb andienen – nein, nicht mit uns. Das Ergebnis dieser Haltung spüre ich noch heute, immer dann, wenn ich Rechnungen bezahlen muss.

Der Verbrecher Verlag, den ich seit einem Jahr allein besitze, hat sich mit dieser Haltung einen gewissen Ruf erarbeitet. Und auf die allermeisten der inzwischen weit über hundert Titel, die in diesem Verlag erschienen sind, bin ich auch sehr stolz. Dennoch waren die Verkäufe zumeist nicht gut. Keine Autorin und keiner unsere Autoren kann allein davon leben, dass die Bücher bei uns erscheinen, auch die zugehörigen Lesungen ändern daran nichts.

Es musste also etwas umgestellt werden in unserem Verlag. Die Haltung musste korrigiert werden, wenn ich nicht wollte, dass der ganze Laden untergeht. Zunächst einmal galt es zu begreifen, was ein Verlag tut. Ein Verlag, so wurde mir bald klar, ist ein Formumwandler. Er verwandelt Literatur, also Kunstwerke, in Ware. Handelsware. Der Verlag macht einen Text handelbar. Wir sind, auch im Internetzeitalter, noch immer weit davon entfernt, dass Autorinnen und Autoren ihre Bücher selbst in eine solche Warenform überführen und zugleich davon leben können. Zumindest ist das in den westlichen Staaten so. Und es liegt nicht zuletzt am Kapitalismus.

Aber auch noch an etwas Zweitem liegt es: ein zu verkaufender Text braucht eine Aura, die erst verleiht ihm den nötigen Fetischcharakter, um als Ware funktionieren zu können. Diese Aura herzustellen ist Teil der Verlagsarbeit. Ich bestreite nicht, dass Schreibende diese Arbeit nicht auch selbst erledigen können, doch es gilt als anrüchig, wenn Schreibende ihre Werke selbst anpreisen. Ein Verlag aber kann, nein, muss dies tun. Er muss die Ware verkaufen, muss Lärm machen, muss die Zeitungsredaktionen bestürmen, um Besprechungen zu bekommen, er muss ein Spektakel veranstalten. Das ist die Aufgabe eines Verlags im Kapitalismus, egal, ob der Verlag ein linker ist, ein unpolitischer, ein rechter. Egal, ob er Scheiße verkauft oder Gold.

Ich merkte, ich kann ganz gut verkaufen. Ich merkte, ich kann das weitaus besser als schreiben. Werner Labisch hingegen hat sich dafür entschieden, hauptberuflich Autor zu werden. Ich beneide ihn um seinen Job.

Wenn ich aber auch nicht so gut schreiben kann (natürlich denke ich, dass ich nicht allzu schlecht schreibe), so kann ich doch lesen. Und noch immer kann ich nicht verlegen, was vielleicht bestsellertauglich sein könnte, mir aber nicht gefällt. Doch ich kann mich anders für das einsetzen, was mir gefällt. Als Verleger, als Warenproduzent, als jemand, der das Spektakel um die Bücher mit inszeniert, als Teil des Literaturbetriebs.

Dabei habe ich eine Hoffnung. Ich hoffe, dass sich die Kunst, die ich in Ware verwandelt habe, in den Händen jener, die die Bücher im Laden, im Internet, mithilfe ihres E-Book-Readers oder sonst wo kaufen, die sie in Bibliotheken ausleihen oder geschenkt bekommen, wieder in Kunst verwandelt. Dass die Texte ihre Warenförmigkeit verlieren, das die, wie Brecht sie nannte, heilige Ware Buch dann, wenn jemand in ihr liest, wieder zum Medium von Kunst wird.

Wenn dies gelingen sollte (es gibt Anzeichen dafür), dann ist es möglich die gleichen Bücher, mit denen man früher versuchte, gegen die kapitalistische Warenwelt zu reüssieren (und bei diesem Versuch produzierte man ja letztendlich trotzdem Waren, der Kapitalismus schert sich einen Dreck darum, was du in deiner Nische denkst), nun sogar mehr Leuten zugänglich zu machen – und zugleich können die, die die Bücher schreiben besser davon leben. Mit den Wölfen heulen, gegen sie. So könnte es gehen. Daran arbeite ich gerade. Und ich kann nicht sagen, dass es keinen Spaß macht.

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Wozu ein Gedichteregen? http://superdemokraticos.com/laender/chile/wozu-ein-gedichteregen/ Wed, 21 Dec 2011 10:46:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6245

Der „Gedichteregen“ (Originaltitel: Bombardements mit Gedichten) ist ein Projekt des chilenischen Kollektivs Casagrande, bei dem 100.000 Gedichte von 80 zeitgenössischen Autoren aus Helikoptern auf Städte abgeworfen werden, die in der Vergangenheit Bombardements erleiden mussten. Dieses Projekt wurde bisher schon in Santiago de Chile (Chile, 2001), Dubrovnik (Kroatien, 2002), Guernica (Baskenland, Spanien, 2004), Warschau (Polen, 2009) und in Berlin (Deutschland, 2010) umgesetzt. 2012 folgt London.

Beim Nachdenken über den Film „Let the right one in”, den ich gerade gesehen hatte, fiel mir der ehemalige nordkoreanische Staatschef Kim Il Sung ein. Der Film hatte mich wegen seines mega-realistischen Fokus, den er auf das Genre Vampir-Film richtet, beeindruckt. Ich versetzte mich in die Rolle des Protagonisten, der ein Monster war, sympathisierte ich mit ihm und wünschte ihm, dass er die schrecklichsten Gräueltaten verüben möge. Es mag dumm klingen, aber während ich nach Hause ging, dachte ich lange über die moralischen Entscheidungen nach, die ich während des Filmes getroffen hatte, aus Angst, dadurch negative Aspekte meines Selbst preisgegeben zu haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Geschichte erfunden war, meine Gefühle möglicherweise jedoch nicht. Ich kam zu keinem endgültigen Ergebnis, es kann schon sein, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber wenigstens habe ich nach all den Jahren endlich eine Erklärung für die Bilder gefunden, welche von den Nachrichtenagenturen aus Nordkorea über den Tod von Kim Il Sung gebracht wurden: Dort gab es schreiende, weinende Menschen, die mitten auf der Straße Zuckungen und Anfälle bekamen oder ihre Köpfe gegen die Busfenster schlugen. Zu Beginn schienen mir alle verrückt zu sein, aber in Wahrheit (wie ich jetzt festgestellt habe), waren diese Menschen einfach nicht aus dem Kino herausgegangen. Ich dagegen konnte aufgrund der Freiheit, die ich besitze, die moralischen Kodexe, die mir ein guter Vampir-Film angeboten hatte, annehmen, aber sie auch wieder dort zurücklassen, und nach dem Verlassen des Kinosaals meine früheren Positionen wieder einnehmen. Diese Freiheit besitzen die Bewohner Nordkoreas nicht; sie leben innerhalb des Kinos.

Wie man weiß, sind die Filme, die die Regierungsparteien in Ländern ohne freie Wahlen zeigen, dazu bestimmt, um ihr Fortbestehen an der Macht zu rechtfertigen. Dank dessem wird die nationale Geschichte neu geschrieben, es entsteht ein Epos, der erzählt, wie die aktuelle Situation im Land entstanden ist, und es entstehen Riten zur Verehrung eines neuen Pantheons voller Helden-Darsteller jenes Epos. Als Resultat auf die Fiktion wird eine neue Realität geboren, die Menschen lernen, auf eine andere Art und Weise zu leben. Und wenn der „geliebte Führer“, das „verehrte Oberhaupt“ oder wie auch immer sich der verehrte Führer gerne nennen lassen will, stirbt, dann winden sie sich auf öffentlichen Straßen, als wären sie mit Chili vergiftet worden.

Die Fiktion kann auf viele verschiedene Arten Realität schaffen. Verschieden Studien haben gezeigt, dass beispielsweise die schulische Leistung zu einem großen Teil von der Erwartungshaltung der Lehrer abhängt. Ein Lehrer, der der Meinung ist, sein Schüler würde keinen Fortschritte machen, ist in der Lage diesen davon zu überzeugen und ihn zu einem mittelmäßigen Erwachsenen zu machen und umgekehrt ist es genauso möglich. Zusammengefasst heißt das, dass die Fiktion des Lehrers zur Realität des Schülers wird, als ob das Verhalten des einen die vorgeschrieben Umlaufbahn, in der sich der andere bewegt, definiert.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sowohl Automobile als auch Himmelskörper vorgeschrieben Umlaufbahnen haben. Alles, was existiert und real ist, und somit auch die Fiktion, die ja nichts weiter als ein Vortäuschung der Realität ist, folgt einem Kurs, der vorhersehbar ist,  also an eine bestimmte Logik gebunden. Und es ist auch gut, dass das alles so ist, denn das erlaubt beispielsweise die Existenz des Lebens, welches ebenfalls vorhersehbar ist; man weiß ganz genau wann der Regen kommt und wann es sonnige Tage geben wird.

Die erlebte Erfahrung der Menschen während eines Gedichtregens ist ähnlich fiktiv; sie sehen nicht einfach eine Menge Papier aus einem Helikopter fallen, sondern etwas viel Tiefgründigeres. Und tatsächlich interpretieren sie jedes Gedicht, das vom Himmel gefallen ist und das sie auffangen konnten, als eine direkte und personalisierte Botschaft. Sie glauben bereits an die Botschaft, bevor sie diese erhalten haben.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Gedichteregen durch die Anerkennung und die Legitimation des Schmerzes, den die Stadt erfahren hat, die Art und Weise in der sich die Bewohner dieses Orts mit der Stadt und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. So wie mein Kollege Cristóbal Bianchi ein paar Jahre, nachdem wir dort Gedichte abgeworfen hatten, wieder nach Guernica reiste und ein paar Jugendliche befragte, wie ihre Erinnerung an das Bombardement sei. Ihm wurde eine Gegenfrage gestellt: „Welches der beiden? Das von 1973 oder das von 2004?“ In Guernica wird es niemals wieder ein Bombardement geben. Man kann sagen, dass die beiden Ereignisse, das eine als Trauma und das andere als Heilung, das eine als schreckliche und erfühlbare Realität und das andere als Simulation dieser Realität, aber als Fiktion im umgekehrten Sinn, dass diese zwei Ereignisse sind miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander wie die beiden Pole eines Magneten.

Wir erschaffen, genau wie die Regierung in Nordkorea, eine Fiktion, wir erschaffen die Illusion, dass die Poesie, die vom Himmel herunter an einen Ort kommt, der mit Schmerzen verbunden ist, von absolut komplexem symbolischem Wert ist, aber wie auch der Regisseur eines jeden guten Vampir-Films zwingen wir die Menschen nicht, diese Fiktion außerhalb des Kinos zu akzeptieren. Natürlich sollten sie sie akzeptieren, aber sie sollten sich deshalb nicht auf dem Boden wälzen.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Keine Zeit für Theorie http://superdemokraticos.com/themen/literarischer-aktivismus/keine-zeit-fur-theorie/ Tue, 20 Dec 2011 08:02:21 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6236

(c) Clara Lagos

Aua!! Ich bin eine arbeitslose Frau aus der Mittelschicht ohne Zeit für Theorie.

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Hinter der Mauer, hinter Gittern http://superdemokraticos.com/themen/deutschland-themen/hinter-der-mauer-hinter-gittern/ Sat, 17 Dec 2011 00:16:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6214 Vielleicht lag es an unserer Unzufriedenheit. Uns war immer klar, dass Literatur keine Angelegenheit aus Papier ist, sondern eine gesellschaftliche Kraft. Mitte der achtziger Jahre betraf unsere Unzufriedenheit die Realität des osteuropäischen Sozialismus, der uns vorschreiben wollte, welche politischen Wahrheiten in unseren Texten zu stehen hatten und welche nicht. So entstanden die Leipziger Mittwochstreffen, auf denen wir in privaten Räumen Texte diskutierten, deren Publikation staatlich verhindert oder verboten worden war. Projekte wie das Unsichtbare Theater (das verschwiegene Themen in den Alltag der Großstadt Leipzig brachte) entstanden, und als die Staatssicherheit uns irgendwann einmal festnahm, lasen wir (die Dichterin Jayne Ann Igel und ich) beim Warten aufs Verhör in den Polizeifluren Gedichte vor, bis man uns die Bücher wegnahm – und wir mit all den Gedichten weitermachten, die wir auswendig kannten… Nicht zufällig gehörten etliche Besucher solcher literarischen Aktionen auch zu den ersten Leipziger Demonstranten im revolutionären Herbst 1989.

Mitte der Neunziger ging es in Berlin weiter: Neue Wirklichkeiten schufen neue Allianzen. Aus den Salons und Performances im familieneigenen Restaurant Walden entstanden neue Netzwerke literarischer Aktivisten. 2004 wurde die Berliner Literarische Aktion ein „eingetragener Verein“, was die Geldbeschaffung für Projekte zwar erleichterte, gleichzeitig aber viel Bürokratie (ohne Geld) bedeutet. Neben regelmäßigen Salons (unser Literatursalon am Kollwitzplatz ist ein Kontaktpunkt für Künstler aller couleur) sind diverse ungewöhnliche Projekte entstanden. Besondere Wirksamkeit entfaltet derzeit die Literatur hinter Gittern, bei der wir mit international bekannten Autoren in Gefängnisse gehen, um Lesungen und Workshops mit Gefangenen zu realisieren. Anfangs gingen wir nur sporadisch in die großen Männerknäste Berlins, später auch in die legendäre U-Haftanstalt Moabit, oder in kleinere Frauengefängnisse und in die Jugendstrafanstalt, was zunächst auf große Widerstände stieß. Daraus erwuchs ein Programm, das wegen der Nachfrage inzwischen das ganze Jahr läuft. Mancher skeptische Gefängnisbeamte erkannte den Sinn des Projekts allmählich an und gesellt sich heute selbst gern dazu, wenn wir international erfolgreiche Autoren in Kontakt mit diesem besonderen Publikum bringen. Die Energien, die bei einer Literaturveranstaltung im Knast fließen, sind so ungewöhnlich, dass unter den internationalen Autoren das Interesse im Gefängnis zu lesen mittlerweile so groß ist, dass wir gar nicht alle „Bewerber“-Wünsche realisieren können. Natürlich gibt es im Knast nichts zu verdienen als den Respekt der Gefangenen − und der organisatorische Aufwand für solche Veranstaltungen ist im Vergleich zu „freien“ Lesungen bedeutend höher. Mittlerweile ist unser Modell jedoch auch in Großbritannien, Nordirland, Italien, Spanien, Griechenland und Zypern gefragt und ist Teil europäischer Langzeitprojekte zur Kultur in Gefängnissen.

Bei all unseren Aktionen geht stets um eine direkte geistige Auseinandersetzung mit praktischen Folgen für alle Beteiligten: Dafür erfinden wir immer neue Formen. Literatur als Lebensmittel, als Triebmittel für die verflixte Kultur, in der wir leben… Es freute mich deshalb, als die chilenische Gruppe Casagrande aus Santiago mich neulich einlud, ein Geleitwort zum Buch über ihre Aktion Bombardeo de Poemas Sobre Berlin vom Sommer 2010 zu schreiben. Unter den 100.000 Gedichten junger deutscher und chilenischer Dichter, die aus einem Helikopter über Berlin Mitte abgeworfen wurden, war auch eines von Roberto Yañez (hier ein Text, den er für Superdemokraticos schrieb). Er ist der Enkel von Margot Honecker, jener berüchtigten ostdeutschen Ministerin, die uns damals in Leipzig das Leben so schwer machte. Dass Roberto heute als freier Dichter in Santiago lebt, ist ein großartiges Zwischenergebnis. Vielleicht liest er demnächst mal bei einer unserer Aktionen in Berlin?

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Wohin mit der Wut? http://superdemokraticos.com/themen/literarischer-aktivismus/wohin-mit-der-wut/ Sun, 11 Dec 2011 09:56:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6233

So viele Sachen machen mich wütend!
Doch wenn ich anfangen möchte, etwas zu tun, schnell, wo soll ich anfangen?

(c) Ulla Loge

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Kooperative Bewegung und Revolution http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/kooperative-bewegung-und-revolution/ Tue, 06 Dec 2011 23:02:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5720 Kooperative Bewegung und Revolution: Pappe, Bücher, Karotten, Liebe, Poesie, Sex, Cumbia und alles andere

Néstor Kirchner starb und mit ihm ein großer Teil der zeitgenössischen argentinischen Geschichte. Nun beginnt eine neue Nation.

Nach dieser ganzen Aufregung sind nur wir geblieben, wir, die wir auch von dem Kirchnerismus auf den Straßen waren, die wir immer noch dort sind und auch danach noch dort sein werden. Die Überlebenden der harten Krisenzeiten.

Mein Name ist Santiago Vega. Ein hübscher Name, oder? Dennoch machte mich das Leben und die Arbeit zu einem politischen Tier, wie der argentinische Autor Fabián Casas sagte, aber letztendlich zu einem Monster: Cucurto.

Entschuldigt bitte, dass ich zu Beginn über mich sprechen muss, aber alle Eindrücke, die im Folgenden über das Hin und Her der Literatur der letzten Jahre kommen werden, bergen ein persönliches Gefühl. Es ist etwas, das mich direkt betrifft.

Nächstes Jahr, 2012, wird die Kooperative, für die ich arbeite, zehn Jahre alt. Das sind viele Jahre, in denen Bücher aus Pappe produziert wurden! Ich bin sehr zufrieden damit, mein Leben ist fast filmreif. Ich habe alles sehr genossen und bin sehr dankbar dafür, nie bei Eloísa Cartonera aufgehört zu haben. Ich wäre ein undankbarer Mensch, wenn ich mich nicht bei aller Welt bedanken würde. Deshalb: Welt, vielen Dank!

Seit ich angefangen habe zu schreiben, dachte ich immer an die Möglichkeit, ein Literaturproduzent zu sein, Träume von körperlichen Vereinigungen; ich träumte davon Erzeuger von Kindern, Gedichten, Illusionen, wahnsinnigen Projekten und vielen mehr zu sein. Davon habe ich schon einiges geschafft.

Mir kam es immer schon so vor, als wäre die Literatur kein sooo schwieriges Terrain; dass es sich auch ein durchschnittlicher Mensch aus der unteren Mittelschicht leisten könne Bücher zu lesen, Gedichte und Romane zu schreiben und sie sogar selbst herausgeben kann, damit viele Menschen diese lesen können. Ein wundervoller realer Traum.

Angesichts so viel schematischer Darstellung, Überprofessionalisierung und einem überraschenden Fehlen an Sensibilität vor der Ungerechtigkeit der Welt, war unsere einzige Möglichkeit zu überleben einen Pappkartonverlag zu gründen.

Wahrscheinlich lernte ich durch Eloisa Cartonera, dass die Literatur, die Lektüre der Bücher, das Schreiben von Gedichten, die Arbeit, die man selbst erschafft und die Herstellung von Büchern aus Pappkarton, großartige Werkzeuge sein können, um mein Leben zu verändern. Oder wenigstens eine Einladung, um erst zu träumen und danach die Herausforderung anzunehmen, meine Träume in die Realität umzusetzen.

Ich habe ebenfalls gelernt, das derjenige, der träumt auch liebt, dass derjenige, der liebt zufrieden lebt (obwohl die Liebe uns manchmal leiden lässt) und dass Träumen in einem großen Maß Teil der Liebe ist. Nach dem Traum kommt das Sich-Verlieben. Und mit Eloisa wurde ich zu einem permanenten Träumer, also zu einem Liebhaber mit aller Leidenschaft.

Die Liebe besteht aus Spielen, Träumen, Wagnissen, Fantasien, und genauso war mein Leben in den letzten Jahren, ich spielte den Herausgeben, spielte den Vater, spielte einen guten Partner. Und ich wiederhole es nochmal: All das habe ich in einem gewissen Maße erreicht und ich bin zufrieden.

Ich habe gelernt, dass Verlegen und Schreiben dringende Angelegenheiten sind, dass nicht Wochen vergehen dürfen eh man ein Buch veröffentlicht. Das Konzept von O. Lamborghini – morgens zu schreiben und nachmittags zu veröffentlichen – wurde zu etwas Fundamentalem. Man darf keine Zeit verlieren. Der Nachmittags als einziger Horizont, Spätnachmittags als das absolut Späteste.

Und genau deshalb brachten wir in diesen Tagen Jahren der Existenz fast 200 Titel heraus und produzierten viele Tausende von Bücher, die ihren Weg in der Welt machten. Und dieses schwindelerregende Gefühl, Herausgeber zu sein, einen Verlag superschnell aufzubauen, hat mich zu einem Lehrling gemacht.

Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, welches der Gedichte oder der Geschichten, die ich verfasste, von mir ist oder sich mit etwas von Aira, von Perlongher oder von Piglia vermischt.

Und ich habe es nachgemacht. Ich lernte, dass Schreiben und Herausgeben dringende Angelegenheiten sind, die man nicht aufschieben kann. Herausgeben, fast ohne zu denken, schreiben, fast ohne zu denken. Oft hatten wir noch nicht einmal Zeit, etwas zu korrigieren. Niemand interessierte sich für die literarischen Errungenschaften, hier sind wir und produzieren ohne Unterbrechung Bücher. Bücher, die der ganzen Welt gefielen.

Pappkarton, Bücher, Karotten, Liebe, Poesie, Sex, Cumbia und alles andere.
Jetzt sind wir bei den Karotten angelangt, bei den Samen der Kürbissen, und lernen die Pflänzlein zu gießen und die Möglichkeiten der Verbesserung zu sehen. Wir haben in Florencio Varela einen Hektar Land gekauft und träumen davon Landwirte zu sein. Ich hoffe es wird nicht allzu schwer!

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Handlungsspielraum http://superdemokraticos.com/themen/literarischer-aktivismus/handlungsspielraum/ Sun, 04 Dec 2011 13:57:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5349

WIR SIND bloß KÜNSTLER, WAS KÖNNEN WIR TUN?
Ist Herumheulen das einzige, was du tun kannst? Was wollen wir tun? ODER was wollen wir nicht tun? Ich möchte nicht bei einer Ausstellung mitmachen, die sich im Titel über den Holocaust lustig macht! Spielverderberin! Kunst ist Krieg! Komm schon, es ist nur ein Titel! Kunst muss nicht politisch sein! Kunst ist Kunst. Denk nicht so viel drüber nach, es muss keinen Sinn ergeben…

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