Globalisierung – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Spanisch verstehen http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/spanisch-verstehen/ Wed, 21 Mar 2012 10:57:00 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6316 Unsere Übersetzerinnen der Agentur In-Kult ziehen ein Fazit: Übersetzungsschwierigkeiten, Herausforderungen, Ansprüche und Fehlerteufel beim Hin und Her zwischen den Sprachen Spanisch und Deutsch.

In einem fremden Land lernt man mit vielerlei Dingen zurechtzukommen, ohne sie nachvollziehen zu können. Man weiß wie das System funktioniert, oder wie es gerne funktionieren würde. Man lernt nette Gesten und nicht ganz so nette Gesten voneinander zu unterscheiden. Man lernt Ironie zu verstehen und Witze zu kapieren. Aber es werden immer genug Dinge übrigbleiben, die einfach komplett unbegreifbar sind. Wenn man als Übersetzerin arbeitet, setzt man sich damit auseinander, mit den verschiedensten Ausdrücken, Sätzen oder Wortspielen, die ungefähr zwei Seiten Erläuterung benötigen würden, um sie in all ihren Bedeutungen übersetzen zu können.

Natürlich, das ist die Essenz einer Sprache, und genau darum geht es: zu übersetzen, aber es gibt immer wieder Sätze, die wesentlich weiter vom Original entfernt sind als andere. Hier sind ein paar Beispiele, die wir bei der Übersetzung der LSD-Texte durchlebt haben:

„La felicidad“, man hört es in fast jedem spanischen Lied. Bekannt, aber unübersetzbar bleibt dieses Wort für uns, weil wir uns jedes Mal für ein Teil seiner Bedeutung entscheiden müssen. Glück, Glücksgefühl, Glücklich-Sein, aber als eigenständiges Substantiv. „La felicidad“ ist ein Lebenseinstellung, ein Lebensziel… das oberste Ziel des Lebens sogar, und Glück scheint im Deutschen eher zufällig und vorübergehend.

So wie wir es in Deutschland ganz oft vermeiden müssen, einige hier rassistisch konnotierte Ausdrücke zu benutzen, wegen der Vergangenheit, der Geschichte, werden in einigen Länder in Lateinamerika solche Wörter so leichtfertig benutzt, dass man Bauchschmerzen kriegt, und das ebenfalls wegen der jeweiligen Geschichte. Nach der Kolonialisierung und allen Unabhängigkeitskriegen werden einige Wörter wie „Schwarz“ oder „Rasse“ sogar in einem positiven Sinn benutzt. „Negrito“, „Schwärzchen“, kann ein liebevoller Kosename sein und ein „escritor de raza“ ist weniger „Rassen-Schriftsteller“ als ein Schriftsteller aus Berufung.

Soziale Zusammenhänge, die einige Witze, Ironie oder einfache Beschreibungen ausmachen, müssen für den Leser bekannt sein, um alles verstehen zu können. Die Frage, die sich uns immer stellte, war: Inwieweit kann man einen interessierten, gebildeten Leser voraussetzen, ohne einen zu elitären Anspruch an die Leserschaft zu haben? Vielleicht kennen die meiste deutsche Leser des Blogs Borges, aber kennen sie auch Cortázar oder Facundo Cabral? Wissen sie von der Herkunft Evo Morales‘ oder warum er immer diese Ponchos trägt? Wie weit müssen wir ausholen, um einen Piropo verständlich zu machen? Haben die argentinischen Leser von dem Guttenberg-Skandal gehört? Oder die kolumbianischen Leser schon etwas über Hartz VI gelesen? In einem Blog ist es ja möglich immer ein Link zu setzen, aber müssen wir dann die Leser so behandeln, als ob sie nicht selber recherchieren können?

Es ist immer schwierig, zwei Welten zusammenzubringen, zwei Sprachen, mit all ihren Dialekten, Soziolekten und Feinheiten, aber dass ist die Aufgabe, der wir uns als Übersetzerinnen gestellt haben. Die Dynamik eines Blogs, technische Schwierigkeiten, internetfreie Zone, der Zeitdruck einer Live-Berichterstattung wie von den beiden Buchmessen – Frankfurt und Guadalajara – und der Stil einiger Autoren waren die besten Freunde der niedlichen, kleinen Fehlerteufel. Dennoch haben wir uns über Ozeane hinweggesetzt, Diskurse über-setzt und mit „Los Superdemokraticos“ und dank dem Internet zeitgenössische Autoren aus Lateinamerika und Deutschland so zeitnah und interaktiv zusammengebracht, wie es vorher noch nie der Fall war.

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Ressource + Ressource + Ressource = Strömung http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ressource-ressource-ressource-stromung/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ressource-ressource-ressource-stromung/#comments Fri, 06 May 2011 04:45:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3772 Ich bin kürzlich aus Kairo zurück gekommen – von einer Recherche-Reise im Eigen-Auftrag.

Die ägyptische Revolution ist nicht über Nacht gekommen, auch wenn sie alle überrascht hat. „Die bringen die Menschen dazu zu kämpfen“ erzählt mir Farah Abdellatif, eine 23jährige Beatboxerin aus Kairo, als ich sie nach dem alten Regime frage. Und Nivin Samir, die seit 20 Jahren in der ägyptischen Linken aktiv ist, kommentiert den ägyptischen Umsturz: „Das war unsere Arbeit.“

Ich habe Aktivistinnen interviewt, die früher froh waren, wenn einem Demo-Aufruf 50 Menschen folgten – stets von einer hundertfachen Menge Polizisten umzingelt. Die für ihre Überzeugungen im Gefängnis saßen. Die sich in der Arbeiterbewegung engagieren, in feministischen Organisationen, im Aufbau unabhängiger Gewerkschaften.

Zwei intensive Wochen in Kairo haben mir bewusst gemacht, was mir in der deutschen „Verteidigungsgesellschaft“ abhanden gekommen war: die Erfahrung, dass sich hartnäckige politische Arbeit auszahlt, mit etwas historischem Glück. Dass das konsequente Handeln Einzelner, gezielte Kollaboration und der Einsatz von Herz und Hirn auch scheinbar aussichtslose Vorhaben ermöglichen.

Wer jemals die Kreativität erlebt hat und die Energie, die gemeinsames politisches Handeln auslöst, der versteht auch die Dynamik des Tahrir-Platzes, der zum Symbol der ägyptischen Revolution wurde. Der versteht den rapiden Verlust von Angst unter den Demonstranten, die Entschlossenheit und die Schönheit des Protests.

Sicher, ich romantisiere die Revolution.

Mir fällt ein: Wie wir vor gut zehn Jahren das Hausprojekt „Trillke-Gut“ in Hildesheim erhalten konnten. Fünfzig recht mittellose Studenten und Handwerker, die mit Ausdauer und Einfallsreichtum den konservativ regierten Stadtrat davon überzeugten, das prächtige Internatsgebäude fair an die schnell gegründete Genossenschaft zu verkaufen – und nicht an Investoren. Nun ist das Trillke-Gut in Selbstverwaltung ein etablierter Ort für politische und kulturelle Veranstaltungen, mit Kampfsportschule, Tonstudio, Ateliers, Musikschule und einem Blockheizkraftwerk im Keller. Ein Zuhause für 50 Erwachsene und 10 Kinder.

Mir fällt auf: Ich mache mir inzwischen weniger Gedanken darüber, wie ich meine Spuren verwische, die Datenspuren, die ich überall hinterlasse, und viel mehr Gedanken darüber, wie meine Spuren auf dieser Erde tiefer und länger werden.

Aus Kairo bin ich voller Energie zurück gekommen – auch wütend über mich selbst, weil ich den Glauben an politische Veränderung verloren, mich eher in ein ökologisch-bewusstes privates Leben zurückgezogen hatte.

Ich beackere mit Freundinnen einen Schrebergarten. Ich beziehe Öko-Strom. Ich esse Fleisch, das zuvor möglichst wenig gequält wurde. Das Bio-Gas ist abbestellt, seit ich erfahren habe, dass die Subvention von Biogasanlagen zur „Ver-Mais-ung“ ganzer Landstriche geführt hat – Mais-Monokultur statt Viehhaltung und Vielfalt.

Meine Energie, meine geistigen und körperlichen Ressourcen, möchte ich aber nicht darin verausgaben, individuell möglichst korrekt zu leben. Ich will nicht LOHAS-mäßig Luxus-Bio praktizieren und moralisch über LIDLALDINETTO schweben, wo sich – global betrachtet – die meisten Menschen einen Einkauf gar nicht leisten können.

Die Gestaltung von Nachhaltigkeit kann nicht von politisch-ökonomischen Zusammenhängen getrennt werden. Wichtiger als einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, ist es zu überlegen, welche Spuren wir überhaupt ziehen. Prägen wir unübersehbare Fußabdrücke oder berühren unsere Sohlen kaum realen Boden?

Ressourcen sind ungleich verteilt. Ressourcen bleiben nicht dort, wo sie sind. Lieber in Widersprüche verwickeln, als einen scheinbar geraden Pfad gehen. Im Labyrinth der Möglichkeiten nach neuen Ressourcen forschen.

Kollaborieren. Offen sein. Ich bin meine Ressource. Die Welt ist meine Ressource. Ich kann Ressource für andere sein. Ressource + Ressource + Ressource = Strömung. Hinterlasst Abdrücke und Spuren! Stoßt mit High Heels durch die gläsernen Decken patriarchaler Institutionen! Zeigt dem politischen Gegner die Schuhsohle! Strömt zusammen.

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Bitte seid achtsam http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-seid-achtsam/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-seid-achtsam/#comments Sun, 01 May 2011 11:54:11 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3650

Foto: Rery Maldonado

Diesen Monat beschäftigt sich LSD in  Texten, Fotos und Cartoons mit Energie, Ressourcen und dem aktuellen Umgang mit Atomenergie weltweit. Eine Einführung.

Die Welt starrte mit offenem Mund auf die Bilder der Zerstörung. Immer und immer wieder sah man das wütende Meer die japanische Küste angreifen. Man sah die bebende Erde, die aufgerissenen Häuser, den Rauch des Atomkraftwerks und die Angst in den Gesichtern der Menschen. Wir alle wussten, dass so etwas passieren könnte. Das ist die größte Angst, die wir haben, wenn wir in der Nähe von einem der 486 Kernkraftwerke wohnen, die über den Planeten verteilt sind. Und die Medien machen seitdem nichts anderes, als uns mit Live-Bildern von einem unserer schlimmsten Albträume zu bombardieren.

Ein gläubiger Mensch schrieb einst, Gottes Wege sind unergründlich. Abgesehen vom menschlichen Unvermögen, hatten wir als Menschen bei der Katastrophe von Fukushima absolut keine Möglichkeit einzugreifen. Was kann man auch gegen die tobende Natur tun? Vor ihr kann uns nichts bewahren, noch nie hat uns etwas bewahren können. Wenn die Elemente ihr Gebrüll erheben, fallen wir zurück auf die Stufe von höchst entwickelten Affen, wobei wir der Intelligenz einen größeren Wert zuschreiben, als etwa Flügel oder Reißzähne oder einen Panzer zu besitzen, Dinge, die uns möglicherweise vielleicht wesentlich besser schützen könnten, als unsere empfindliche Haut der unergründlichen Abwege.

Der Hochmut wurde zum Symbol des Fortschritts. Wenn wir den Banken glauben schenken, welche mit unserer Zukunft Spekulationen betreiben, ist die Modernität ein einheitliche Entität, trotz aller Märchen, die wir Menschen erfunden haben, trotz aller Hymnen und Fahnen. Die vergifteten Fische, auf die mehr als 11.600 Tonnen kontaminiertes Wasser geflossen ist, fragt niemand, ob sie Japaner sind; wenn wir über Globalisierung sprechen, denken wir in erster Linie an die Wirtschaft. Es gehört einfach zu den Rechten und Pflichten des Bürgers der Welt, auch in dem kleinsten Dorf irgendwo in den Anden eine Coca Cola trinken zu können.

In Europa ist Italien das einzige Industrieland, das ohne Atomkraftwerke auskommt. Der benötigte Strom, der nicht im Land produziert werden kann, wird laut dem spanischen Atomindustrieforum aus anderen Ländern wie Frankreich bezogen. Gleichzeitig ist Frankreich aber auch das Land, das sich am entschiedensten für diese Art der Stromgewinnung ausspricht. In Deutschland lehnt praktisch die gesamte Bevölkerung Atomenergie ab, dennoch sieht es in Wahrheit so aus, dass die Unternehmen, die Atomstrom produzieren, die meisten Kunden haben, da sie die günstigsten sind. In Spanien hat das Ausmaß der Wirtschaftskrise erreicht, dass es nur einigen wenigen Menschen in den Sinn kommt, die Vorteile des Atomstroms für die Industrie ernsthaft in Frage zu stellen. In Chile passiert genau das Gleiche. Unter den Bildern über Fukushima ging in Deutschland die Nachricht vom Besuch Obamas in Chile und die Unterzeichnung des Pakts zur nuklearen Zusammenarbeit praktisch unter.

Im Gegenteil zu Europa verfügen die meisten Länder Lateinamerikas nicht über Atomkraftwerke. Im Vergleich sind es genau diese weniger entwickelten Länder, die die größten Flächen unberührter Natur und zudem Artenvielfalt vorweisen können. Auch menschliche Artenvielfalt. Allein in Bolivien leben 36 Nationen mit ihren jeweils eigenen Sprachen und Wertesystemen zusammen. Die Industrialisierung und damit das, was von der Welt übrig bleibt, mit Straßen zu zupflastern, Häuser zu bauen und uns mit dem gleichen ignoranten Instinkt zu „zivilisieren“ oder die gleiche Vision des eindimensionalen Fortschritts unserer Vorfahren, kann keine Alternative sein. Allein die Tatsache, dass die CDU einen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2020 unterstützt, bringt mich ins Grübeln. Ich traue ihnen so einen schnellen und kategorischen Ausstieg nicht zu, es kommt mir einfach verdächtig vor. Vor einigen Wochen besuchte ich eine Lesung von Dominic Johnson, dem Afrika-Redakteur der taz, bei der er sein Buch „Afrika vor dem großen Sprung“ vorstellte. Der einzige Schwarze im Publikum fragte ihn, warum er die weißen Afrikaner, auch wenn sie Mulatten sind, wie eine dem Autor fremde Ethnie, als „die Weißen“ bezeichne, als wären diese Eliten anders, denn das sind sie nicht. In der Frage glaubte ich diese Feststellung herauszuhören und in der verwirrten Antwort des Autors, einem netten Typ, der barfuß herumläuft, zu verstehen, dass es gelegentlich schwer ist, sich als Kollektiv im Spiegel zu sehen, sich in die Lage des Mitmenschen zu versetzen und die familiären Bande in den sozialen Strukturen zu übernehmen.

Und wenn die Lösung für ein angenehmes Leben daraus bestünde, mit den Dingen, sie wir jetzt haben, ein Nachhaltigkeit zu erreichen? Darin, unsere Umwelt menschlicher zu machen und zusammenzuarbeiten, damit sie nicht noch mehr auseinanderbricht oder noch weiter zerstört wird. Aufzuhören nur in uns selbst zu investieren und statt dessen uns der Verantwortung zu stellen, dass wir andere Völker geplündert haben, ihnen die Vorstellung eines Fortschritts aufgezwungen haben, der lediglich auf nicht nachhaltigen Wirtschaftswachstum und auf Egoismus basiert, mit dem wir unsere Wissenschaft verwalten. Wie es scheint, ist der wohl wichtigste Beitrag der Indigenisten zur neuen politischen Verfassung des Plurinationalen Staats Bolivien, in unseren vier offiziellen Landessprachen, das Konzept des „Vivir Bien“, des guten, harmonischen und vielfältigen Zusammenlebens mit der Natur (Anm. d. Ü.).

In Artikel 8 der CPE, der politischen Verfassung des Staates, wurde festgelegt: „Folgende Prämissen werden als moralisch, ethnische Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft vom Staat vorausgesetzt und angestrebt: ama qhilla, ama llulla, ama suwa (sei nicht faul, sei nicht verlogen, sei auch kein Dieb), suma qamaña (gut leben), ñandereko (harmonisches Leben), teko kavi (gutes Leben), ivi maraei (Land ohne Übel) y qhapaj ñan (Weg oder edles Leben)“.

Auch wenn die 25 Postulate des „Vivir Bien“ offensichtlich sehr einfach gehalten sind, sind sie dennoch schwer zu verstehen. Für die Westlichen oder die westlich Zivilisierten oder die Blankoiden würde es bedeuten, eine Art buddhistische Haltung anzunehmen. Es handle sich letztendlich um Geschichten, aus denen wir lernen mit dem, was wir sind, was wir haben und mit dem, was unsere Vorfahren geschaffen haben, glücklich zu sein. Im Guten wie im Schlechten. Vermutlich macht es beim derzeitigen Zustand der Ozonschicht und in diesem Moment der globalen Klimaerwärmung keinen Sinn an das eigene Land zu denken. Im Weltraum sind wir alle ein Teil des gleichen, unbedeutenden, kleinen blauen Punktes.

Wir heißen alle herzlich willkommen zu einem neuen Jahr der Los Superdemokraticos. In diesem Monat wird unser Thema Atomenergie sein, insbesondere der Umgang mit Ressourcen, und mit Essays von verschiedenen Autorinnen und Autoren, Fotos, Videos, Cartoons präsentieren wir euch die unterschiedlichsten Visionen rund um den Nutzen und Missbrauch von Energie.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Experiment im kollaborativen Schnellschreiben http://superdemokraticos.com/themen/koerper/experiment-im-kollaborativen-schnellschreiben/ Tue, 26 Apr 2011 17:05:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3605 Wir sitzen, jede an einem Netzanschluss. Diesmal sind wir nicht einmal in der gleichen Stadt und versuchen uns an einem Online-Gespräch, in dem wir über das Gelernte und das Erlebte des vergangenen Jahres nachdenken und auf das neue LSD-Jahr schauen. Dies ist das Ergebnis unseres Chats:

Eine Sache, die wir im letzten Jahr oft gesagt haben, war: „Allah ist mit uns!“ Wir haben gelernt, dass Ideen keine Grenzen haben, auch wenn wir oft an unsere Grenzen gestoßen sind. Wir danken allen, die uns immer wieder Vertrauen geschenkt haben, sonst würde uns die Bundeszentrale für politische Bildung nicht weiter vertrauen, die unsein weiteres Jahr fördert.

2010 haben wir aus einem Blog mit mehr als 200 Kurzessays von vielen sehr unterschiedlichen Autorinnen und Autoren ein Buch gemacht. Was wir jetzt wissen: Ideen wachsen mit Glauben, Glauben ist wie Dünger. Und Bloggen ist wie Beten, bloß nicht im Liegen, sondern im Sitzen. Blogs richten sich auch an eine imaginäre Person, aus einem konkreten Anlass heraus. Sie wollen etwas loswerden, etwas mitteilen. Wenn wir uns etwas wünschen könnten, würden wir gerne noch mehr wie in einer Großküche arbeiten, Hand in Hand was Leckeres zubereiten und mit anderen teilen. Und zusammen probieren. Auf die digitale Gastfreundschaft!

Wir gehören einer Generation an, die vielleicht nicht anders denkt, aber auf jeden Fall anders kommuniziert als die Generationen zuvor, vor allem viel direkter, weil über das Netz Nettigkeiten meist überflüssig sind. Man erreicht die Menschen, die man sucht, indem man ehrlicher spricht. In einem Gesprächsregister. Man spricht mit „anonymen Freunden“, macht Angebote für Gespräche. Un diese werden sogar mitgeschnitten.

Das ist das Prinzip der Mauer auf Facebook, der so genannten Wand. Auch der Mails, die gespeichert bleiben. Man kann sich auf das berufen, was gesagt wurde. Soziale Netzwerke, Chats, Hin- und Her-Mails, Blogs haben gemeinsam, dass sie Gedanken enthalten, die schnell verfasst wurden. Und dass sie zu Zeugnissen werden können, wie ein offenes Tagebuch. Was die Menschen posten und kommentieren, erzählt, wer sie sind. Allerdings können wir nur bestimmte Dinge ablesen, eher Auffälliges wie Standpunkte und Interessen, Zeitungslektüre, Musikgeschmack, Freundeskreis. Was machen wir mit dem blinden Fleck?

Mit dem Blog möchten wir ab Mai 2011 weiterhin das Blinde entdecken, die Terra Incognita zwischen dir und mir. In den nächsten Monaten entwickeln wir uns mit euch weiter zu Pionieren der Nanotechnologie. Zu monatlich wechselnden Themen, die stärker an aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten angedockt sind, postet LSD Texte, Cartoons von Chicks on Comics, Bilder befreundeter Künstler, Videos, Musik. Wir lauschen auch darauf, was unsere Facebook-Gruppe beschäftigt.

Wenn du auch dieser ipod-, iphone-, ipad-, I/ich/yo, )-Gesellschaft angehörst, die nur, indem sie absolut ICH ist, Teil der Gemeinschaft sein kann, dann befreie dich und werde Teil der YOU-Topie. Hier verschwinden die Ichs hinter ihren Ideen. Das funktioniert asosiativ, weil Privates und Öffentliches sich ständig vermischen: „Ich kann über Libyen sprechen und gleich danach ein Lied hochladen, das meinen Liebeskummer oder mein Glück ausdrückt, weil ich gerade was Gutes erlebt habe.“ Deine Teil-Öffentlichkeiten schalten sich da ein, wo sie sich einschalten wollen. Mach mit bei unserer Gruppenerfahrung! Die Kollaboration ist heute eine Voraussetzung dafür, das man überhaupt eine eigene Meinung darstellen kann.

Und das macht Mut, denn du bist nicht alleine. Aber denk dran, du hast eine Spur im Netz, denn wir leben wie stenge Protestanten ohne Vorhänge.

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Liebe Ägypter! http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/#comments Wed, 16 Feb 2011 23:43:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3499 Ich habe vor kurzem einen besonderen jungen Mann kennengelernt. Am Brandenburger Tor in Berlin stand ein wütender Deutsch-Araber, der auf allen Berliner Demonstrationen zur Solidarität mit den Ägyptern Anti-Mubarak-Parolen ins Mikro rief, nein, besser schrie, wie ein Hiphopper ins Mikro, wie ein Shouter auf einem Fußballspiel: „Eins, zwei, drei, vier, Religion ist egal, Hand in Hand machen wir, was unser Herz uns befahl.“ Ramy Mostafa ging es um eine emotionale Politik, um seine „Familie aus 88 Millionen“ Ägyptern.

Ramy Mostafa auf einer Demo auf dem Pariser Platz, Berlin, 9. Februar 2011.

Der 18-jährige Schüler aus Neukölln, einem Berliner Stadtteil, das es meist nur wegen Arbeitslosigkeit, sozialem Elend, Jugendkriminalität, gescheiterter Integration in die Schlagzeilen schafft, hatte sich seine Haare zu einem Irokesen frisieren und das arabische Schriftzeichen für Ägypten rechts und links über die Ohren hineinrasieren lassen, damit man seine Wut auf Hosni Mubarak sehen würde, der Gewalt gegen diejenigen zugelassen hatte, die für ihre Freiheit und Rechte auf die Straße gingen. „Auf Deutsch war das Wort zu lang.“ Politisch korrekt ist er, der immer irgendwie zur Minderheit gehörte, als deutsch-arabischer Jugendlicher, der 10 Jahre in Ägypten aufwuchs. „Liebe Leute“, rief er, „liebe Nicht-Deutsche, liebe Nicht-Ägypter! Seid ihr bereit für die Show!?“ Jeden deutschen Demonstranten zählte Ramy doppelt: „Leute, die sich für so ein entferntes Land einsetzen, haben meinen gesamten Respekt verdient. Wir leben in Deutschland und ein Großteil des Publikums, Entschuldigung, der Demonstranten lebt in Deutschland. Ich bin selbst Deutscher und hab gelernt, jede Minderheit zu respektieren.“

Ramys in durchwachten Nächten selbst verfasste Reime waren leicht zu merken, daher gilt er nach den zwei Wochen, in denen er bei durchschnittlich sechs Veranstaltungen der Parolenrufer  war, als „Star“. Man grüßt ihn in den Dönerimbissen, bringt ihm Hustenbonbons mit und warnt ihn humorvoll, er solle sich an der Macht nicht berauschen, sonst würde er zu einem neuen Mubarak.

Die Gefahr ist allerdings gering: „Ich bin nicht politisch, ich bin menschlich“, sagt Ramy, als ich ihn in seiner Ein-Zimmer-Wohnung mit Boxsack und Wänden voller Fotos mit Freunden besuche. „Es ist nicht so, dass meine Texte besser sind als die der anderen, es ist auch eigentlich Nebensache, wer die Parolen schreit, ich bin nicht besonders gut in irgendwas, aber ich habe kein Problem voll und ganz bei einer Sache zu sein.“ Er wohnt seit ein paar Monaten hier, unterstützt vom Jobcenter, weil seine Mutter ihn dreimal rausgeschmissen hat. Ramy hatte bereits mit 12 Jahren einen Kulturschock, als er mit seiner deutschen Mutter und seinem Bruder von der nordägyptischen Wüste nach Berlin übersiedelte: Hier schienen nur Markenklamotten zu zählen. Aber die militärische schulische Erziehung samt Schlägen war vorbei. Er erzählt: „Die Gefühle von ägyptischen Kindern werden jeden Tag ziemlich kaputtgemacht. Die Kinder sollen von Geburt an daran gewöhnt werden, Draufgänger zu sein: für ihr Land draufzugehen, ein Soldat zu werden.“

Aber nicht nur Härte hat er in Ägypten erlebt, auch, was Armut heißt. Er erinnert sich daran, dass seine Tante, bei deren Familie er einige Zeit in Kairo lebte, einmal vor dem leeren Kühlschrank mit Tränen in den Augen stand. „Ich weiß nicht, was ich kochen soll“, sagte sie. „Wieso tun sich die Menschen immer nur in schwierigen Zeiten zusammen?“, fragt Ramy mich. Und er schenkt mir eine Tüte Kürbiskerne und eine Honigstange, echt ägyptisch, die er in einer Schrankschublade aufbewahrt.

Die ägyptische Revolution wird jetzt als „Facebook Revolution“ bezeichnet, weil viele Demo-Aufrufe zunächst über Facebook, insbesondere über den Account des Aktivisten und Google-Mitarbeiters Wael Ghonim liefen. Er war zu Beginn der Proteste verhaftet und zwölf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Als er nach zwölf Tagen freikam, gab er dem arabischen Sender Dream TV ein emotionales Interview, dass die Proteste weiter anfeuerte, inbesondere, weil er sehr so enttäuscht davon war, dass das Regime seine Familie nicht über seinen Verbleib informiert hatte. Vielleicht sollte man besser von einer Revolution von Menschen für Menschen sprechen, so wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek und der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan: Sie betonen das Universelle an den Protesten. Wer mag überhaupt von einer Facebook-Revolution sprechen, wenn das Netz mehr als fünf Tage lang durch die ägyptische Regierung gesperrt war? Wie die portugiesische Zeitung Publicó am 14. Februar schrieb: Die Dekade, die am 11.9.2001 anfing, ging am 11.2.2011 zu Ende. Die arabischen Bürger, oder Bald-Bürger, wenn sie in ein paar Monaten frei wählen dürfen, haben ein Jahrzehnt der globalen Stagnation beendet. Danke, liebe Ägypter!

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„Frohe Weihnachten, maradonianischer Bruder!“ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/%e2%80%9efrohe-weihnachten-maradonianischer-bruder%e2%80%9c/ Mon, 13 Dec 2010 10:58:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3387

Hochzeit am Weihnachtsabend: Die Paare versprechen, männlichen Nachwuchs mit zweitem Namen Diego zu nennen.

Ich feiere jedes Jahr zweimal Weihnachten. Das erste Mal Ende Oktober mit der maradonianischen Kirche: Am 30. Oktober wurde Diego Armando Maradona geboren, Jesus und Erlöser vieler argentinischer Fußballfans. Die zweite Feier ist am 24. Dezember, dem Geburtstag des herkömmlichen Jesus.

Eigentlich war alles zunächst nur ein Scherz: „Frohe Weihnachten“, sagte Hernán Amez einmal an einem 30. Oktober zu seinem Freund Alejandro Verón am Telefon. „Weihnachten?“ fragte Alejandro. „Na, überleg mal, wer hat heute Geburtstag?“, sagte Hernán, wie Alejandro Sportreporter im lokalen Radio. Alejandro verstand: „Frohe Weihnachten, maradonianischer Bruder!“ Die Freunde gründeten die Iglesia Maradoniana. Sie besorgten Messwein, beteten das erste „Diego unser“ und legten die zehn Gebote der Maradonianischen Kirche fest. Seitdem singen die Jünger jedes Jahr wieder das „Ave Diego“, kleben das Gesicht Maradonas auf Christbaumkugeln, essen Pizza und trinken Bier.

„Ziel der Iglesia Maradoniana ist es, Maradona zu ehren und seine Wunder zu verkünden. Wir wollen nicht, dass ihm erst gehuldigt wird, wenn er tot ist“, erklärte Alejandro Verón, als ich die Maradonianer zum ersten Mal besuchte. „Wir sind fast alle katholisch. Der christliche Gott ist für uns der Gott des Verstandes, Diego ist der Gott der Herzen.“ Das beste Beispiel dafür sei seine Schwester Jaquelin. Sie hat drei Mal geheiratet, standesamtlich, kirchlich, maradonianisch. Jaquelin und ihr Mann Mauricio schworen sich in einem Stadion die Treue, legten dazu die Hände auf einen Ball und lasen aus der maradonianischen Bibel.

Wer denkt, er kann dem Weihnachtsterror entfliehen, wenn er auf die Südhalbkugel reist, täuscht sich

Mein zweites Weihnachtsfest findet am 24. Dezember statt und ist wesentlich weniger exotisch. Denn die meisten Weihachtstraditionen in Argentinien stammen von den Einwanderen aus Europa. Obwohl sie eigentlich nicht zur Jahreszeit und zum Kontinent passen: Auf der Südhalbkugel ist im Dezember Hochsommer. Trotzdem sieht man überall Kunstschnee auf Kunsttannen bei 35 Grad, es gibt schweres Essen (kann auch eine Weihnachtsgans sein), hört Weihnachtslieder mit Textzeilen, in denen schneit, vor den Einkaufszentren leiden Weihnachtsmänner unter ihren roten Sauna-Mäntelchen. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Trotzdem legt man in katholischen Familien die Geschenke unter den geschmückten Baum (im Nordwesten Argentiniens habe ich mangels Nadelbäumen auch schon mit Lametta behängte Kakteen gesehen). Und tut um Mitternacht so, als sei schon Silvester: Es gibt Sekt und überall donnern die Böller. Das Programm an Silvester ist übrigens sehr ähnlich: Essen mit der Familie. Sekt und Böller um Mitternacht.

PS: Es soll Touristen geben, die in ihrem Reiseführer die Maradonianische Kirche suchen und schwer enttäuscht sind, weil sie keine Adresse finden. Achtung, Missverständnisalarm! Die Maradonianische Kirche ist kein Gebäude aus Stein und Mörtel. Sie ist ein Zusammenschluss enthusiastischer Fans. Nicht mehr – aber auch nicht weniger!

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Reisefahrplan http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/reisefahrplan/ Wed, 08 Dec 2010 19:07:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3371 Vom Bett aus sieht man, wie der Raureif der Morgenstunden das Glas der Fensterscheibe des Zimmers liebkost. Der Schnee möchte herein kommen, um Hallo zu sagen, nur die Wärme der Heizung hält ihn davon ab. Ich habe kaum mehr als vier Stunden geschlafen. Lust aufzustehen, habe ich nicht besonders, aber ohne Visum im Pass wäre alles komplizierter. Die zehn Schritte bis zum Bad, die Zahnbürste und Zahnpasta, ein schnelles Zähneputzen, das Gefühl von Sauberkeit bringen mich dazu, unter die Dusche zu springen und auf diese Weise das Gefühl der Verzückung zu verlängern und die Gerüche von gestern abzustreifen. Eines feindseligen Gestern. Zusammen mit einem guten Lied, um den Tag zu beginnen und das erste Glas Wasser zu trinken. Gedanken verwandeln sich in Aktion. Aus dem Bett steigen, die Schritte, Bugge Wesseltoft mit It’s snowing on my piano, die Dusche, das Handtuch, das Wasser: die Ruhe der kleinen Dinge, die die Seele besänftigen.

Andares.

Die Uhr hingegen kennt keine Ruhe und zeigt an, dass eine halbe Stunde vergangen ist. Du hast 15 Minuten länger für etwas gebraucht, was du in zehn Minuten hättest erledigen sollen. Es ist kein Kaffee da. Beeil dich! Zieh dir die schönste Hose zum schönsten Hemd an, Schal und Mantel. Man muss einen guten Eindruck machen. Vergiss nicht, die Unterlagen mitzunehmen, die du gestern vorbereitet hast und vergewissere dich noch einmal, dass sie vollständig sind. Lauf schnell die Treppen hinunter, aber stolpere nicht, das ist kein Moment für Unfälle. Kalte Luft. Die Schritte versinken im Schnee; hoffentlich vergessen sie nicht, die Kieselsteinchen zu streuen, die uns vor dem ständigen Ausrutschen schützen. Habe ich wohl alle Unterlagen? Die U-Bahnstation ist keine fünf Minuten entfernt. Durch Neukölln zu laufen hat seinen Reiz. Auf seinen Straßen flaniert ein besiegter Surrealismus umher, der mich zur Rebellion einlädt. Neukölln stellt seinen messerscharfen Barockismus zur Schau.

Um acht Uhr morgen hat der türkische Bäcker an der Ecke Selchower Straße schon ein paar Bewohner. Mit eingespieltem Hallo nehme ich lächelnd meinen Kaffee entgegen und gehe schnell in Richtung Herrmannstraße weiter. Hundert Meter weiter, einmal links abgebogen, und ich bin schon auf dem U-Bahnhof. Der Zug kommt in zwei Minuten. Wenn du mit der U-Bahn fährst, siehst du die Stadt anders, du siehst sie in dem Blick ihrer Fahrgäste, im Hin- und Herwanken ihrer Körper, einer gegen den anderen. Du siehst sie in dem Kontrolleur der BVG, in dem Schwarzfahrer, in dem Mädchen auf dem Weg zur Universität, dem elegant gekleideten Typen und dem Haufen Seelen, die sich nicht mehr an den Toren zum Fegefeuer drängeln, sondern an der automatischen Waggontür der U-Bahn. An der Osloer Straße steige ich in die U 9 um, fahre bis zur Amrumer Straße, zwei Stationen und fast bin ich da. Ein Schild kündigt die Nähe meines Ziels an: Ausländerbehörde nach rechts.

Das Gebäude ist nicht einladend, aber es führt kein Weg daran vorbei. Trotz allem bin ich 13 Minuten zu früh da, so dass ich den richtigen Raum in Ruhe suchen kann. Ich orientiere mich an den kleinen Lageplänen, die mir anzeigen, wo ich hin muss. Zweiter Stock nach rechts. Ich setze ich mich in das erste Wartezimmer auf der linken Seite und warte darauf, dass auf der Anzeigentafel meine Nummer aufleuchtet. Zum Glück habe ich einen Termin, zwei Monate habe ich auf ihn warten müssen. Ich ziehe das Buch, was gerade an der Reihe ist, aus meiner Tasche. Heute ist die tausendfach wieder gelesene Gedichtanthologie von Mario Benedetti dran. Ich schlage es irgendwo auf und Benedetti entlockt mir ein Lächeln: Er bittet mich, mich nicht zu retten. Als wäre es so einfach…

Ein Mann, der zwischen 30 und 35 Jahren alt sein muss, kommt auf mich zu. Er fragt mich, ob er hier für B richtig ist, ich bejahe und er setzt sich neben mich. Und wo kommst du her? – fragt er mich. Aus Kuba – sage ich. Oh, Kuba! Che Guevara… er versucht ein Grinsen. Ein schönes Land – fügt er hinzu. Ich glaubte nicht, nervös zu gucken. Doch mein Gesicht scheint das Gegenteil auszudrücken, denn mein neuer Freund führt fort: Mach dir keine Sorgen, Kubanern geben sie sicher ein Visum. Ich komme aus dem Libanon, mich lassen sie länger schwitzen.

Ein Geräusch teilt mir mit, dass eine neue Nummer aufgerufen wird. Meine. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und gehe auf die Tür mit der Nummer 264 zu. Benedetti hämmert mir weiterhin ein, mich nicht zu retten, mich nicht mit einem glücklichen Plätzchen auf der Erde zu begnügen. Ich kontrolliere meine Wut. Klopfe an die Tür und trete ein.

Übersetzung: Anne Becker

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Los Superdemokraticos trifft Latinale in Berlin http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/los-superdemokraticos-trifft-latinale-in-berlin/ Mon, 08 Nov 2010 12:00:06 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3181 los superdemokraticos gehen raus aus dem netz und betreten die echtzeit!

wir kooperieren mit dem lateinamerikanischen mobilen poesiefestival, latinale, und laden ein zu zwei veranstaltungen:

montag, 8.11., 20 uhr: literarischer battle zwischen latinale-dichtern und berliner dichterinnen und dichtern, froschkönig, weisestr. 17, berlin-neukölln. es moderieren die übersetzerinnen anne becker und barbara buxbaum.

dienstag, 9.11.,19 uhr: dichter und blogger: eine neue kulturelle identität im netz? podiumsdiskussion im ibero-amerikanischen institut, 19 uhr. es diskutieren lina meruane (chile), alan mills (guatemala), ezequiel zaidenwerg (argentinien) und rené hamann (deutschland). rery maldonado (los superdemokraticos) moderiert. konsekutivübersetzung von johanna richter.

eintritte frei! beide veranstaltungen zweisprachig.

wir freuen uns auf euch, hasta pronto!

saludos superdemokraticos, rery y nikola

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Eine Auftakt- und Abschiedsnacht http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/eine-auftakt-und-abschiedsnacht/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/eine-auftakt-und-abschiedsnacht/#comments Fri, 22 Oct 2010 11:27:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3071 Ich werde die Geschichte eines Sängers erzählen: mein Leben als Superdemokrat ist eine Episode von Californication. Ich lebe, als gäbe es keinen Almanach. Als ich anfing für das Blog zu schreiben, war mein Herz eine Postkarte aus Idaho. Im Laufe der Zeit ist mir der Vergnügungspark kaputt gegangen: mein Laptop in den Arsch gegangen. HP kidnappte ihn für mehrere Wochen. Und das verspätete Einreichen der Texte machte meine Übersetzerin verrückt und auch Rery, die die Chefin spielen musste und mir drohte: Eh, Früchtchen, wenn du nicht spurst, wird es keine Transvestis mehr für dich geben, wenn du nach Berlin kommst. In dem Moment klingelten die Alarmglocken. Ich schrieb mehr oder weniger ein paar Texte, die sie lahm fand, aber andere gefielen ihr dann doch. Auch wenn sie meinen Punktstand auf der Anzeigetafel manchmal nach unten korrigierte, kann ich bezeugen, dass es unentschieden steht. Abgesehen von meinem achtstündigen Bürojob fraßen mich die Abgabetermine für die Berichte für das Stipendium, was ich bekomme, um den Erzählband Bekenntnisse eines Verkäufers von frittiertem Hühnchen zu schreiben, regelrecht auf. Des weiteren sei hinzugefügt, dass ich in diesem Zeitraum einen Umzug durchlitt. Mein Schreibtisch blieb in der alten Wohnung und es war sehr unbequem, an einem Tischchen zu schreiben, an dem ich mich so verrenken musste, als würde ich die ganze Zeit Jauche aus einer tiefen Grube empor holen. Und als Sahnehäubchen gab es dann auch noch die Korrekturfahnen meines neuen Buches La marana negra de la literatura rosa (Die schwarze Sau der rosa Literatur) zur Durchsicht, welches, morgen, Donnerstag erscheint. Und weil auch nie ein Extra fehlt, war Anfang Oktober Fernando Vallejo in meiner Stadt zu Besuch, um einen Vortrag zu halten, und ich war der Verantwortliche der ganzen Sache.

Vallejo betrat Coahuila und alles lief aus dem Ruder. Während dessen war ich damit beschäftigt, die Fragen eines chilenischen Mädel für ein Buch über das Romanfestival in Barcelona, wo ich mich gerade befinde, zu beantworten. Die Nacht, in der Fernando den Norden besuchte, ging ich mit ein paar Freunden in ein Café und um 9 Uhr abends betraten vier Typen den Laden und exekutierten eine Person. Wir hörten die Schüsse und schmissen uns zu Boden. Neben mir lag Edgar, mein super brother. Ich fragte ihn, ob er o. k. wäre und ich erhielt keine Antwort. Ich finde keine Worte, um die Leere zu beschreiben, die sich in mir ausbreitete. Zu meinem Glück hatte er sich mit einer Flasche geschnitten und obwohl er wie wahnsinnig blutete, hatte ihn keine verirrte Kugel getroffen.

All das passierte in den Monaten, in denen ich das Angebot annahm, Teil der Belegschaft der Superdemokraten zu sein.

Barcelona, Spanien, 10. Oktober 2010

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Ontbijtjes http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ontbijtjes/ Thu, 21 Oct 2010 13:23:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2671

29a Bienal SP © Sabine Scho

Zurück am Schreibtisch in São Paulo, den Blick auf die Sendemasten der Avenida Paulista gerichtet, der Verkehr rauscht, Kinos in Laufnähe, den Ibirapuerapark mit der Biennale vor der Tür. Ein privilegiertes Leben und doch ein wenig lost in Translation und im falschen Film, aber, was solls, was schadet schon das Wandern, wenn Romulo Froes nicht weniger schön als David Bowie Lieder von einer jedweden Odyssee zwischen Bangkok und Calgary zu komponieren weiß.

Ich kann eigentlich nur Melancholie, was soll ich auch anderes zu Wege bringen, wenn mich einsame Langstreckenläufer oder frühe zu Bett Gänger, oder eigenschaftslose Männer, die sich ein Jahr Urlaub von ihrem Leben nehmen, also kurz gesagt, Protagonisten, die nichts beherzt angehen, sondern sich treiben lassen, für sich einnehmen?

Müßiggänger, erdacht von Menschen, die wohl alles andere als das waren, sondern unermüdlich an abgelehnten Habilitationen schrieben, mit der immer wieder enttäuschten Hoffnung auf Arbeit, die endlich mal ein angemessenes Auskommen hätte gewähren können, und die ihrer Berliner Kindheit nachsannen: Wie sie dem Fischotter zusahen, der im Dunkel des Teichs verschwand, wie sie in der Dämmerung dem verhaltenen Knall beim Entzünden der Gaslaterne lauschten, wie sie das Telefon und damit die Geschäftigkeit der Kontrakte machenden Welt in ihre Verstecke einbrachen sahen, wie sie ihren Blick immer rückwärts richteten und ein Sturm vom Paradies sie mit dem Rücken in die Zukunft blies.

Und nicht viel mehr wünsche ich mir von Dichtern heute, als dass sie wie Wolfgang Herrndorf schreiben: „Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.”

Es ist die Knipserin in mir, die sich diesen Stillstand wünscht, einen freeze frame, die nach einem Eishockeyspiel, wie der Kupferstecher die Radierung von der Platte, die Zufallsgrafik der Kufen vom Eisfeld nehmen möchte und darin Sieg und Niederlage nicht anders deuten könnte, als ein Falkner die Himmelsspur seines Raubvogels. Bilder, aus denen die Motive längst entschwunden sind. Vielleicht, weil ich mich noch nie zur rechten Zeit am rechten Ort wähnte und mich nie wirklich nah genug heran wagte, um mit Robert Capa sagen zu wollen: If your photographs aren’t good enough, you are not close enough.

Ich war immer erst zur Stelle, wenn das Konzert schon begonnen hatte und die Party schon abgefrühstückt war. Vielleicht daher auch der Wunsch, die Welt wie ein Ontbijtje zu lesen, ein Barockstilleben, dass mehr noch von einem Zuspätkommen als einer Stellvertretung der Menschen erzählt, und vielleicht auch daher die Melancholie, die ihre autosentimentalen Geschichten nie aus der Gegenwart schöpft, sondern etwa aus einem Regentag in einem Hamburger Fahrradladen, in dem sie einmal selbstvergessen stand, um sich ein Bild zu machen für ihr Album:

tagessieger

ich sah euch alle wanken a. rimbaud

contre la morte im wiegetritt
im frühjahr vielleicht
durch den rahmen bläst es
gischt und schaum in dolden
wenn winde gehen, segeln
fallen die treidler zurück
können nicht mehr folgen
treiben auf den planken
ihrer leicht gebauten räder
gemartert wie an bunten pfählen
gejohle um sich her, kurbeln
wie verrückt, mit nach innen
verlegten zügen, ein sehnen-
relief aus gliedern, und einem
geharnischten blick

ihr treibgut bin ich
verkapselte strapaze
pochen in den schläfen
reißen in den beinen
ich trete auf der stelle
die bilder lernen laufen
praxinoscoper reigen
ohne ende, die ankunft
auf die schnelle
muss enttäuschen
die knie schmerzen
schweißperlenbildend
schweigend, der narr in gelb
der den weg zum sieger kürt

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