Bürger – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Saftig glänzender Humus http://superdemokraticos.com/themen/burger/saftig-glanzender-humus/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/saftig-glanzender-humus/#comments Wed, 01 Jun 2011 16:55:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3880 Spanien durchlebt eine Zeit der sozialen Bewegungen, der Veränderung und der Unruhen, die das Land zwingen, in die Zukunft zu schauen. Umwelt, Wirtschaft und Kulturen werden plötzlich zusammengedacht.

Dieses Foto, das ich während einer Demonstration gemacht habe, halte ich für symbolisch. Neben dem Plakat ("Ihr repräsentiert uns nicht, ihr nennt es Demokratie und das ist es nicht") sieht man im Hintergrund das Rathaus von Saragossa.

Der Dichter Antonio Gamoneda schuf die Grundlage für das Verständnis der derzeitigen intellektuellen Evolution Spaniens. Sein Werk zählt zu der erlesensten Poesie, die in Europa in den letzten 50 Jahren verfasst wurde, und er verfasste einige Verse, die nahezu perfekt das widerspiegeln, was die spanische Gesellschaft derzeit durchlebt – wenn wir uns mit subtiler Eleganz des rhetorischen Stilmittels der Hyperbel bedienen:

Es werden bald neunzehn Jahre sein,/ die ich meinem Herrn diene./ Seit neunzehn Jahren gibt er mir zu essen,/ und noch immer konnte ich sein Gesicht nicht sehen/ (…)/ Es werden bald neunzehn Jahre sein,/ in denen ich mein Haus verlasse und durch die Kälte gehe,/bis ich sein Haus betrete und er mir ein Licht,/ ein gelbes, auf den Kopf stellt.

Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht „Blues del amo“ und zweifelsfrei lässt sich feststellen, dass es sich bei diesem „Herren“ um die Wirtschaft handelt, die sich das Land mit fünf Millionen Arbeitslosen (und davon sind 40 Prozent junge Menschen mit Hochschulabschluss) und einem kollabierten Banken-System hält, in das der spanische Staat 4 Prozent des BIP investieren musste, um die Wirtschaftseinheiten „zu retten“, und die schlussendlich auch die generelle Unzufriedenheit über die Nutzung von Atomstrom verursacht hat. Letzten März gab es eine Großdemonstration für die Schließung von sechs der zehn Atomkraftwerke, die derzeit in Spanien am Netz sind.

Die Katastrophe von Fukushima versetzte soziale Bewegungen in aller Welt in Alarmbereitschaft. Im Falle Spaniens waren die Proteste gegen die unheilbringende Kernkraft als Energiequelle nicht ganz so massiv wie in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Dennoch sind sie zum Teil der Auslöser für eine Reihe von Kundgebungen, die im öffentlichen Raum und auf der Straße stattfinden werden, bei denen im Grunde genommen das gesamte politische Handeln des Landes in Frage gestellt wird. Am 22. Mai fanden Kommunal- und Regionalwahlen statt. Mit einer Stimmenenthaltung von 33 Prozent der Wahlberechtigten übernahm die Partido Popular (PP) in 14 von 17 Provinzen der politischen Landschaft Spaniens die Macht. Dieser massive Sieg der rechtsgerichteten Partei repräsentiert nur 22 Prozent der Wählerschaft, was etwa 8 Millionen Menschen entspricht.

Spanien hat 46 Millionen Einwohner. Addiert man die Zahl der Wähler, die den Sieg der PP verursacht haben, mit der Zahl der Arbeitslosen, ist das Ergebnis immer noch niedriger als die Zahl der Menschen, die letzten Sonntag nicht zur Wahl gegangen sind. Dies führt mich erneut zu den Versen von Gamoneda. Irgendetwas ist dieses Mal passiert. Die politische Stimme, die sich bei der Wahl enthalten hat, manifestierte sich auf einer anderen Ebene. Sie bevölkerte die öffentlichen Plätze der meisten spanischen Städte, um dort „zu campieren“ und auf massive Weise dafür zu plädieren, das traditionelle Zweiparteien-System, welches das politische Leben des Landes bestimmt, abzuschaffen und drastische wirtschaftspolitische Veränderungen vorzunehmen. Denn die derzeitige wirtschaftliche Lage erinnert viele Menschen an die enormen Mängel unter Franco. Unter dem Namen „15-M“ (Bewegung 15M) haben verschiedene soziale Bewegungen gemeinsame Aktionen einberufen. Getragen von sozialen Netzwerken entschied dieses Aktionsbündnis, am 15. Mai von seinem Bürgerrecht Gebrauch zu machen und das System zu erschüttern. An diesem Tag bauten tausende junger Spanier ihre Protestcamps rund um die U-Bahn Station „Sol“, im Herzen Madrids, auf und setzten diese Aktion in den wichtigsten Städten Spaniens fort.

Das Bündnis, das die Proteste initiierte, trägt den Namen Democracia Real Ya (Echte Demokratie Jetzt). Es gründete sich vor drei Monaten und entstand aus sozialen Netzwerken wie Facebook. Es definiert sich als parteilos, gewaltfrei und umweltbewusst, und absolut nicht einverstanden mit dem aktuellen politischen System und der spanischen Wirtschaft. Es finanziert sich hauptsächlich aus Spenden und verwaltet sich selbst; außerdem beabsichtigt es, eine Bewegung zu werden, weniger kurzlebig als die Studentenproteste und Unibesetzungen Ende 2008/Anfang 2009 gegen die Bologna-Reformen. Die neuen Protestierenden wollen drastische Veränderungen erzielen, planen für den kommenden Sommer Massenveranstaltungen und betreuen eine sehr gut besuchte Webseite. Die ersten Auswirkung ist der radikale Zerfall der Linken, da diese sich großteils aus der Wählerschaft zusammengesetzt hatte, die nun Democracia Real Ya und andere soziale Bewegungen unterstützt. Die Partido Socialista Obrero Español, PSOE, (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) ist dieser Veränderung als erste zum Opfer gefallen: Sie erlitt einen massiven und historischen Verlust und regiert nun nur noch in einer einzigen Provinz, Asturien. Auch der amtierende Präsident und Mitglied dieser Koalition José Luis Rodríguez Zapatero, der sich in der linken Mitte verortet, hat diese schwierige Situation als „Schach Matt” anerkannt.

Zu diesem Thema existiert auch eine soziologische Debatte, bei der die Intellektuellen sich nicht einig werden können, ob wir kurz vor einer spanischen Version des „Mai 1968“ stehen oder ob es sich nur um eine vorübergehende Phase der sozialer Unzufriedenheit handelt. Einig sind sie sich nur darin, die Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit dieser Aktionen zu betonen. Aktionen, die ich als ausländischer Mitbürger, der seit vielen Jahren in diesem widersprüchlichen und gleichzeitig faszinierenden Land lebt, noch nie gesehen habe. Die spanische Lebensweise, die sich mit Sinnlichkeit der Glut des mediterranen Leben und den Fiestas widmet, spielt gewöhnlicherweise in Unzufriedenheitsbekundungen keine Hauptrolle und demonstriert auch nicht übermäßig viel – ganz im Gegensatz zu den lateinamerikanischen Ländern, die auf eine lange Tradition von organisierten und teilweise auch dramatischen Demonstrationen zurückblicken können und ausreichend Erfahrung darin haben, den politischen Mächten gewaltsam entgegenzutreten. Der Konformismus, der bei vielen noch aus den Jahren des wirtschaftlichen Wohlstands der 1990er Jahre herrührt, in denen eine starke und im akademischen Sinn sehr gut ausgebildete Mittelschicht entstand, verwässerte teilweise die Einstellung der Protestler.

Georges Bataille reflektierte auf seine meisterhafte Art in seiner Essaysammlung „La Literatura y el Mal“ (Die Literatur und das Böse) darüber, ob revolutionäre Zeiten den Bereichen Kunst und Literatur nicht mehr Glanz verleihen müssten. Die sozialen Bewegungen und die Presse werden dauerhaft im Konflikt stehen, was in letzter Instanz die Entstehung der Kunst beeinflussen wird. Bataille konstatiert, dass die Französische Revolution nicht unmittelbar eine Generation herausragender Literaten hervorgebracht hat. Er sieht im Marquis de Sade einen der großen Autoren der Revolution, auch trotz der Tatsache, dass dieser zur jakobinischen Wertvorstellung der brandneuen französischen Nation absolut keinen Bezug hatte. Bataille möchte damit den rebellischen Charakter von Literatur betonen, in der die Vorstellung von Gut und Böse so verworren ist, sich sogar mischen und hybride werden, dass es schwierig scheint, in Kategorien wie moralisch und unmoralisch zu urteilen. In dieser Epoche und zweifelsfrei auch heute wieder ist zu sehen, dass der Konflikt zwischen Gut und Böse im Konflikt mit der Macht gipfelt, in der Art und Weise wie die Verlagerung der Energie stattfindet, von der Michel Foucault später sprach. Die Macht ist überall und fließt. Sie verbreitet Information durch die Presse, über Internet-Seiten oder Facebook. Gedichte und Essays, die über die soziale Unruhen verfasst werden, vermitteln etwas von der Gier nach Macht, aber auch von dem Drang, gegen sie anzukämpfen. Bataille spricht von Grenzerfahrungen der Kreativität unter dem Schutz der sozialen Veränderungen, insbesondere seinen Essays über de Sade, Blake, Baudelaire oder Kafka. Der Humus, der aus diesen Grenzerfahrungen gewonnen wird, ist der Humus der sozialen Veränderungen und der ästhetischen Radikalisierung.

Was gerade in Spanien passiert, entstand meiner Meinung nach genau auf diesem Nährboden und wird sich in Zukunft davon ernähren. In Krisenzeiten fragen wir nach Identität. Ich denke etwa an die Schriftsteller und Intellektuellen, die je unterschiedliche Beiträge geleistet haben und dennoch alle in der kosmopolitischen Avantgarde und der subversiven und hinterfragenden Dynamik vereint sind. Ich denke an Paul Celan, Edward Said, David Foster Wallace oder Robert Bolaño. Trotz ihrer extrem unterschiedlichen Werke und den definierten Rollen innerhalb des imaginären westlichen Kollektivs, haben sie erreicht, dass viele von uns Identität als ein Perpetu-Transito, als ewiges Pendeln zwischen Erinnerung, Traum, Lektüre und direkter Realität denken. Ich würde gerne die aktuellen Proteste als saftig glänzenden Humus sehen, damit daraus jene Persönlichkeiten sprießen können, die in der Lage sind, die Realität in Frage zu stellen und auf der Idee des Neuen zu bestehen, auf ästhetische Geschwindigkeiten, die unser Leben lenken und uns zu tadellosen Bürgern machen können.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Bitte seid achtsam http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-seid-achtsam/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-seid-achtsam/#comments Sun, 01 May 2011 11:54:11 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3650

Foto: Rery Maldonado

Diesen Monat beschäftigt sich LSD in  Texten, Fotos und Cartoons mit Energie, Ressourcen und dem aktuellen Umgang mit Atomenergie weltweit. Eine Einführung.

Die Welt starrte mit offenem Mund auf die Bilder der Zerstörung. Immer und immer wieder sah man das wütende Meer die japanische Küste angreifen. Man sah die bebende Erde, die aufgerissenen Häuser, den Rauch des Atomkraftwerks und die Angst in den Gesichtern der Menschen. Wir alle wussten, dass so etwas passieren könnte. Das ist die größte Angst, die wir haben, wenn wir in der Nähe von einem der 486 Kernkraftwerke wohnen, die über den Planeten verteilt sind. Und die Medien machen seitdem nichts anderes, als uns mit Live-Bildern von einem unserer schlimmsten Albträume zu bombardieren.

Ein gläubiger Mensch schrieb einst, Gottes Wege sind unergründlich. Abgesehen vom menschlichen Unvermögen, hatten wir als Menschen bei der Katastrophe von Fukushima absolut keine Möglichkeit einzugreifen. Was kann man auch gegen die tobende Natur tun? Vor ihr kann uns nichts bewahren, noch nie hat uns etwas bewahren können. Wenn die Elemente ihr Gebrüll erheben, fallen wir zurück auf die Stufe von höchst entwickelten Affen, wobei wir der Intelligenz einen größeren Wert zuschreiben, als etwa Flügel oder Reißzähne oder einen Panzer zu besitzen, Dinge, die uns möglicherweise vielleicht wesentlich besser schützen könnten, als unsere empfindliche Haut der unergründlichen Abwege.

Der Hochmut wurde zum Symbol des Fortschritts. Wenn wir den Banken glauben schenken, welche mit unserer Zukunft Spekulationen betreiben, ist die Modernität ein einheitliche Entität, trotz aller Märchen, die wir Menschen erfunden haben, trotz aller Hymnen und Fahnen. Die vergifteten Fische, auf die mehr als 11.600 Tonnen kontaminiertes Wasser geflossen ist, fragt niemand, ob sie Japaner sind; wenn wir über Globalisierung sprechen, denken wir in erster Linie an die Wirtschaft. Es gehört einfach zu den Rechten und Pflichten des Bürgers der Welt, auch in dem kleinsten Dorf irgendwo in den Anden eine Coca Cola trinken zu können.

In Europa ist Italien das einzige Industrieland, das ohne Atomkraftwerke auskommt. Der benötigte Strom, der nicht im Land produziert werden kann, wird laut dem spanischen Atomindustrieforum aus anderen Ländern wie Frankreich bezogen. Gleichzeitig ist Frankreich aber auch das Land, das sich am entschiedensten für diese Art der Stromgewinnung ausspricht. In Deutschland lehnt praktisch die gesamte Bevölkerung Atomenergie ab, dennoch sieht es in Wahrheit so aus, dass die Unternehmen, die Atomstrom produzieren, die meisten Kunden haben, da sie die günstigsten sind. In Spanien hat das Ausmaß der Wirtschaftskrise erreicht, dass es nur einigen wenigen Menschen in den Sinn kommt, die Vorteile des Atomstroms für die Industrie ernsthaft in Frage zu stellen. In Chile passiert genau das Gleiche. Unter den Bildern über Fukushima ging in Deutschland die Nachricht vom Besuch Obamas in Chile und die Unterzeichnung des Pakts zur nuklearen Zusammenarbeit praktisch unter.

Im Gegenteil zu Europa verfügen die meisten Länder Lateinamerikas nicht über Atomkraftwerke. Im Vergleich sind es genau diese weniger entwickelten Länder, die die größten Flächen unberührter Natur und zudem Artenvielfalt vorweisen können. Auch menschliche Artenvielfalt. Allein in Bolivien leben 36 Nationen mit ihren jeweils eigenen Sprachen und Wertesystemen zusammen. Die Industrialisierung und damit das, was von der Welt übrig bleibt, mit Straßen zu zupflastern, Häuser zu bauen und uns mit dem gleichen ignoranten Instinkt zu „zivilisieren“ oder die gleiche Vision des eindimensionalen Fortschritts unserer Vorfahren, kann keine Alternative sein. Allein die Tatsache, dass die CDU einen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2020 unterstützt, bringt mich ins Grübeln. Ich traue ihnen so einen schnellen und kategorischen Ausstieg nicht zu, es kommt mir einfach verdächtig vor. Vor einigen Wochen besuchte ich eine Lesung von Dominic Johnson, dem Afrika-Redakteur der taz, bei der er sein Buch „Afrika vor dem großen Sprung“ vorstellte. Der einzige Schwarze im Publikum fragte ihn, warum er die weißen Afrikaner, auch wenn sie Mulatten sind, wie eine dem Autor fremde Ethnie, als „die Weißen“ bezeichne, als wären diese Eliten anders, denn das sind sie nicht. In der Frage glaubte ich diese Feststellung herauszuhören und in der verwirrten Antwort des Autors, einem netten Typ, der barfuß herumläuft, zu verstehen, dass es gelegentlich schwer ist, sich als Kollektiv im Spiegel zu sehen, sich in die Lage des Mitmenschen zu versetzen und die familiären Bande in den sozialen Strukturen zu übernehmen.

Und wenn die Lösung für ein angenehmes Leben daraus bestünde, mit den Dingen, sie wir jetzt haben, ein Nachhaltigkeit zu erreichen? Darin, unsere Umwelt menschlicher zu machen und zusammenzuarbeiten, damit sie nicht noch mehr auseinanderbricht oder noch weiter zerstört wird. Aufzuhören nur in uns selbst zu investieren und statt dessen uns der Verantwortung zu stellen, dass wir andere Völker geplündert haben, ihnen die Vorstellung eines Fortschritts aufgezwungen haben, der lediglich auf nicht nachhaltigen Wirtschaftswachstum und auf Egoismus basiert, mit dem wir unsere Wissenschaft verwalten. Wie es scheint, ist der wohl wichtigste Beitrag der Indigenisten zur neuen politischen Verfassung des Plurinationalen Staats Bolivien, in unseren vier offiziellen Landessprachen, das Konzept des „Vivir Bien“, des guten, harmonischen und vielfältigen Zusammenlebens mit der Natur (Anm. d. Ü.).

In Artikel 8 der CPE, der politischen Verfassung des Staates, wurde festgelegt: „Folgende Prämissen werden als moralisch, ethnische Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft vom Staat vorausgesetzt und angestrebt: ama qhilla, ama llulla, ama suwa (sei nicht faul, sei nicht verlogen, sei auch kein Dieb), suma qamaña (gut leben), ñandereko (harmonisches Leben), teko kavi (gutes Leben), ivi maraei (Land ohne Übel) y qhapaj ñan (Weg oder edles Leben)“.

Auch wenn die 25 Postulate des „Vivir Bien“ offensichtlich sehr einfach gehalten sind, sind sie dennoch schwer zu verstehen. Für die Westlichen oder die westlich Zivilisierten oder die Blankoiden würde es bedeuten, eine Art buddhistische Haltung anzunehmen. Es handle sich letztendlich um Geschichten, aus denen wir lernen mit dem, was wir sind, was wir haben und mit dem, was unsere Vorfahren geschaffen haben, glücklich zu sein. Im Guten wie im Schlechten. Vermutlich macht es beim derzeitigen Zustand der Ozonschicht und in diesem Moment der globalen Klimaerwärmung keinen Sinn an das eigene Land zu denken. Im Weltraum sind wir alle ein Teil des gleichen, unbedeutenden, kleinen blauen Punktes.

Wir heißen alle herzlich willkommen zu einem neuen Jahr der Los Superdemokraticos. In diesem Monat wird unser Thema Atomenergie sein, insbesondere der Umgang mit Ressourcen, und mit Essays von verschiedenen Autorinnen und Autoren, Fotos, Videos, Cartoons präsentieren wir euch die unterschiedlichsten Visionen rund um den Nutzen und Missbrauch von Energie.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Liebe Ägypter! http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/#comments Wed, 16 Feb 2011 23:43:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3499 Ich habe vor kurzem einen besonderen jungen Mann kennengelernt. Am Brandenburger Tor in Berlin stand ein wütender Deutsch-Araber, der auf allen Berliner Demonstrationen zur Solidarität mit den Ägyptern Anti-Mubarak-Parolen ins Mikro rief, nein, besser schrie, wie ein Hiphopper ins Mikro, wie ein Shouter auf einem Fußballspiel: „Eins, zwei, drei, vier, Religion ist egal, Hand in Hand machen wir, was unser Herz uns befahl.“ Ramy Mostafa ging es um eine emotionale Politik, um seine „Familie aus 88 Millionen“ Ägyptern.

Ramy Mostafa auf einer Demo auf dem Pariser Platz, Berlin, 9. Februar 2011.

Der 18-jährige Schüler aus Neukölln, einem Berliner Stadtteil, das es meist nur wegen Arbeitslosigkeit, sozialem Elend, Jugendkriminalität, gescheiterter Integration in die Schlagzeilen schafft, hatte sich seine Haare zu einem Irokesen frisieren und das arabische Schriftzeichen für Ägypten rechts und links über die Ohren hineinrasieren lassen, damit man seine Wut auf Hosni Mubarak sehen würde, der Gewalt gegen diejenigen zugelassen hatte, die für ihre Freiheit und Rechte auf die Straße gingen. „Auf Deutsch war das Wort zu lang.“ Politisch korrekt ist er, der immer irgendwie zur Minderheit gehörte, als deutsch-arabischer Jugendlicher, der 10 Jahre in Ägypten aufwuchs. „Liebe Leute“, rief er, „liebe Nicht-Deutsche, liebe Nicht-Ägypter! Seid ihr bereit für die Show!?“ Jeden deutschen Demonstranten zählte Ramy doppelt: „Leute, die sich für so ein entferntes Land einsetzen, haben meinen gesamten Respekt verdient. Wir leben in Deutschland und ein Großteil des Publikums, Entschuldigung, der Demonstranten lebt in Deutschland. Ich bin selbst Deutscher und hab gelernt, jede Minderheit zu respektieren.“

Ramys in durchwachten Nächten selbst verfasste Reime waren leicht zu merken, daher gilt er nach den zwei Wochen, in denen er bei durchschnittlich sechs Veranstaltungen der Parolenrufer  war, als „Star“. Man grüßt ihn in den Dönerimbissen, bringt ihm Hustenbonbons mit und warnt ihn humorvoll, er solle sich an der Macht nicht berauschen, sonst würde er zu einem neuen Mubarak.

Die Gefahr ist allerdings gering: „Ich bin nicht politisch, ich bin menschlich“, sagt Ramy, als ich ihn in seiner Ein-Zimmer-Wohnung mit Boxsack und Wänden voller Fotos mit Freunden besuche. „Es ist nicht so, dass meine Texte besser sind als die der anderen, es ist auch eigentlich Nebensache, wer die Parolen schreit, ich bin nicht besonders gut in irgendwas, aber ich habe kein Problem voll und ganz bei einer Sache zu sein.“ Er wohnt seit ein paar Monaten hier, unterstützt vom Jobcenter, weil seine Mutter ihn dreimal rausgeschmissen hat. Ramy hatte bereits mit 12 Jahren einen Kulturschock, als er mit seiner deutschen Mutter und seinem Bruder von der nordägyptischen Wüste nach Berlin übersiedelte: Hier schienen nur Markenklamotten zu zählen. Aber die militärische schulische Erziehung samt Schlägen war vorbei. Er erzählt: „Die Gefühle von ägyptischen Kindern werden jeden Tag ziemlich kaputtgemacht. Die Kinder sollen von Geburt an daran gewöhnt werden, Draufgänger zu sein: für ihr Land draufzugehen, ein Soldat zu werden.“

Aber nicht nur Härte hat er in Ägypten erlebt, auch, was Armut heißt. Er erinnert sich daran, dass seine Tante, bei deren Familie er einige Zeit in Kairo lebte, einmal vor dem leeren Kühlschrank mit Tränen in den Augen stand. „Ich weiß nicht, was ich kochen soll“, sagte sie. „Wieso tun sich die Menschen immer nur in schwierigen Zeiten zusammen?“, fragt Ramy mich. Und er schenkt mir eine Tüte Kürbiskerne und eine Honigstange, echt ägyptisch, die er in einer Schrankschublade aufbewahrt.

Die ägyptische Revolution wird jetzt als „Facebook Revolution“ bezeichnet, weil viele Demo-Aufrufe zunächst über Facebook, insbesondere über den Account des Aktivisten und Google-Mitarbeiters Wael Ghonim liefen. Er war zu Beginn der Proteste verhaftet und zwölf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Als er nach zwölf Tagen freikam, gab er dem arabischen Sender Dream TV ein emotionales Interview, dass die Proteste weiter anfeuerte, inbesondere, weil er sehr so enttäuscht davon war, dass das Regime seine Familie nicht über seinen Verbleib informiert hatte. Vielleicht sollte man besser von einer Revolution von Menschen für Menschen sprechen, so wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek und der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan: Sie betonen das Universelle an den Protesten. Wer mag überhaupt von einer Facebook-Revolution sprechen, wenn das Netz mehr als fünf Tage lang durch die ägyptische Regierung gesperrt war? Wie die portugiesische Zeitung Publicó am 14. Februar schrieb: Die Dekade, die am 11.9.2001 anfing, ging am 11.2.2011 zu Ende. Die arabischen Bürger, oder Bald-Bürger, wenn sie in ein paar Monaten frei wählen dürfen, haben ein Jahrzehnt der globalen Stagnation beendet. Danke, liebe Ägypter!

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Reisefahrplan http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/reisefahrplan/ Wed, 08 Dec 2010 19:07:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3371 Vom Bett aus sieht man, wie der Raureif der Morgenstunden das Glas der Fensterscheibe des Zimmers liebkost. Der Schnee möchte herein kommen, um Hallo zu sagen, nur die Wärme der Heizung hält ihn davon ab. Ich habe kaum mehr als vier Stunden geschlafen. Lust aufzustehen, habe ich nicht besonders, aber ohne Visum im Pass wäre alles komplizierter. Die zehn Schritte bis zum Bad, die Zahnbürste und Zahnpasta, ein schnelles Zähneputzen, das Gefühl von Sauberkeit bringen mich dazu, unter die Dusche zu springen und auf diese Weise das Gefühl der Verzückung zu verlängern und die Gerüche von gestern abzustreifen. Eines feindseligen Gestern. Zusammen mit einem guten Lied, um den Tag zu beginnen und das erste Glas Wasser zu trinken. Gedanken verwandeln sich in Aktion. Aus dem Bett steigen, die Schritte, Bugge Wesseltoft mit It’s snowing on my piano, die Dusche, das Handtuch, das Wasser: die Ruhe der kleinen Dinge, die die Seele besänftigen.

Andares.

Die Uhr hingegen kennt keine Ruhe und zeigt an, dass eine halbe Stunde vergangen ist. Du hast 15 Minuten länger für etwas gebraucht, was du in zehn Minuten hättest erledigen sollen. Es ist kein Kaffee da. Beeil dich! Zieh dir die schönste Hose zum schönsten Hemd an, Schal und Mantel. Man muss einen guten Eindruck machen. Vergiss nicht, die Unterlagen mitzunehmen, die du gestern vorbereitet hast und vergewissere dich noch einmal, dass sie vollständig sind. Lauf schnell die Treppen hinunter, aber stolpere nicht, das ist kein Moment für Unfälle. Kalte Luft. Die Schritte versinken im Schnee; hoffentlich vergessen sie nicht, die Kieselsteinchen zu streuen, die uns vor dem ständigen Ausrutschen schützen. Habe ich wohl alle Unterlagen? Die U-Bahnstation ist keine fünf Minuten entfernt. Durch Neukölln zu laufen hat seinen Reiz. Auf seinen Straßen flaniert ein besiegter Surrealismus umher, der mich zur Rebellion einlädt. Neukölln stellt seinen messerscharfen Barockismus zur Schau.

Um acht Uhr morgen hat der türkische Bäcker an der Ecke Selchower Straße schon ein paar Bewohner. Mit eingespieltem Hallo nehme ich lächelnd meinen Kaffee entgegen und gehe schnell in Richtung Herrmannstraße weiter. Hundert Meter weiter, einmal links abgebogen, und ich bin schon auf dem U-Bahnhof. Der Zug kommt in zwei Minuten. Wenn du mit der U-Bahn fährst, siehst du die Stadt anders, du siehst sie in dem Blick ihrer Fahrgäste, im Hin- und Herwanken ihrer Körper, einer gegen den anderen. Du siehst sie in dem Kontrolleur der BVG, in dem Schwarzfahrer, in dem Mädchen auf dem Weg zur Universität, dem elegant gekleideten Typen und dem Haufen Seelen, die sich nicht mehr an den Toren zum Fegefeuer drängeln, sondern an der automatischen Waggontür der U-Bahn. An der Osloer Straße steige ich in die U 9 um, fahre bis zur Amrumer Straße, zwei Stationen und fast bin ich da. Ein Schild kündigt die Nähe meines Ziels an: Ausländerbehörde nach rechts.

Das Gebäude ist nicht einladend, aber es führt kein Weg daran vorbei. Trotz allem bin ich 13 Minuten zu früh da, so dass ich den richtigen Raum in Ruhe suchen kann. Ich orientiere mich an den kleinen Lageplänen, die mir anzeigen, wo ich hin muss. Zweiter Stock nach rechts. Ich setze ich mich in das erste Wartezimmer auf der linken Seite und warte darauf, dass auf der Anzeigentafel meine Nummer aufleuchtet. Zum Glück habe ich einen Termin, zwei Monate habe ich auf ihn warten müssen. Ich ziehe das Buch, was gerade an der Reihe ist, aus meiner Tasche. Heute ist die tausendfach wieder gelesene Gedichtanthologie von Mario Benedetti dran. Ich schlage es irgendwo auf und Benedetti entlockt mir ein Lächeln: Er bittet mich, mich nicht zu retten. Als wäre es so einfach…

Ein Mann, der zwischen 30 und 35 Jahren alt sein muss, kommt auf mich zu. Er fragt mich, ob er hier für B richtig ist, ich bejahe und er setzt sich neben mich. Und wo kommst du her? – fragt er mich. Aus Kuba – sage ich. Oh, Kuba! Che Guevara… er versucht ein Grinsen. Ein schönes Land – fügt er hinzu. Ich glaubte nicht, nervös zu gucken. Doch mein Gesicht scheint das Gegenteil auszudrücken, denn mein neuer Freund führt fort: Mach dir keine Sorgen, Kubanern geben sie sicher ein Visum. Ich komme aus dem Libanon, mich lassen sie länger schwitzen.

Ein Geräusch teilt mir mit, dass eine neue Nummer aufgerufen wird. Meine. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und gehe auf die Tür mit der Nummer 264 zu. Benedetti hämmert mir weiterhin ein, mich nicht zu retten, mich nicht mit einem glücklichen Plätzchen auf der Erde zu begnügen. Ich kontrolliere meine Wut. Klopfe an die Tür und trete ein.

Übersetzung: Anne Becker

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Offene Arme http://superdemokraticos.com/editorial/offene-arme/ Sun, 17 Oct 2010 13:41:38 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2992

Ich bin traurig. Die Superdemokraten verabschieden sich in ihren letzten Texten, ziehen Bilanz, grüßen sich gegenseitig und die Übersetzer, resümieren die Erfahrung, anhand vorgegebener Fragen in einem anonymen digitalen Raum als Individuum aufzutreten. Sie sind die aktiven gewesen in einem Dialog, der oft im Stillen verlief, beim Lesen, denn Leser, insgesamt 12.000, hatten wir! Sie waren die schweigenden Geister im Dunkeln des Cyberspace, denn oft kam auf die über 200 Essays, die jetzt in diesem Blog zu lesen sind, kein Echo zurück. Auch zwischen den deutsch- und den spanischsprachigen Autoren war es manchmal erstaunlich ruhig. Gemeinsam schweigen.

Ich bin mir dennoch sicher: Alle, die LSD genommen haben, haben ihre „Ichs durch ihre anderen dichs“ sehen können (Pedro Alexander). Das war kein Trip, das war kein Traum, das war eine traumhafte Versammlung von Ideen, Gefühlen, Visionen, eine „virtuelle geteilte Heimat“ (Liliana Lara), eine „Schreibübung“ als „erste Etappe“ (María Medrano) von ähnlichen intellektuellen Tauschrouten, die noch gebaut werden müssen. Wenn wir es geschafft haben, alte Machtstrukturen zwischen Europa und Lateinamerika für diese vier Monate aufzuheben, wenn ihr Menschen vermissen werdet, die ihr eines Tages zu treffen hofft (so wie ich!), dann glaube ich, dass diese globale Skypekonferenz, die wie eine kleine Buchmesse funktioniert hat, nicht abbrechen wird. Wir lesen und lieben uns weiter – und ich bin sicher, dass wir uns immer wieder begegnen werden. Wir werden uns an den offenen Armen und Augen erkennen. Denn ich bin optimistisch. Und wie Juan Gelman, der Shakespeare und Cervantes immer wieder liest, so wie Alan Pauls, der die Singleportionen im Kaiser’s, etwa „eine Scheibe Mozzarella“, wie Kunstobjekte liest, werde ich weiterlesen, wiederlesen, neulesen. Das ist kein Ende. Das ist ein Anfang von etwas.

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Mäuschen in der Säule http://superdemokraticos.com/themen/burger/mauschen-in-der-saule/ Mon, 11 Oct 2010 08:56:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2857

Dieser Text ist der Mäusefamilie gewidmet, die an der Hauptwache in Frankfurt in einer Säule lebt, mit etwa 14 Mäuschen-Kinderchen. Hektische und putzige Nachtarbeiter im Kollektiv. Dieser Text ist folglich den Diminutiven gewidmet, die Zaubertricks gegen Superlativen.

Dieser Text ist auch der Sprache gewidmet, mit der ich in den vergangenen Tagen kommuniziert habe, die mich unter spanischsprachigen Freunden in eine mir manchmal unangenehme Fremdheit trägt, weil ich die Sprache eher zufällig durchs Leben, nicht in der Schule gelernt habe. Ich nenne diese Sprache „espanol falso“, Falschpanisch. Das ist die pseudomigrantische Währung, die ich unter der Zunge trage.

Frische Äpfel von meinem Brandenburger Bauern, Notizblock, Kamera, ansonsten eine leere Tasche. Dies war nicht meine erste Frankfurter Buchmesse, sondern meine fünfte. Ich fühlte mich vorbereitet. Aber dann kam, als ich die unendlichen Regale sah, eine neue Angst über mich, eine Angst, die ich bisher noch nicht erlebt hatte und die vielleicht mit meiner Rolle als Superdemokratin zu tun hatte: Wer soll das lesen? Ich nicht, niemals. Und selbst, wenn ich eine wohlüberlegte Auswahl träfe, wann könnte ich dann noch schreiben, geschweige denn handeln? Der Teufelskreis der Leser-Schreiber-Bürger lähmte mich zunächst.

Aber zum Glück traf ich viele andere Leser-Schreiber-Bürger auf Gängen, an Ständen, auf Parties, Menschen, die Bücher lieben und klauen und ihre ganz privaten guten Bücher, diese kleinen Geistesbomben, weitertragen oder selbst gestalten, wie die unermüdlichen Eloisa Cartoneras. Die Bomben-Metapher ist geklaut; der unabhängige argentinische Verlag Clase Turista hat bereits ein Buch mit Zündkabel gestaltet.

Ich, als Säulenmensch. Foto: Viktor Nübel

Unabhängige Verlage, ob in Argentinien oder in Deutschland, stellen unter vollem Einsatz ihrer Person und Persönlichkeit solche relevanten Kunstobjekte her, intellektuelle Eingreiftruppen auf dem oft doch sehr gleichgeschalteten Markt. Sie treffen „Entscheidungen für die Zukunft“, wie es Sergio Parra, vom chilenischen Verlag Metales Pesados ausdrückte. Ich fühle mich schon ein wenig heuchlerisch, das jetzt auf ein Blog zu schreiben, aber die „literarische politische Theorie“, die alle Autoren von Los Superdemokraticos in den vergangenen vier Monaten virtuell entwickelt haben, soll es auch in ein paar Monaten gedruckt geben. Wir gehen einfach mal rückwärts: erst online, dann offline. Erst digital vernetzen, dann physisch verbreiten.

Bei der Präsentation des „2010 Ranking of the Global Publishing Industry“ hörte ich mir an, was die großen Konzerne in der Zukunft vorhaben. Trotz der Finanzkrise geht es, so erfahre ich, der Verlagsbranche nicht allzu schlecht, denn die digitalen Märkte boomen, ob in den USA, Spanien oder Deutschland – wie ist das in Lateinamerika?? Die Verlage machen keinen Unterschied mehr zwischen digitalen und, wie sie sagen, „physischen“ Büchern, einzig die Vermarktungswege wären unterschiedlich, hier kommt es auf die Vertriebswege an, aber auch um Zusatzservices wie Empfehlungen, nicht nur nach Algorhythmen. Aha, sag ich da, es geht um menschlichen Austausch. Carolyn Reidy vom US-amerikanischen Großverlag Simon & Schuster macht bei dieser Veranstaltung die poetischste Aussage: „Es werden sich neue Ebookformate entwickeln, aber wir haben sie noch nicht entdeckt. Das macht die nächste Generation, sie haben andere Gehirne als wir.“ Das kann ich bestätigen. Nach dem Aufstehen lief aus meinem linken Auge eine Wasserspur wie aus einer Tränenmaschine. Als ich in der Apotheke Tropfen kaufen wollte, sagte ich: „Es sieht so aus, als ob ich weine, aber ich weine nicht. Mein Auge macht das einfach so.“ Das kommt bestimmt vom Messeklima. Bücher wie Mäuse sollten auch mehr an die frische Luft!

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Democracia = Demokratie? http://superdemokraticos.com/themen/burger/democracia-demokratie/ Tue, 05 Oct 2010 07:00:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2331 Wir schreiben seit ein paar Monaten in diesem Blog mit dem Titel „Los Superdemokraticos“. Aber: Bedeutet Demokratie für die deutschen und die lateinamerikanischen Autoren überhaupt über das Gleiche? Wenn doch schon der Begriff bei einem Kolombianer und einem Argentinier völlig unterschiedliche Assoziationen auslösen kann! „Die Rückkehr zur Demokratie“ ist für einen Argentinier ein Meilenstein, ein Aufatmen. „La seguridad democrática“ in Kolumbien ist ein Sicherheitskonzept der harten Hand, entworfen unter Ex-Präsident Alvaro Uribe.

Das beste ist immer, jemanden zu fragen, der Bescheid weiß. Roberto Gargarella zum Beispiel. Er ist Anwalt und Soziologe, Master in Political Sciences, hat zu verschiedenen Aspekten der Funktionsweise demokratischer Systeme gearbeitet. Er unterrrichtet in Buenos Aires an der Universidad Di Tella, war Gastprofessor in Spanien, Norwegen und Ungarn. Im November fliegt er nach Hamburg, um dort im Rahmen eines Seminars des GIGA-Instituts über Verfassungsänderungen in Lateinamerika zu sprechen.

Meinen Argentinier und Deutsche das Gleiche, wenn sie über „Demokratie“ sprechen?

Wir sprechen oft über völlig verschiedene Dinge, wenn wir einen Begriff definieren. Es kann zum Beispiel etwas völlig anderes bedeuten, wenn man sagt: „Ich bin links“, „Ich bin rechts“, „Ich bin Liberaler.“ In Argentinien ist ein Liberaler rechten Ideologien nah, sogar der letzten Diktatur, während der Liberalismus z.B. in den USA als fortschrittlich gilt, sich auf die Linke bezieht.

Welche Rolle hat der Staatschef in den beiden Ländern?

In Argentinien haben wir ein Präsidialsystem, das zu einem Hyper-Präsidialsystem geworden ist. Die Grundlage für die meisten lateinamerikanischen Verfassungen ist das nordamerikanische Modell, aber unsere Präsidenten haben verfassungsmäßig mehr Macht als in den USA. Ein argentinischer Präsident kann in die Politik der Provinzen eingreifen, den Ausnahmezustand erklären, durch diesen die Bürgerrechte einschränken, er kann nach Gutdünken Minister ernennen und absetzen. In parlamentarischen Systemen hat ein Präsident längst nicht so viele Vollmachten.

Deshalb steht die Figur des Präsidenten im Mittelpunkt, er ist der große Entscheider. Ich kritisiere das Hyper-Präsidialsystem, weil es ein großes Risiko gibt: Das System der Gewalten und Gegengewalten, kann durch eine sehr starke Exekutive gestört werden.

Wenn man den Statistiken glaubt, funktioniert die Demokratie in Deutschland besser als in Argentinien.

Wenn wir die Demokratie als ein System von Gewalten und Gegengewalten verstehen, mit freier Meinungsäußerung, regelmäßigen Wahlen, steht Argentinien im Vergleich schlechter da.

Wenn man aber näher hinschaut und auf die Kontrollmöglichkeiten achtet, die die Bürger gegenüber ihren Volksvertretern haben, funktionieren beide Modelle, das argentinische und das deutsche, nicht gut. Ich ziehe es vor, ein Demokratie kritisch zu beurteilen.

In einem Punkt liegt Argentinien übrigens vorne, es gibt eine große Beteiligung der Bürger in der Tagespolitik. Die Leute interessieren sich, handeln politisch, gehen auf die Straße, protestieren, und zwar mehr als in europäischen Ländern. Das ist meiner Meinung nach einer der interessantesten Züge, die die lateinamerikanische Politik vorzuweisen hat: Dass die Bürger sich für etwas einsetzen und versuchen, selbst politische Kontrolle auszuüben.

Trotzdem herrscht in Argentinien Wahlpflicht.

Das ist kein Problem, sondern eine Tugend unseres Systems. Eine freiwillige Stimmabgabe ist ein Risiko, vielleicht gehen die Leute nicht wählen, weil sie denken: „Meine Stimme zählt nicht viel, was macht sie schon aus, eine von 50 Millionen.“ Die Wahlpflicht ist ein kleiner Schubs, den der Staat gibt. Es heißt, dass Nichtwähler eine Strafe zahlen müssen, aber das wird nicht durchgezogen. Die Wahlpflicht ist ein wichtiger Anreiz, schließlich steht etwas Bedeutendes auf dem Spiel: „Wie definieren wir die politische Organisation in den nächsten Jahren?“

Das Vertrauen in die Institutionen ist gering. Wie schätzen Sie deren Leistung ein?

Es gibt eine Tradition der Staatsstreiche, aber das Militär hat nicht mehr viel Einfluss auf die Politik. Ich würde mir in Argentinien, und auch in anderen Ländern, mehr Sorgen um die Rolle der Polizei machen. Sie ist nach wie vor korrupt und in Verbrechen verwickelt. Die Justiz ist besser geworden. Es war lange üblich, dass eine Regierung versuchte, eine Mehrheit im Obersten Gericht zu erreichen. Deshalb variierte die Qualität und die Rechssprechung wechselte oft. Wir hatten liberale Gerichte, konservative, korrupte, und in diesem Moment ist das Oberste Gericht respektabel, mit guter akademischer Bildung, unabhängig.

Wieviel Einfluss hat die so genannte „fünfte Macht“?

Der Einfluss großer Unternehmen ist ein großes Defizit der Demokratie in Deutschland und in Argentinien. Bei uns kommt ein wirtschaftliches Ungleichgewicht dazu, das dafür sorgt, dass die Mächtigen noch mächtiger sind. Bis in die 70er und 80er Jahre war Argentinien sehr egalitär, mit der letzten Diktatur änderten sich diese Strukturen. Die Ungleichheit ist ein Problem, für das wir noch lange keine Lösung haben.

Wie frei ist die Presse?

Journalisten werden in Argentinien nicht verfolgt, es gibt oppositionelle Medien und keine direkte Zensur. Es gibt indirekte Zensur, vor allem in der Art und Weise, wie die Regierung Anzeigen von Staatsseite verteilt. Das sind enorme Summen, die nach Gutdünken vergeben werden. Abgesehen davon haben wir das gleiche Problem wie alle Länder mit ungleichen Stukturen: Es gibt Stimmen, die nicht gehört werden, weil sie nicht genug Macht oder Geld haben, an die Öffentlichkeit zu kommen. Das kann auch in Deutschland passieren, zum Beispiel müsste man überprüfen, ob die verschiedenen Einwanderergruppen Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung haben.

Woher kommt die große Apathie in einigen Ländern?

In Europa hat die wachsende Apathie damit zu tun, dass die Leute merken, dass die Entscheider von Lobbygruppen beeinflusst sind. Die großen Unternehmen haben leichter Zugang zur Macht als die Bürger, der Einfluss der Interessensgruppen ist größer als der von hunderttausenden von Bürgern. Die Türen des Systems sind verschlossen, wenn die Menschen Druck machen. Aber die Systeme sind sensibel für den Druck von Machtgruppen, von Lobbyisten.

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Eine Finanzspritze http://superdemokraticos.com/editorial/eine-finanzspritze/ Sun, 03 Oct 2010 13:50:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2500

Oscar Seco, Apocalipse & Alternative Worlds, 2001

„Unsere Probleme sind die gleichen, wie man sie auf den Straßen von Mailand, Berlin oder New York einatmen kann.“ So lautet ein Satz im letzten Artikel von Javier Badani aus La Paz. Er passt sehr gut zum heutigen Tag, dem 3. Oktober. Heute wird in Deutschland die Wiedervereinigung gefeiert. Ich muss zugeben, dass es mich etwas beschämt, dieses Thema anzuschneiden. Ich bin Ausländerin, und meine Beziehung zur Wiedervereinigung hat sich mit den Jahren entwickelt, daher spreche ich in der ersten Person. Ich lebe seit 13 Jahren in Berlin oder in seiner Umgebung, und als ich 1997 in Potsdam ankam, war der Wiedervereinigungsprozess noch in vollem Gange. Wenn er jetzt vielleicht eines Tages vollendet ist: Was ist denn eigentlich eine Nation?

Die Rückgewinnung des historischen Gedächtnisse ist vielleicht eine der Gemeinsamkeiten unserer Generation, und diesbezüglich gibt es keine bessere Stadt: Berlin ist die Hauptstadt für die westlichen Wendekinder. Für die verwöhnten Kinder der existierenden Leere, nachdem physisch mit dem binären Denken gebrochen wurde. Seitdem ist der Kalte Krieg beendet. Diese Stadt ist voller autorefenzieller Denkmäler. Als ob der allegorische Sinn des Mauerfalls nicht vom „Marcha por la Vida“ (Marsch für das Leben) der bolivianischen Minenarbeiter, vom Sturz des letzten Dinosauriers Pinochet, vom Triumphzug des freien Marktes begleitet worden wäre. In Tarija, in Potsdam, in Buenos Aires und in München, auf der gesamten Welt. Mit den Jahren habe ich bemerkt, dass – jenseits der Toten, die in keinster Weise Diktaturen rechtfertigen – es genau das ist, was unsere Leben verändert hat (hier beziehe ich mich auf den Text von Agustín Calcagno). Die Finanzspritzen führten dazu, dass unsere Eltern ihre Richtung verloren haben, es hinderte sie daran, darüber nachzudenken, und vor allem hat sie der Glaube verlassen, dass sie auf eine andere Art und Weise den amerikanischen Traum erreichen könnten, diesen konsumistischen Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär, der dann wahr wird, wenn man alles dafür tut. Auch das lässt sich daran wiedererkennen, wie die deutsche Wiedervereinigung ablief. Ein konkretes Beispiel ist, dass hier niemand mehr sicher weiß, was es eigentlich bedeutet, Sozialdemokrat oder Christdemokrat oder Grüner oder Liberaler zu sein. Berlin und alle anderen Städte vor den Wahlen sehen aus wie Las Vegas. Die wichtigen Entscheidungen sind ökonomischer Art, globalisiert, werden auf Kauderwelsch-Englisch getroffen und benötigen jetzt einen anderen Feind.

Wenn ich mit schlechter Laune aufwache, denke ich dasselbe wie Jo Schneider in seinem letzten Artikel, außer, dass mein Zuhause weit weg ist und ich mich damit tröste, dass ich glaube, dass dies die wiederkehrenden Gedanken der Mittelschicht sind, überall auf der Welt. Besonders das Auf- und Abflauen eines nationalen Pulses, das gilt jetzt für Deutschland, seit 1997, hat mich in einen Status versetzt, der „Nicht-EU-Bürger“ genannt wird. Wie fast alle meiner Mitbürger, egal, welchen legalen Status sie haben, habe ich viele Bürgerrechte in den vergangenen Jahren verloren. Und meine Frage lautet: Welche Rolle spielte dabei die Wiedervereinigung?

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Es war einmal eine Globalisierung http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/es-war-einmal-eine-globalisierung/ Tue, 28 Sep 2010 06:48:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2220 -Wenn ihr es erlaubt, erzähl ich euch eine Geschichte, so wie sie mir erzählt wurde. Es war einmal ein junger Mann, der lebte in einer sehr großen Stadt. Es war im Jahr 2010. Er wurde auf der Insel geboren, die im dem Gedicht „La Isla en Peso“ von Virgilio Piñeira beschrieben wird, das ich euch sehr empfehle. Dieser junge Mann war wie unser Morus, dem es gefiel zu reisen, er wollte wissen, ob die Welt Grenzen habe und welche es wären. Als er das Alter dazu erreicht hatte, ging er in ein anderes Land. (Einige von euch werden sich nun fragen, was ein Land war, andere haben dies bereits im Unterricht von Poulantzas gelernt. Gut, ich werde euch nicht die Gelegenheit nehmen, Nachforschungen zu diesem Thema anzustellen.) In jener Zeit hatten die Menschen Artefakte erfunden, die es einfacher erschienen ließen, sich von einem Ort an einem anderen zu bewegen. Das war, in den meisten Fällen, für die überwiegende Mehrheit der Männer und Frauen, die den Planeten bewohnten, extrem schwierig, denn um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, benötigte man eine Erlaubnis von den zuständigen Behörden. Diese Autorisierung wurde in Form eines Zettels erteilt, der für die Person, die verreisen wollte, in einer anderen Sache, die man Pass nannte, abgestempelt wurde. Bei Letzterem handelte es sich um ein Heft, das dazu diente, sich auszuweisen. Dieser junge Mann arbeitete hart, um die Erlaubnis zum Reisen zu erlangen, denn er hatte den Fehler begangen, im falschen Land auf die Welt zu kommen. Dazu kam, dass die Menschen in jener Zeit unter dem Joch des Geldes lebten, Geld, dieser unbeschreibliche Geselle, der zwischen den meisten menschlichen Beziehungen vermittelt.

Kommen wir zu unserem jungen Mann zurück. Nachts arbeitete er in einer Bar, tagsüber ging er in die Universität, er schrieb Essays und literarische Texte für die ein oder andere Zeitschrift oder für Projekte. Sein Leben verlief zwischen diesen alltäglichen Aufgaben.

Dieser junge Mann, lasst ihn uns Aukera nennen, verbrachte viel Zeit damit, mit all seinen Freunden zu reden, die über den gesamten Erdball verstreut waren. Seine Kumpels sprachen unterschiedliche Sprachen und kamen an verschiedenen Orten zur Welt. Fast alle von ihnen hatten ebenfalls nicht den richtigen Pass, um sich in jener Welt fortbewegen zu dürfen.

Einige Freunde von Aukera spielten Theater, andere machten Musik, andere schrieben Poesie und machten Filme, andere arbeiteten mit Behinderten, kochten oder renovierten alten Häuser. Wieder andere hatten keine Arbeit und verbrachten viel Zeit damit, im Kreis zu laufen. Einer von ihnen lebte in einem sehr, sehr kleinen Dorf in einem Land im Süden. Er hieß Ezintasuna und spielte Theater für Kinder. Ezintasuna war sehr erschöpft und wollte in ein Land des Nordens gehen, aber die Erlaubnis zum Reisen war sehr schwer zu bekommen.

Foto: Lazaro Emilio Hernandez Boffill

Er glaubte nicht daran, dass seine Arbeit funktionierte, denn die Botschaft der Freude und die Möglichkeiten, die das Marionettenspiel bat, kamen bei den Kindern nicht an. Diese unterlagen einem sehr starken Einfluss von Gewalt. Die Mehrheit dieser Kinder lebte auf der Straße und konsumierte Drogen statt Nahrung, um ihren Hunger zu stillen. Andere waren verkauft und zur Prostitution gezwungen worden. Um sich zu verteidigen, hatten sie sich zu Gangs zusammengeschlossen. Eines Tages, nach einem Auftritt, näherte sich eines dieser Kinder schüchtern und sagte zu Ezimtasuna:

– Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?

– Ja natürlich!-antwortete Ezintasuna.

-Sagen Sie, wie schaff ich es, in die Welt der Marionetten zu kommen, in der alles gut ausgeht?

Ezintasuna war sprachlos. Mit zugeschnürtem Hals sagte er zu ihm:

Zuerst musst du sie erschaffen, und dann, ganz langsam, wirst du in ihre Welt eintreten können, genau wie sie in deine.

Der Junge begann die Gruppe der Marionettenspieler zu begleiten und mit der Zeit erschuf er seine erste Marionette.

So hat es mir Ezintasuna erzählt und so erzähl ich es euch.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Denker sind mitten unter uns http://superdemokraticos.com/editorial/die-denker-sind-mitten-unter-uns/ Sun, 26 Sep 2010 11:34:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2297 Bevor du diesen Text lesen kannst, musst du eine globalisierte Handlung ausgeführt haben. Du hast deinen Rechner angeschaltet, eine Begrüßungsmelodie gehört, dein Desktop hat sich vor dir ausgebreitet wie eine Landkarte, vielleicht hast du ein privates Foto als Hintergrundbild eingestellt: dein Freund, deine Frau, dein Baby, ein Schnappschuss von deiner letzten Reise, einen Helden, Sänger, Fußballer. Deine Ordner und Dokumente liegen verteilt vor dir wie kleine Inseln. Mit einem Mausklick, den deine Hand wie  dressiert ausgeführt hat, öffnest du den Browser (Firefox, Explorer, Safari, Netscape…), und das Netz öffnet sich für dich. Vor dir liegt die globale Unendlichkeit, eine vierte Dimension aus Raum und Zeit. Mit diesen Handlungen hast du den Ritus des „Netizen“ vollzogen. Der Netizen hat Macht. Er kann nicht nur das Netz passiv nutzen, sondern er kann es, durch Blogs, Twitter, Kommentare, Videos, Fotos, aktiv mitprägen, der bulgarische Philosoph Ivaylo Ditchev nennt das die Kultur des permanenten reflexiven Feedbacks.

Mit den Superdemokraten versuchen wir genau das. Wir stellen Fragen und sammeln Antworten, die wir auf zwei, fast drei Sprachen veröffentlichen. Anhand der Denklinien unserer 20 Autorinnen und Autoren entsteht eine neue politische, globale Theorie, die durch eine neue Sprache, neues Vokabular und durch für unsere Generation wichtige Persönlichkeiten (Deleuze/ Guattari, Renato Ortiz, Tzvetan Todorov, Rimbaud, Lady Gaga… um nur einige zu nennen) definiert wird. Da gibt es jetzt den „Globalichiater“ (Carlos Velázquez), den wir „vagabundierenden Parias“ (Calcagno) aufsuchen, wenn uns die „binäre Schlange“ (Tilsa Otta) bedroht. Den Dichter, der auf Ttzotzil schreibt (Luis Felipe Fabre), haben wir bereits als Präsidenten unserer virtuellen Gemeinschaft erwählt.

Wir kämpfen dagegen an, dass unser Denken genauso globalisiert wird wie unsere Handlungen. Wir sind digitalte Conquistatoren, mit dem Ziel, neue Wahrnehmungen zu erschließen. Fortan ist für mich jede Mango eine Mango unter dem Weihnachtsbaum (Karen Naundorf) und Multikulturalismus nur ein globaler Sticker (Monica Lizabel).

Dem globalen Medienmarkt mangelt es inbesonders an historischem Gedächtnis, welches es dem Besucher ermöglichen würde, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen und bestimmen zu können, was wirklich neu und wahrlich zeitgenössisch an der Gegenwart ist.

Boris Groys, Art Power, „The Logic of Equal Asthetic Rights“

Früher wollte ich die Orte bereisen, die noch nicht von Google Earth erfasst sind. Sobald Google keine Satellitenbilder von einem Ort vorliegen, wird die Fläche einfach irgendwie erdig eingefärbt, mit einer Pseudo-Physiognomie versehen, so dass nicht auffällt, dass an dieser Stelle Menschen siedeln. Und das ist das Gute: Niemand hat bisher die gesamte Welt regiert (Emma Braslavsky), auch nicht Google, aber du kannst heute damit anfangen, deinen Ort sprachlich und denkend zu bestimmen und ihm die Geschichte zurückzugeben. Eigentlich haben wir schon damit angefangen. Danke an euch alle!

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