Poetologie – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Gruppen-Trolling in der fünften Internationale http://superdemokraticos.com/poetologie/gruppen-trolling-in-der-funften-internationale/ Fri, 16 Nov 2012 16:30:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6458

Wir sagen: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Dort, wo Facebook der drittgrößte Staat der Welt ist, wo es keine Netiquette gibt, aber Nutzungsverträge, die niemand liest, wo Liebe wirklich immer ein Wort ist, wo Zustimmung nur einen Mausklick bedeutet, wo wir uns mit Unbekannten anfreunden und Bekannte entfreunden und wo das Dark Web von selbsterwählten Nerds und Hackern regiert wird, wo Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht sich in HTML auflösen, sind wir Hyperlinks in einer hyperlinken Zeit.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Innerhalb der Mauern der hyperlinken Zeit entwickelt sich die Utopie eines vormarxistischen Ursozialismus. Das hegelianische Fortschrittsdenken hat sich aufgelöst, die lineare Hoheitsbetrachtung der Geschichte hat abgedankt. Sich über die technische Revolution neu zu erfinden, bedeutet, flüssige Zeit- und Raumverständnisse zu vertreten. Zum Beispiel: am Berliner Schreibtisch bolivianisches Radio hören. Also muss heute jeder ein Anarchist sein. Denn das Internet bedeutet Freiheit, Unordnung, unkontrolliertes Sprechen und Schreiben, zumindest in seinem Idealzustand. Das freie Web lässt uns in kurzer Zeit einfach und schnell neue Ideen entdecken, Ideen, gegenüber denen es eventuell Vorurteile gibt. Gegebene Machtstrukturen werden durch diese Entwicklungen ernsthaft in Frage gestellt – die Reaktion darauf ist, dass im Namen von Sicherheit und Gerechtigkeit, Einschränkungen vorgenommen werden. Die Bullen sind schon da, aber wir fordern Wlan weltweit. Das Netz darf nicht kolonialisiert werden, es gehört allen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im freien Netz entstehen.

Vor allem sind wir im Netz sprachlich verfasste Wesen. Unsere Subjektivität stellt sich durch Worte und Bilder dar, in ästhetischen Entscheidungen, die sich auf kollektives Unterbewusstes beziehen. Die geheimen Sehnsüchte der Menschen treffen sich online.

Das Netz gibt uns die Möglichkeit, unsere eigene Minderheit weltweit maßzuschneidern, ständig vernetzt, oft allein, als Aktivisten für die Verbreitung von Inhalten. In der Anonymität unserer Avatare brauchen wir uns nicht an dominante Meinungen anzupassen – vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran, hoch, runter, lady bum. So können Stereotype eher gebrochen werden.

Daher ist das konsequenteste befreite Schreibverhalten das Schreiben von Blogs. Blogger sind bewusste Internet-Nihilisten. Ihre „zero comments“-Haltung ist eine positive Strategie für das Vorbeischreiben am Mainstream und am Verlagswesen der Bertelsmänner und Pinguine. Bertelsmannprodukte sollte man kennzeichnen wie Zigarettenschachteln. „Achtung: Die Pseudokultur, die wir verkaufen, kann ideologischen Schaden zufügen.“

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur in freien Räumen im Netz entstehen.

Wir sind umgeben von einer Ästhetik der Oberfläche. Das ist auch das Problem von linken Parteien und Institutionen, die sich auf eine oberflächlich-linke Ikonographie beziehen, die mehr der Nostalgie gewidmet ist als einem neuen Umgang miteinander. Hauptsache, Rot, Rot, Rot. Und mit Bart. Gerne auch ein Che-Guevara-Jutebeutel. Hammer und Sichel. Dabei ist das Arbeiterproletariat durch das Proletariat der Tastatur-Dienstleister ersetzt worden, die eher einem Chat auf Global English als einer Gewerkschaft beitreten würden. Doch wo ist die übernationale Lobby für die neuen Netzarbeiter? Wer kämpft für das globale Grundeinkommen von Freidenkern, die demokratische Strukturen aufrechterhalten wollen?

Das Internet muss als politischer und kultureller Ort aufgewertet werden. Es gräbt Klassiker aus und rettet sie vor dem Vergessen. Die Bibliothekare des Internets sind Kopisten, die ihre Lieblingstexte abschreiben, mit URLs versehen und der globalen Leserschaft schenken. Hyperlinke Autoren müssen sich stärker mit ihrem linken Stammbaum beschäftigen, auch mit dem Teil des Stammbaumes, der gezwungen war, Europa zu verlassen. Lateinamerika ist überfüllt von Anarchisten und Trotzkisten, zwei linken Minderheiten, die sich mit Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft beschäftigt haben und die es nie groß in die Medien geschafft haben.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch Wissenskommunen entstehen.

Lasst uns über Trotzki reden. Er war einer der weniger Revoluzzer, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigt haben. Ein Mann mit Bart. Und ein Exilant in Lateinamerika. Wir haben sein Haus im bürgerlichen Stadtteil Coyoacan in Megalo-Mexiko-City besucht. Seinen Bunker. Den Innenhof, in dem er Kaninchen und Hennen in Ställen züchtete, weil er glaubte, dass der revolutionäre Schreiber sowohl intellektuelle Arbeit als auch Handarbeit leisten müsse.

Die erste Bedingung für den Künstler ist die thematische Freiheit, um zu einer eigenen Ästhetik zu gelangen, schrieben Trotzki und Breton in einem gemeinsamen Manifest, das sie 1938 in Mexiko verfasst haben. Daher wird ein Roman, der den Untertitel „linker Roman“ trägt, als linker Roman scheitern. Das Andocken an eine linke Systemästhetik nimmt dem Kunstwerk seine ästhetische Eigenständigkeit. Wir müssen unterscheiden zwischen links als Label, als Aufkleber auf dem Fahrrad oder Auto, und zwischen hyperlinks als utopischem Aktionismus. Ein hyperlinker Autor ist der, der frei schreibt und als Mensch gerecht handelt. Freie Kunst wird von den orthodoxen Linken, die es in die Geschichtsbücher geschafft haben, nicht allzu sehr geschätzt.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch freie Geister im Netz entstehen.

Als freie Geister werfen wir uns tiefe Blicke zu, in denen sich die Gegenwart zur Unendlichkeit ausdehnt. Wir dürfen auch mal was Romantisches sagen. Die Zukunft, in der wir uns treffen, verläuft als kodierte Doppel-Helix, sie besteht aus unendlichen Kombinationen von Nullen und Einsen, Xen und Ypsilons. Die fünfte Sonne der Mayas fängt in diesem Jahr im Dezember an, ein neuer historischer Abschnitt beginnt. Es ist die Zeit gekommen, dass der hyperlinke Autor einen ganz neuen Menschen und neue Leserschaften erfindet, die sich über Grenzen hinweg organisieren. Sie alle brauchen Übersetzer, um plural und demokratisch zu bleiben, etwa wie Yoani Sanchez, die kubanische Bloggerin, deren Blog von Freiwilligen in etwa 20 Sprachen übersetzt wird. Trotzky sprach Spanisch mit russischem Akzent. Die neuen literarischen Netzaktivisten lesen und schreiben auch mit Akzent, sie sind fehlerhafte Mestizen mit vielen Augen und Sichtweisen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale fordert: Benutzt „FREE GOOGLE TRANSLATE“.

Es müssen neue Tätigkeiten anerkannt werden: Statt Toto Lotto zu spielen, sollte jede Woche der beste Tweet mit 30.000 Euro ausgezeichnet werden. Aphorismen zu schreiben, ist hartes Brot. Wenn schon Facebook alle unsere Inhalte speichert und auswertet, sollte der Konzern auch ab und zu das beste Foto kaufen. Wer seine Lieblingsbücher einscannt oder abtippt und für die Netzbibliothek digitalisiert, verdient einen fairen Lohn. Genau wie Programmierer und Entwickler von freier Software. Wenn Trotzki heute im Exil wäre, würde er von Mexiko aus nonstop über alle Kanäle kommunizieren. Trotzki wäre ein durch crowdsourcing finanzierter Troll. Aber Trolling gegen eine Regierung ist schwieriger als man es sich vorstellt. Derzeit setzen viele Länder Facebook-Polizisten ein, die einzelnen Personen auf ihren Internetprofilen Drohungen hinterlassen, das ist für Bolivien, Venezuela, Iran so, in Spanien, Griechenland, Italien wird zur Zeit über ähnliche Maßnahmen diskutiert.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale wird von hyperlinken Trollen aufgebaut.

Hyperlinke Trolle handeln stets im Sinne der Gruppe, für die sie kämpfen und leisten Lobbyarbeit für hyperlinkes Gedankengut. Sie schreiben obsessiv über ein Thema, überall, wo sie können, auch wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Sie sind provokant. Worte sind ihre Waffen. Sie verstecken ihr Gesicht nicht in einer Sockenpuppe, sondern stehen öffentlich zu ihrer Meinung. Sie reagieren impulsiv, sind kommerziell-unbewusst, nicht am Markt, sondern an Menschen orientiert. Daher ist eines der Grundgebote der hyperlinken Trolle das Teilen: Das ist die bessere Nächstenliebe! So bauen sich diese Einzeltäter textuelle Kooperativen auf, welche unabhängig und selbstständig Inhalte weitertrollen. Solidarität unter Trolls ist ein Muss, Gruppen-Trolling ist die revolutionäre Taktik.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann sich nur durch Gruppen-Trolling im Netz verbreiten. Deutschland, vergiss deinen Impfpass. Relajate y disfruta.

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Reisefahrplan http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/reisefahrplan/ Wed, 08 Dec 2010 19:07:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3371 Vom Bett aus sieht man, wie der Raureif der Morgenstunden das Glas der Fensterscheibe des Zimmers liebkost. Der Schnee möchte herein kommen, um Hallo zu sagen, nur die Wärme der Heizung hält ihn davon ab. Ich habe kaum mehr als vier Stunden geschlafen. Lust aufzustehen, habe ich nicht besonders, aber ohne Visum im Pass wäre alles komplizierter. Die zehn Schritte bis zum Bad, die Zahnbürste und Zahnpasta, ein schnelles Zähneputzen, das Gefühl von Sauberkeit bringen mich dazu, unter die Dusche zu springen und auf diese Weise das Gefühl der Verzückung zu verlängern und die Gerüche von gestern abzustreifen. Eines feindseligen Gestern. Zusammen mit einem guten Lied, um den Tag zu beginnen und das erste Glas Wasser zu trinken. Gedanken verwandeln sich in Aktion. Aus dem Bett steigen, die Schritte, Bugge Wesseltoft mit It’s snowing on my piano, die Dusche, das Handtuch, das Wasser: die Ruhe der kleinen Dinge, die die Seele besänftigen.

Andares.

Die Uhr hingegen kennt keine Ruhe und zeigt an, dass eine halbe Stunde vergangen ist. Du hast 15 Minuten länger für etwas gebraucht, was du in zehn Minuten hättest erledigen sollen. Es ist kein Kaffee da. Beeil dich! Zieh dir die schönste Hose zum schönsten Hemd an, Schal und Mantel. Man muss einen guten Eindruck machen. Vergiss nicht, die Unterlagen mitzunehmen, die du gestern vorbereitet hast und vergewissere dich noch einmal, dass sie vollständig sind. Lauf schnell die Treppen hinunter, aber stolpere nicht, das ist kein Moment für Unfälle. Kalte Luft. Die Schritte versinken im Schnee; hoffentlich vergessen sie nicht, die Kieselsteinchen zu streuen, die uns vor dem ständigen Ausrutschen schützen. Habe ich wohl alle Unterlagen? Die U-Bahnstation ist keine fünf Minuten entfernt. Durch Neukölln zu laufen hat seinen Reiz. Auf seinen Straßen flaniert ein besiegter Surrealismus umher, der mich zur Rebellion einlädt. Neukölln stellt seinen messerscharfen Barockismus zur Schau.

Um acht Uhr morgen hat der türkische Bäcker an der Ecke Selchower Straße schon ein paar Bewohner. Mit eingespieltem Hallo nehme ich lächelnd meinen Kaffee entgegen und gehe schnell in Richtung Herrmannstraße weiter. Hundert Meter weiter, einmal links abgebogen, und ich bin schon auf dem U-Bahnhof. Der Zug kommt in zwei Minuten. Wenn du mit der U-Bahn fährst, siehst du die Stadt anders, du siehst sie in dem Blick ihrer Fahrgäste, im Hin- und Herwanken ihrer Körper, einer gegen den anderen. Du siehst sie in dem Kontrolleur der BVG, in dem Schwarzfahrer, in dem Mädchen auf dem Weg zur Universität, dem elegant gekleideten Typen und dem Haufen Seelen, die sich nicht mehr an den Toren zum Fegefeuer drängeln, sondern an der automatischen Waggontür der U-Bahn. An der Osloer Straße steige ich in die U 9 um, fahre bis zur Amrumer Straße, zwei Stationen und fast bin ich da. Ein Schild kündigt die Nähe meines Ziels an: Ausländerbehörde nach rechts.

Das Gebäude ist nicht einladend, aber es führt kein Weg daran vorbei. Trotz allem bin ich 13 Minuten zu früh da, so dass ich den richtigen Raum in Ruhe suchen kann. Ich orientiere mich an den kleinen Lageplänen, die mir anzeigen, wo ich hin muss. Zweiter Stock nach rechts. Ich setze ich mich in das erste Wartezimmer auf der linken Seite und warte darauf, dass auf der Anzeigentafel meine Nummer aufleuchtet. Zum Glück habe ich einen Termin, zwei Monate habe ich auf ihn warten müssen. Ich ziehe das Buch, was gerade an der Reihe ist, aus meiner Tasche. Heute ist die tausendfach wieder gelesene Gedichtanthologie von Mario Benedetti dran. Ich schlage es irgendwo auf und Benedetti entlockt mir ein Lächeln: Er bittet mich, mich nicht zu retten. Als wäre es so einfach…

Ein Mann, der zwischen 30 und 35 Jahren alt sein muss, kommt auf mich zu. Er fragt mich, ob er hier für B richtig ist, ich bejahe und er setzt sich neben mich. Und wo kommst du her? – fragt er mich. Aus Kuba – sage ich. Oh, Kuba! Che Guevara… er versucht ein Grinsen. Ein schönes Land – fügt er hinzu. Ich glaubte nicht, nervös zu gucken. Doch mein Gesicht scheint das Gegenteil auszudrücken, denn mein neuer Freund führt fort: Mach dir keine Sorgen, Kubanern geben sie sicher ein Visum. Ich komme aus dem Libanon, mich lassen sie länger schwitzen.

Ein Geräusch teilt mir mit, dass eine neue Nummer aufgerufen wird. Meine. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und gehe auf die Tür mit der Nummer 264 zu. Benedetti hämmert mir weiterhin ein, mich nicht zu retten, mich nicht mit einem glücklichen Plätzchen auf der Erde zu begnügen. Ich kontrolliere meine Wut. Klopfe an die Tür und trete ein.

Übersetzung: Anne Becker

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Meine Oma und meine Freunde … http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-oma-und-meine-freunde/ Tue, 31 Aug 2010 07:00:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1298 Freunde sind ein Juwel, so lautet ein Ausspruch meiner Oma. Sie sind so wertvoll, dass man von ihnen nur einige wenige hat. Warum? Das hat mir meine Oma nicht erzählt, sie hat mich nur immer dazu aufgefordert, es auszuprobieren. Mit Freunden und Freundinnen habe ich gelacht, geweint und unendlich viel Dinge gelernt. Die kritischen Momente, die wir gemeinsam erschaffen haben, sind wie ein Angriff auf die Vernunft. Wir befreien sie von ihrem absolutistischen Anspruch, entblößen sie und sehen, was sie so sehr zu verstecken versucht, nämlich ihre Vergangenheit, Gegenwart und die verdunkelte Zukunft. In diesen Soirées ist es immer notwendig, schon im Vorfeld zu sagen, wie viel getrunken wird, zehn Flaschen Wein, zwanzig oder soviel, bis es nicht mehr geht. Damit tun wir so, als ob wir alles unter Kontrolle hätten.

Diese gar wunderbaren Momente des intellektuellen und emotionellen Austauschs werden gewöhnlicherweise von Festessen und Feierlichkeiten begleitet, die entweder mit Ideen für große Projekte enden können, in meisterhaften Lehrstunden oder einfach in maßlosen Besäufnissen. Bei einer dieser gesellige Gesprächsrunden voller Musik erzählte Safo von der unruhigen Hand des Olympe de Gouges. Die Redakteure der monumentalen Déclaration des droits de l’Homme et du Citoyen (Erklärung der Menschen und Bürgerrechte) hatten ihre Mütter, Schwestern, Frauen und Kampfgefährtinnen vergessen, weshalb es sich Olympe zur Aufgabe machte, eine Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne (Erklärung der Frauen und Bürgerinnenrechte) herauszugeben. Anlässlich dessen haben ihm möglicherweise einige illustre Bürger jener Zeit, von denen es nur wenige gab, den Kopf abhacken lassen.

Das Rekapitulieren von Safo entfachte die Nacht. Freud hatte sich schon ein paar Drinks genehmigt und wollte einen Einwand bringen, aber Madame Beauvoir, die sich an seiner Seite befand, ließ ihn nicht zu Wort kommen. Herder stotterte, mit konziliantem Geist: Zeitgeist, mehr ist es nicht! Bukowski fügte ungehalten hinzu: Wozu all diese Diskussion, wenn schlussendlich die Bürger und Bürgerinnen sowieso nichts ändern können. Marx betrat mit einer Flasche Wein in der Hand den Raum und rief: Klassenkampf! Was wir zu tun haben is… Tina Modotti gab ihm unvermittelt einen Kuss, während Hannah Arendt die beiden verächtlich beobachtete und mit eisiger Stimme sagte: „Karlchen, pass mit diesen Behauptungen auf, die zum Totalitarismus führen.“ Aber er schien entschlossen nicht darauf hören zu wollen, zu viel Leidenschaft.

Die Situation schien außer Kontrolle zu geraten. Mitten in all jenem sang zu uns die felsenfeste Stimme von Chavela Vargas: El Último Trago (Der letzte Drink). Mir wurde bewusst, wie wenig mich die Nationalität interessierte und wie sehr ich das Mensch-Sein schätzte. Martí, der immer an meiner Seite war und intuitiv meine Sorgen spürte, erzählte mir: Das Wichtigste sind wir: Männer und Frauen. Dieses Wir steht aber für diese unsere Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, deshalb darf der politische Ausdruck dieses Beziehungen-Eingehens, das Bürger-Sein, nicht aus den Augen verloren werden. Octavio Paz, der gerade damit aufgehört hatte Chavela Beifall zu klatschen, sagte zu Martí: „Vergiss nicht, dass wir die Söhne der Gefickten sind.“ Er – und er deutete auf mich – ist Bürger keines Landes. Nicht von Kuba, weil er trotz seiner angeblichen Rechte nichts machen kann. Nicht von Berlin, weil er dort keine Rechte besitzt, und selbst wenn er sie hätte, könnte er eher wenig tun.

Bakunin, der zu meiner Rechten auf dem Boden saß und sich mit Tagore unterhielt, hatte das wohl gehört und fügte hinzu: Der Status des Bürgers ist Lug und Trug, denn ein Staat, der von dieser Annahme ausgeht, unterscheidet zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern und vergisst darüber die Wurzel von allem: den Menschen. Lezama Lima legte Gardel auf, der Volver (Zurückkommen) sang. Foucault und Gramsci, die links neben mir ohne Musik in einer Ecke getanzt hatten, dankten ihm und machten weiter. Unglaublicherweise sagte Kant die ganze Nacht gar nichts, er sah traurig aus; jemand erzählte, dass Juana Bacallao von ihm schwanger wäre; aber möglicherweise war das nur ein Gerücht.

Was für eine Nacht! Lewis W. Hine hat ein Foto davon gemacht. In diesem Moment befand sich meine Oma an irgendeinem Ort im Wohnzimmer; sie, Ikonoklastin, Veteranin des Kampfes, die mit ihrem Lächeln Herzen zum Leuchten brachte, mit einem Mojito in der Hand. Sie ist der Leuchtturm, an dem ich mich orientiere. Wir sahen uns an, lächelten. Mit diesem Lächeln gehe ich von einer Versammlung zur nächsten, wie meine Oma immer sagt: Das Beste ist noch zu erwarten oder selbst zu machen, würde ihr Ana Laura mit einem Augenzwinkern sagen …

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ninja-Metamorphose http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/#comments Thu, 19 Aug 2010 07:16:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=941 Vor ein paar Monaten begann ich mit meiner zaghaften aber entschiedenen Verwandlung in einen Ninja. Und nun werde ich versuchen, meinen Freunden, den Superdemokraticos, die Gründe dieser Metamorphose zu erklären:

Erstens, die wirtschaftlichen Bedingungen. Die eiserne Disziplin, der sich ein Ninja unterwirft, erlaubt es ihm nur an wenigen Stunden in der Woche, sich dem Laster hinzugeben: Wein, Bier und anderen Substanzen erhalten einen bestimmten Platz. So wird ihr rituelles Wesen wiederhergestellt. Auch dem Sex, dieser kostspieligen Angewohnheit, wird ein Platz zugeteilt, aber anstatt nach Quantität zu suchen, besinnen wir uns auf seine mystische Qualität. Geld ist nicht weiter ein Feind, damit es wie Energie fließen kann.

Zweitens, wahre Freundschaften werden gepflegt. Ein Ninja hat diese falschen Freunde nicht nötig, von denen es nur so wimmelt, wie Fliegen, die sich auf einen Teller Milch stürzen. Man lernt, auf den allerersten Blick zu erkennen, welche Seelen unserer Verbündeten im Kampf, den Himmel zu erleuchten, sein werden. Der moderne Ninja von heute akzeptiert die spirituelle Bruderschaft, welche die Menschen mit all den tierischen, pflanzlichen und mineralischen Spezies verbindet, eingeschlossen Chihuahua-Hunde und Axolotl-Schwanzlurche. Wenn ihr genau hinschaut, könnt ihr erkennen, dass der Axolotl eine Art Ninja des Wassers ist, von dem er denkt, es wäre Luft. Sein amphibisches Naturell erlaubt es ihm, die Vergangenheit und die Zukunft zu bewohnen.

Die unsichtbaren Gegner bestraft ein Ninja mit Schweigen und Missachtung. Er widersetzt sich Beleidigungen, Verleumdungen und übler Nachrede durch lange Meditationssitzungen vor der aufgehenden Sonne. Wir lösen uns aus dem feindlichen Szenario und hinterlassen lediglich eine Wolke der Poesie.

Drittens, das Thema fashion. Manche sagen uns, dass das Äußere nicht wichtig ist, aber wir wissen genau, dass sie lügen. Wie müssen erfinderisch sein und Klamotten wie eine Sprache benutzen. Kleidung ist eine Textualität, deshalb kommen der Orden oder der schwarze Anzug mit Maske (verankert in der Populärkultur) niemals aus der Mode. Es ist die Zusammenfassung des Mysteriums und eine Ermahnung für das, was noch geschaffen wird.

Viertens, der Gewalt wird die Eleganz gegenübergestellt. Während sich in diesem Land alle kreuz und quer umbringen, ziemlich blutrünstig und würdelos, schlagen wir modernen Ninjas lieber mentale Kämpfe vor, die an den heiligen, präkolumbinischen Stätten ausgetragen werden sollten. Dieser allegorische Vorschlag impliziert nicht, dass wir verleugnen würden, dass der Ursprung der aktuellen (und realen) Gewalt in der sozialen Ungleichheit, der Korruption und der Straffreiheit zu findet ist, die während der gesamten Geschichte Zentralamerika verwüstet haben.

Ein fünfter Grund, warum man Ninja werden sollte, ist die Gesundheit. Ein Ninja ernährt sich gesund und äußerst maßvoll. Die körperliche Ertüchtigung ist für ihn lebensnotwendig. Spaziergänge im Wald und im Dschungel sind grundlegend, um sich fit zu halten. Auch das Fliegen zwischen den Häusern der Stadt ist eine weitere, sehr unterhaltsame Trainingsübung.

Und – last but not least – die Teleportation. Ein Ninja zu sein, erlaubt es mir, in ein anderes Land zu kommen, ohne mich von meinen Lieben trennen zu müssen.Guatemala ist ein wunderschönes Land, aber gleichzeitig stellt es ein Trainingscamp dar: den idealen Ort, um die Überzeugung und die tatsächliche Berufung eines Schriftstellers auf die Probe zu stellen. Hier reicht es nicht einmal, den Nobelpreis verliehen zu bekommen, damit einem Autor Ruhm erwiesen wird, was auch Miguel Ángel Asturias schon lernen musste … Etwas, das in jedem anderen Land in der Gegend sogar dazu geführt hätte, dass eine Provinz umbenannt wird, löst hier lediglich weiter Groll, Argwohn, Ärgernisse oder völliges Desinteresse aus.

Die Moskitos sind die einzigen, die würdevoll während des Klatschen sterben, predigt das japanische Bildungswesen. Wer es also in diesem Land tatsächlich anstrebt, Literatur zu schreiben, muss von einer inneren Wahrheit besessen sein, die unbedingt und entgegen alle Hindernisse offenbart werden muss. In meinem Fall manifestiert sich diese innere Wahrheit in einem Schreiben wie das eines Ninjas, der mit den Händen fantasiert. Ein Ninja, der die Kalligraphie wie eine Vorbereitung auf den Kampf praktiziert, der versucht, den nationalen Himmel zu verändern, in dem er verbale Sterne versprüht.

(Leer: Manifiesto de la Literatura Ninja)

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ode an den Körper http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ode-an-den-korper/ Mon, 16 Aug 2010 07:47:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=775 Da war dieser Moment, um die Libido zu befreien. Um aus sich selbst herauszutreten. Sich für eine Weile gedrückt fühlen, angenommen, gebraucht. In der Hoffnung, ein Tüpfelchen vom Leben erhaschen zu können, weil es sich in der erstickenden Alltäglichkeit aufzulösen drohte.

Dafür betreten die beiden die Bar. Dort ist Poesie anscheinend nicht notwendig. Stattdessen gibt es Alkohol. Einen Cuba Libre, einen Wodka mit Zitronenlimo, noch einen Schnaps hinterher, und nach und nach verdunkelt sich die Wahrnehmung. Die Musik tut ihren Teil. Ein sich konstant wiederholender, dröhnender Rhythmus sorgt für die nötige Monotonie, die das Denken erschwert. Nachdenken ist genau das, was man nicht will. Die Gedanken haben bereits bewiesen, dass sie die Einsamkeit nicht auflösen können, deshalb ist nichts sinnvoller, als sie auszuschalten.

Unglücklicherweise schafft man das nicht vollständig und fährt deshalb auf Autopilot weiter. Fühlen, die Körperhüllen fallen lassen, so zeigt sich die vergegenständlichte, objektivierende Sexualität. Sie schätzen sich ab, sie nähern sich an und gehen wieder auf Distanz. Sie trinken noch einen Drink, egal was. Der Moment nimmt eine eigene Persönlichkeit an. Die Spieler spielen ihre Rollen. Das Spiel hat begonnen, und alles wird ein Teil davon.

Die Andeutung eines Wunsches, verzaubernde Bewegungen, die anziehend wirken, verschüttete Drinks, die einiges andeuten, streichelnde und zudrückende Hände, schauende, beißende Augen: ein unendliches Sich-Amüsieren. Die beiden dort spielen die Hauptrolle in einer Jagdszene, in der beide Jäger und Beute sein werden. Sie pressen sich aneinander, sie fließen ineinander, und sobald ein Lächeln auftaucht, erholen sich die Glieder. Der Körper entspannt sich, gibt sich hin. – Zu dir oder zu mir?

Mit Klarheit und Kopfschmerzen kündigt sich der neue Tag an. Beide sehen zum ersten Mal das gesamte Gesicht des Anderen und gehen mit ihren Körpern auf einen Kaffee. Ein neuer Arbeitstag beginnt, und man versinkt erneut in dem gewöhnlichen Tun. Das Über-Ich beginnt mit seiner Arbeit. Die Schuld, die Ängste, das Gute und das Böse tauchen wieder auf: Die Party ist vorbei. Sie betrachten sich argwöhnisch. Die gleichen Fragen der vergangenen Nacht werden gestellt, nun aber ohne die Beihilfe von Alkohol, Dunkelheit und Musik …

Maquina de Amar

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Notizen für eine Theorie http://superdemokraticos.com/poetologie/espanol-apuntes-para-una-teoria/ http://superdemokraticos.com/poetologie/espanol-apuntes-para-una-teoria/#comments Fri, 18 Jun 2010 17:09:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=227 EINS Meister des Tropfens, Kazike des Blackberry, DJ des kühlen Blonden, Bürger der Queen Size Matratze: Carlos Velazquez (San Pedro Amaro de la Purificación, Coahuila, 1978)  fragt sich: Sollte es in der Tat dasselbe sein, atole (populäres Maisgetränk) Umzurühren wie Hotels Umzupusten?  Währenddessen teilt er seine Zeit ein in a) sein Dasein als Grillhähnchen-Liferant, sein viertes Buch mit Kurzgeschichten, die furchtbarschöne Sage über eine Gruppe von Warenhausangstellten;  b) der Feinschliff von „La marrana negra de la literatura rosa“ (Die schwarze Sau der rosa Kitschliteratur), sein neues Buch, unter der pornographischen Vormundschaft der Eigenbrötler aus dem Sechsten Stock; c) der Text „El moquero del bardo“ (Das Rotztuch des Barden), sein erster Roman,  eine vermeintliche Biografie von Stephen Dedalus (obwohl es, wie Julián Herbert sagte,  eher den Anschein des Biopics von Buck Mulligan macht); d) der erbitterte Kampf mit „Las muñecas pagan mal“ (Die Puppen zahlen schlecht), ein Roman über Baseball, ein Billy the kid aus dem Barrio und die Liebe für Puppe, eine wiederaufgewärmte  Molly Bloom; und e)  die Komposition von „Los nietos del viejo Paulino“(Die Enkel des alten Paulino), das Werk, das dem Narcoroman seinen endgültigen Todesstoß verpassen wird.

ZWEI Lieblingsschüler von James Joyce, Autor des Buches „La Biblia Vaquera“ (Die Cowboy-Bibel), der B-Seite von „Dubliners“. Er ist auch für das Konzept „Condición posnorteña“ (Das postnorteñische Wissen) verantwortlich.  Lyotards kritischen Weisungen folgend ist er zu dem Schluss gelangt, dass es nach dem Tod der Postmoderne nur noch die Posnorteñität (verleihen Sie diesem Terminus globalen Charakter, denn es handelt sich hier nicht um einen Regionalismus, es steht außer Frage, dass sich die Welt nordamerikanisiert hat) möglich ist, und zwar in Kapsel-, Plastiktüten- oder Papierform. Als Theoretiker des Tapir-Lunchpakets aus genetisch verändertem  französischen Brot leidet er am unförmigen Schwimmringsyndrom: Poet der Chlamydien an einem Tag, Poet der Blasenentzündung am nächsten. Er gehört der Fifí-Generation an, die aus coahuilensischen Säugetieren besteht, deren Klassifikationssystem den hohen Temperaturen Rechnung trägt, die in Nordmexiko herrschen.

DREI Sein Stil ist voll und ganz von der coahuilensischen Schmuddelglamour-Ästhetik geprägt, eine von Julián Herbert, einem der scharfsinnigsten Verschwörer des Nordens, verschlüsselte Strömung. Darüber hinaus zweifelt er gleichermaßen ernsthaft an der historischen Rolle der Weizentortilla in den Ortschaften von Nordmexiko. In seiner Freizeit kollaboriert er spontan mit der Heerschar von Coronel Spangler (Jairo Calixto Albarrán) von der Tageszeitung Milenio. Dieser letzten verdankt er sein Rating als neuer shooting star des Gonzojournalismus. Und falls auch das noch nach leichter Muse klingen sollte, streitet er sich jeden Tag mit seiner Frau darüber, ob er das Tischset kaufen soll oder nicht, um vor dem Fernseher zu essen.

VIER Er ist gewieft. Er hat die schärfste Zunge der Grenze.

Übersetzung: Anne Becker

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Ein schmutziges Gewissen http://superdemokraticos.com/poetologie/ein-schmutziges-gewissen/ Fri, 18 Jun 2010 13:45:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=309 500 Zeichen:

Leo Felipe Campos wurde in San Félix geboren, einem entlegenen, heißen Dorf im Süden Venezuelas, und das war ihm nie peinlich. Trotz aller Vorhersagen überlebte er. Gewappnet mit einem Titel als Publizist arbeitete er als Sportjournalist und gründete einige kulturelle Zeitschriften, darunter auch die bekannte plátanoverde (grüne Banane). In seiner Freizeit posiert er als Model für Fernsehwerbung und gibt Geschichten, Chroniken und erotische Kurzgeschichten heraus. Außerdem leitet er auch das Blog mijaragual, das Tausende von Besuchern im Monat hat. Und er versichert, immer noch Jungfrau zu sein.

750 Zeichen:

Ich habe mich dreimal verändert: nach meiner ersten Trennung, nach dem Tod meiner Mutter und als meine Tochter aus dem Schoß einer tapferen Frau geboren wurde. Veränderung ist für mich ein Synonym für Wiedergeburt. Ich habe an 27 verschiedenen Orten in zwei Städten gelebt: Puerto Ordaz und Caracas, Orte die mir halfen, mich zu einem sensiblen, aber auch entschiedenen, manchmal sogar aggressiven Mann zu entwickeln. Mein Werk, gering aber vielversprechend, lässt sich in zwei Thematiken einteilen: die Liebe und den Sex. Die beiden gehören – in den meisten Fällen – zusammen; aber es gibt ein paar Kritiker  und Leser, die meinen, es sei etwas kitschig über die kleinen Hände meiner Tochter zu schreiben und es würde an Pornographie grenzen, über die Größe eines Penis zu schreiben, wie er sich in einer feuchten Vagina rein und raus bewegt – als ob die Angst, eines Nachts sein Leben durch die Lust zweier nackter, fleischloser Seelen zu verlieren, nicht Raum für neues Leben böte. Ich glaube an das Wort und unterstütze jegliche Initiative, die mich dazu ermuntert, über mich selbst zu sprechen. Journalismus gefällt mir, aber ich mag Autobiographien lieber – vor allem meine eigenen.

1000 Zeichen:

Schon mit drei Jahren war ich ein hervorragender Fußballspieler und mit fünf war ich der einzig hellhäutige Junge, der jede Mulattin in meinem Dorf zum Calipso auffordern konnte. Ich war nicht der König des Rhythmus, aber ich machte es auch gar nicht schlecht. In meiner Jugend wurde ich einmal von dem Freund einer dieser Mulattinen bedroht, der Junge wurde –aus Gründen, die ich nicht wissen wollte – El cuervo, der Rabe, genannt. Er hatte viele Brüder und man sagte, er habe auch eine Pistole. Und ich, ich hatte ein schmutziges Gewissen. Also nahm ich aus lauter Verzweiflung den Bus und fuhr nach Caracas, die einzige Stadt der Welt, die stolz damit prahlt, bei der Berechnung der Einwohnerzahl eine Fehlerquote von 100 Prozent  zu haben: niemand weiß, ob dort 4 Millionen oder 8 Millionen Menschen leben. Gestützt auf so eine Gewissheit, entschied ich mich für den leichtesten Studiengang: Publizistik. Ich las einige Gedichte und arbeitete als Schauspieler am Theater, am Kino als Regieassistent und beim Fernsehen als Sportjournalist. Ich gründete aus Erbarmen mit meinen Freunden auch zwei Kulturmagazine: plátanoverde (grüne Banane) und 2021 Pura Ficción (2021 Reine Fiktion). Damit gelangte ich zu ein bisschen Ruhm, aber wenig Ansehen, und seitdem mache ich nicht mehr viel. Ich widme mich der Erziehung meiner Tochter und dem Modeln fürs Fernsehen. In meiner Freizeit reise ich, veröffentliche Bücher und schreibe Zeitungsreportagen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Sich lustig machen über Pilatus http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/ http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/#comments Thu, 17 Jun 2010 17:20:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=268 Er heißt Fernando Barrientos, aber fast alle nennen ihn flaco, den Dünnen. Er wurde 1977 während des Karnevals geboren, just zu dem Zeitpunkt, als das Farbfernsehen nach Tarija kam und diesen Ort in noch ein telenoveleskeres Dorf verwandelte. Er glaubt, sich genau an den Moment zu erinnern, als von ihm im Alter von vier Jahren ein Foto gemacht wurde, das bis heute im Haus seiner Eltern vergrößert an der Wand hängt, und in Originalgröße seinen Kinderreisepass schmückt. 1986, kurz vor dem Morgengrauen eines merkwürdigen Tages, sah er den Kometen Halley vorbeifliegen. Als er zwölf Jahre alt war, kaufte er sich seine ersten Schallplatten und wurde ein Fan der Gewalt in der Musik. Nachdem er mit 18 Jahren seinem dogmatisch-militanten Dasein in der bedeutungslosen Heavy-Metall-Szene abgeschworen hatte, das ihm fast die Stimmbänder gekostet hätte, irrte er ein wenig unsicher umher, auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit, seine Gangster-Energie zu entladen.

Aus Neugierde für den Rauch, der aus einer Bruchbude mit unleserlichem Klingelschild stieß, lernte er ein Paar exzentrische Personen kennen, die ihn sogleich adoptierten. Doch kurz darauf floh er zum Soziologiestudium nach La Paz und befreite sich so für eine kurze Weile von ihnen. Im Jahr 2000, so als hätte ihn der Y2K Millenium-Effekt getroffen, stürzte er in eine neue Krise. Er verbarrikadierte sich zum Lesen, brachte die Zeit durcheinander und begann, ein paar kurze Texte zu schreiben, die in den Anthologien „Memoria de lo que vendrá“ (Erinnerung an das, was kommt), „Conductas erráticas“ (Irrige Verhaltensweisen) und anderen Sammelbänden, Magazinen und Zeitungen erschienen. In der dritten Person Singular zu sprechen, ist für ihn eine Art Therapie.

Er hat all seine Eigenschaften und Fehler einer Prüfung unterzogen und zieht es derzeit vor, leichterdings durchs Leben zu gehen. Eine andere, unverhofftere Metamorphose machte ihn 2008 zum Verleger (eine Tätigkeit, bei der man nichts verdient, aber die man genießt) des Verlags „El Cuervo“ (der Rabe). Er brüstet sich wie ein Pfau mit den ersten drei von ihm verlegten Büchern: „Cuaderno de Sombra“ (Heft des Schattens) von Julio Barriga; „Diario“ (Tagebuch) von Maximiliano Barrientos und „Vacaciones permanentes“ (Permanente Ferien) von Liliana Colanzi. Er ist verliebt in Miss Thailand. Dieses Jahr hat er vor, noch drei weitere Bücher zu verlegen und sich über Pilatus lustig zu machen.

Übersetzung: Anne Becker

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Experimentell und aus der Not heraus vielseitig verwendbar http://superdemokraticos.com/poetologie/ich-bin-experimentell-und-aus-der-not-heraus-vielseitig-verwendbar/ http://superdemokraticos.com/poetologie/ich-bin-experimentell-und-aus-der-not-heraus-vielseitig-verwendbar/#comments Thu, 17 Jun 2010 13:27:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=262 Egal wie oft ich auf meinem Stuhl hin und her rutsche, wie viele Fingernägel ich mir noch abkaue oder wie viele Schimpfwörter ich noch hinausschreie… mir fällt nichts ein, überhaupt gar nichts. Es ist jetzt schon über fünf Stunden her, dass ich aufgefordert wurde, eine narrative Biographie über mein Leben zu schreiben und der Computerbildschirm hält mir immer noch seine Leere, seine herausfordernde Unbeflecktheit unter die Nase. Und ich hab so wahnsinnige Lust, diese demütigende, weiße Jungfräulichkeit zu zerstören… aber nichts da. Und ich frage mich: „Ist dein Leben wirklich so langweilig? Hast du in diesen 35 Jahren deines Lebens nichts Bedeutendes gemacht, dass es wert wäre mitzuteilen?“

Ich steh vom Schreibtisch auf, geh in die Küche, mach das Radio an und nasche ein Stück Fleisch aus dem Topf, in dem der Eintopf von heute köchelt (Apropos: Ich hasse Eintöpfe – falls ihr mich irgendwann mal zum Mittagessen einladen solltet, was ich übrigens niemals annehmen würde, da ich unter Sozialphobie leide). Dann geh ich wieder aus der Küche, zurück an den Schreibtisch und setz mich hin. Während ich wieder und wieder das heiße Stück Hochlandrind kaue, beobachte ich erneut die immer noch unbefleckte, milchige Word-Seite. Ohne es zu wollen, konzentriere ich mich auf die Stimme im Radio, es ist Mittag, Nachrichtenzeit. „Evo hier“, „Evo da“, „Evo überall“. Und plötzlich fang ich an zu schreiben:

Mein Name ist Javier Badani, ich bin Bolivianer und ich bin „in“. Das bin ich, weil mein Land an sich „in“ ist. Seit 2005 treibt Präsident Evo Morales soziale und politische Prozesse voran, welche die Aufmerksamkeit des Kontinents und der Welt – im Guten wie im Schlechten – auf Bolivien gelenkt haben.

Und was soll ich anderes machen, als diese außergewöhnliche Situation – die mit der Chompa begann, dem typischen Pullover der indigenen Bevölkerung, den Evo in den europäischen Palästen trug – für mich zu nutzen und zu versuchen, dass meine Stimme als Bürger nach 35 Jahren zu Wort kommt?

Das ist es, ich habe gewonnen! Ich habe die makellose Reinheit der Seite befleckt. Diese Unverfrorenheit gibt mir ein Gefühl der Zufriedenheit. Kleine schwarze Flecken haben der Jungfräulichkeit dieser Seite ein Ende gesetzt. Meine Finger zittern immer noch von diesem Hochgefühl. Das ist ein kleiner Sieg für einen Menschen, wie ich es bin, experimentell und aus der Not heraus vielseitig verwendbar: im Journalismus, den ich seit sechs Jahren bei der Tageszeitung La Razón (La Paz) ausübe, wo ich die sonntägliche Beilage „Tendenzen“ leite; in der Fotografie, die es mir erlaubt, meine Bilder in kulturellen Einrichtungen in La Paz auszustellen; in der literarischen Welt, in der ich zwei Geschichten in einem Sammelband veröffentlichen durfte, und – wie alle, könnte man sagen – im Universum der Familie und in der Vaterrolle von zwei kleinen Töchtern, die mein Leben bereichern.

Mit meinem Abschluss in Publizistik von der Universität „Nuestra Señora de La Paz” konnte ich meine Fähigkeiten weiter ausbau…

Ich halte inne und lese auf dem Bildschirm, was ich gerade geschrieben habe. Ich muss lachen, denn ich weiß, dass es eine Lüge ist, die mir schon ein paar Türen geöffnet hat (nicht viele, um ehrlich zu sein), um Arbeit zu bekommen. In Wahrheit hab ich das Studium der Publizistik nicht erfolgreich beendet. Die Billardrunden, die ich leidenschaftlich spielte, der Traum, ein berühmter Literat und Musiker (was für eine Kombination!) zu werden und die extreme Abneigung für jegliche Struktur und Formel die besagt, „dass und wie ein Mensch im Leben erfolgreich zu sein habe“, haben mich weit von den Hörsälen der Uni entfernt.

Barkeeper, Wandmaler, Uhrmacher, Gärtner, Türsteher bei kulturellen Veranstaltungen (ich werde niemals die Nacht des 25. 03. 1997 vergessen, als ich der Magie von Ian Gillians Stimme, dem Sänger von Deep Purple, lauschte, auch wenn es nur vom Parkplatz aus war), Verkäufer von gewichtsreduzierenden Milchshakes, die nichts bringen, und von Alpakawollpullis, die von einem schlechtgelaunten Japaner entworfen wurden (der mich schlussendlich rauswarf, weil ich mich in eine Verkäuferin verliebte, in die er sich verknallt hatte). Ja, ich hab in meinem Leben schon alles gemacht, außer das, was ich wirklich will: mich ganz und gar der Schriftstellerei und der Fotografie zu widmen.

Ich bin in die Welt des Bloggens eingetreten, ohne es zu wollen. Es war im Jahr 2007 und damals weigerte ich mich, ein weiteres Opfer der technologischen Spielzeuge zu werden; ich hatte nicht einmal ein E-Mail-Adresse. „Ein Handy ist schon Belastung genug für so einen ‚Anti-Sozialen‘ wie mich“, überzeugte ich mich. Ein Freund überredete mich dann, ein Blog einzurichten, um meine Zeitungsreportagen zu veröffentlichen. Der erste Eintrag? „Der Club der Lügner“, ein Text über eine Gruppe älterer Menschen aus einem Dorf bei La Paz, die sich ab und an trafen, um sich fantastische Geschichten zu erzählen. Die Reaktion? Zwei Personen haben einen Kommentar hochgeladen: Einer hat mich beglückwünscht, der andere verrissen. Zum ersten Mal spürte ich die Macht des geschriebenen Wortes im Internet, Meinungen zu formen. „Kann es einen größeren Beweis der freien Meinungsäußerung geben?“ habe ich mich gefragt und füttere seitdem meine Seite mit Texten zu den verschiedensten Themen. Von da an nahm ich mir zudem vor, jede weiße Seite, die sich mir auf dem Bildschirm zeigt, zu entjungfern.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Obsession, das fehlende Volk zu erfinden http://superdemokraticos.com/poetologie/die-obsession-das-fehlende-volk-zu-erfinden/ http://superdemokraticos.com/poetologie/die-obsession-das-fehlende-volk-zu-erfinden/#comments Wed, 16 Jun 2010 22:29:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=269 Mein Name ist Lizabel Mónica und ich bin Kubanerin. Aufgewachsen bin ich mit den achtstündigen Reden unseres Comandante en Jefe (Oberbefehlshaber) und dem Schlachtruf „Pioniere für den Kommunismus, seien wir wie der Che!“ Im Alter von 13 Jahren beschäftigten mich nicht so sehr die Jungs, denn die Sorge, ob ich eine „Revolutionärin“ sei oder nicht. Als ich mein Studium an der Universität begann, hatte sich an diesem Panorama wenig geändert: Ich entschied mich für das Fach Geschichte anstelle von Literatur, was unbestreitbar meine Berufung gewesen wäre – ich habe mich selten von Notizheften und Stiften entfernen können -, weil ich darauf drängte, die Realität zu verstehen, die mich umgab. Ich schloss das Studium ab, fing an Texte zu publizieren und gründete 2007 ein alternatives Kulturprojekt…. heute bin ich 28 Jahre alt und ich weiß, dass die Politik immer einen wichtigen Platz in meinem Leben einnehmen wird.

Ich bin unter dem Einfluss der Kubanischen Revolution geboren. Seit ich klein war, verfolgte ich die Gespräche über mein nächstes Spielzeug mit genauso viel Interesse wie die Abhandlungen über eine Zukunft, in welcher der Kapitalismus nur noch eine ominöse Vergangenheit auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftssystem gewesen sein wird. Die Bühne meiner Kindheit betraten Kinderbücher zur selben Zeit wie das Magazin Sputnik, eine damals recht populäre Zeitschrift aus der Sowjetunion. Der Kalte Krieg hatte die kubanische Realität so sehr erfasst, dass das Verbot, nordamerikanische Musik zu hören, sinnvoll erschien, wenngleich meine Freunde es heimlich sehr wohl taten, während ich mich an die Regeln hielt, weil ich dachte, sie hätten einen guten Grund. Zuhause erlebte ich meine Eltern nicht nur voller Begeisterung für den „revolutionären Prozess“, in den sie tief versunken schienen, sondern auch ich erhielt eine Erziehung, die aus mir ein beispielhaftes Exemplar der neuen Gesellschaft machen sollte. Die nationale Zeitschrift Mujeres (Frauen), die eine weibliche Leserschaft über das adäquate Verhalten der Frau im Sozialismus belehrte, gehörte zu meiner Pflichtlektüre. Als die Berliner Mauer fiel, war ich acht Jahre alt, und ich ahnte nicht, dass dies ein Wendepunkt nicht nur in der Geschichte meines Landes, sondern auch in meinem eigenen Leben sein würde.

Wenn ich mein Leben aus heutiger Sicht betrachte, dann könnte ich sagen, dass aus jenem Mädchen, das Marxismus-Wettbewerbe gewann und in der Schule die Auszeichnung „Beso de la Patria“ (Kuss des Vaterlandes) erhielt, eine Frau geworden ist, die jenem Mädchen immer noch ähnelt, wenngleich sie sich verändert hat. 2006 schloss ich mein Studium an der Universität von Havanna mit einer Arbeit über eine Frau ab, die die Geschlechterpolitik der Revolution dekonstruierte. Für die Gutachter war die Argumentation meiner Arbeit zu kontrovers, obwohl ich für sie die beste Note erhielt. Im Anschluss arbeitete ich ein Jahr lang als Chefsekretärin für eine offizielle Kunst- und Literaturzeitschrift, eine Arbeit, die ich wieder aufkündigte, um meine eigene unabhängige Zeitschrift Desliz (Fauxpas) zu gründen. Meine kulturellen Arbeiten, seien es Kunstwerke, Literatur oder Essays, sind systemkritisch. Projekte wie „Die Kunst des Sexes“ sind zu politisch, um sie der seriösen Gesellschaft zu überlassen, und „Die politische Kunst“ ist zu sexy, um sie in Händen der Männer zu lassen. Cuba Fake News und Pensar Cuba en Tiempo Futuro (Über das Kuba der Zukunft nachdenken) sind literarische Werke und Kunstwerke, aber vor allem sind sie Zeugnisse eines von der Obsession gezeichneten Lebens. Die Obsession, „sich das Volk zu erschaffen, das fehlt“, wie Gilles Deleuze sagen würde.

Übersetzung: Anne Becker

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