Chile – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Wozu ein Gedichteregen? http://superdemokraticos.com/laender/chile/wozu-ein-gedichteregen/ Wed, 21 Dec 2011 10:46:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6245

Der „Gedichteregen“ (Originaltitel: Bombardements mit Gedichten) ist ein Projekt des chilenischen Kollektivs Casagrande, bei dem 100.000 Gedichte von 80 zeitgenössischen Autoren aus Helikoptern auf Städte abgeworfen werden, die in der Vergangenheit Bombardements erleiden mussten. Dieses Projekt wurde bisher schon in Santiago de Chile (Chile, 2001), Dubrovnik (Kroatien, 2002), Guernica (Baskenland, Spanien, 2004), Warschau (Polen, 2009) und in Berlin (Deutschland, 2010) umgesetzt. 2012 folgt London.

Beim Nachdenken über den Film „Let the right one in”, den ich gerade gesehen hatte, fiel mir der ehemalige nordkoreanische Staatschef Kim Il Sung ein. Der Film hatte mich wegen seines mega-realistischen Fokus, den er auf das Genre Vampir-Film richtet, beeindruckt. Ich versetzte mich in die Rolle des Protagonisten, der ein Monster war, sympathisierte ich mit ihm und wünschte ihm, dass er die schrecklichsten Gräueltaten verüben möge. Es mag dumm klingen, aber während ich nach Hause ging, dachte ich lange über die moralischen Entscheidungen nach, die ich während des Filmes getroffen hatte, aus Angst, dadurch negative Aspekte meines Selbst preisgegeben zu haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Geschichte erfunden war, meine Gefühle möglicherweise jedoch nicht. Ich kam zu keinem endgültigen Ergebnis, es kann schon sein, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber wenigstens habe ich nach all den Jahren endlich eine Erklärung für die Bilder gefunden, welche von den Nachrichtenagenturen aus Nordkorea über den Tod von Kim Il Sung gebracht wurden: Dort gab es schreiende, weinende Menschen, die mitten auf der Straße Zuckungen und Anfälle bekamen oder ihre Köpfe gegen die Busfenster schlugen. Zu Beginn schienen mir alle verrückt zu sein, aber in Wahrheit (wie ich jetzt festgestellt habe), waren diese Menschen einfach nicht aus dem Kino herausgegangen. Ich dagegen konnte aufgrund der Freiheit, die ich besitze, die moralischen Kodexe, die mir ein guter Vampir-Film angeboten hatte, annehmen, aber sie auch wieder dort zurücklassen, und nach dem Verlassen des Kinosaals meine früheren Positionen wieder einnehmen. Diese Freiheit besitzen die Bewohner Nordkoreas nicht; sie leben innerhalb des Kinos.

Wie man weiß, sind die Filme, die die Regierungsparteien in Ländern ohne freie Wahlen zeigen, dazu bestimmt, um ihr Fortbestehen an der Macht zu rechtfertigen. Dank dessem wird die nationale Geschichte neu geschrieben, es entsteht ein Epos, der erzählt, wie die aktuelle Situation im Land entstanden ist, und es entstehen Riten zur Verehrung eines neuen Pantheons voller Helden-Darsteller jenes Epos. Als Resultat auf die Fiktion wird eine neue Realität geboren, die Menschen lernen, auf eine andere Art und Weise zu leben. Und wenn der „geliebte Führer“, das „verehrte Oberhaupt“ oder wie auch immer sich der verehrte Führer gerne nennen lassen will, stirbt, dann winden sie sich auf öffentlichen Straßen, als wären sie mit Chili vergiftet worden.

Die Fiktion kann auf viele verschiedene Arten Realität schaffen. Verschieden Studien haben gezeigt, dass beispielsweise die schulische Leistung zu einem großen Teil von der Erwartungshaltung der Lehrer abhängt. Ein Lehrer, der der Meinung ist, sein Schüler würde keinen Fortschritte machen, ist in der Lage diesen davon zu überzeugen und ihn zu einem mittelmäßigen Erwachsenen zu machen und umgekehrt ist es genauso möglich. Zusammengefasst heißt das, dass die Fiktion des Lehrers zur Realität des Schülers wird, als ob das Verhalten des einen die vorgeschrieben Umlaufbahn, in der sich der andere bewegt, definiert.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sowohl Automobile als auch Himmelskörper vorgeschrieben Umlaufbahnen haben. Alles, was existiert und real ist, und somit auch die Fiktion, die ja nichts weiter als ein Vortäuschung der Realität ist, folgt einem Kurs, der vorhersehbar ist,  also an eine bestimmte Logik gebunden. Und es ist auch gut, dass das alles so ist, denn das erlaubt beispielsweise die Existenz des Lebens, welches ebenfalls vorhersehbar ist; man weiß ganz genau wann der Regen kommt und wann es sonnige Tage geben wird.

Die erlebte Erfahrung der Menschen während eines Gedichtregens ist ähnlich fiktiv; sie sehen nicht einfach eine Menge Papier aus einem Helikopter fallen, sondern etwas viel Tiefgründigeres. Und tatsächlich interpretieren sie jedes Gedicht, das vom Himmel gefallen ist und das sie auffangen konnten, als eine direkte und personalisierte Botschaft. Sie glauben bereits an die Botschaft, bevor sie diese erhalten haben.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Gedichteregen durch die Anerkennung und die Legitimation des Schmerzes, den die Stadt erfahren hat, die Art und Weise in der sich die Bewohner dieses Orts mit der Stadt und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. So wie mein Kollege Cristóbal Bianchi ein paar Jahre, nachdem wir dort Gedichte abgeworfen hatten, wieder nach Guernica reiste und ein paar Jugendliche befragte, wie ihre Erinnerung an das Bombardement sei. Ihm wurde eine Gegenfrage gestellt: „Welches der beiden? Das von 1973 oder das von 2004?“ In Guernica wird es niemals wieder ein Bombardement geben. Man kann sagen, dass die beiden Ereignisse, das eine als Trauma und das andere als Heilung, das eine als schreckliche und erfühlbare Realität und das andere als Simulation dieser Realität, aber als Fiktion im umgekehrten Sinn, dass diese zwei Ereignisse sind miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander wie die beiden Pole eines Magneten.

Wir erschaffen, genau wie die Regierung in Nordkorea, eine Fiktion, wir erschaffen die Illusion, dass die Poesie, die vom Himmel herunter an einen Ort kommt, der mit Schmerzen verbunden ist, von absolut komplexem symbolischem Wert ist, aber wie auch der Regisseur eines jeden guten Vampir-Films zwingen wir die Menschen nicht, diese Fiktion außerhalb des Kinos zu akzeptieren. Natürlich sollten sie sie akzeptieren, aber sie sollten sich deshalb nicht auf dem Boden wälzen.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Auf einer Jodorowksy-Massen-Séance http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/auf-einer-jodorowksy-massen-seance/ Tue, 29 Nov 2011 22:50:38 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6057 Ich bin Guru-geschädigt. Denn ein Exfreund schickte mir im Trenungsschmerz einmal monatelang Youtube-Videos mit schamanistischen Botschaften der Ich-Befreiung des chilenischen Autors, Filmemachers, Schamanen Alejandro Jodorowsky. Ich nannte ihn aus Wut nur noch Joderowsky, joder bedeutet, nett gesagt, „so ein Scheiß“. Nun hat dieser selbst ernannte Heiler, der angeblich in Paris einmal die Woche zu kostenlosen Beratungssitzungen in ein Café einlädt, ein neues Selbsthilfe-Buch geschrieben, „Metageneologia“. Es geht darin um die Macht, die familiäre Abstammungslinien über uns haben und wie wir uns von ihnen befreien können. Laut Jodorowsky haben wir nämlich kein individuelles, sondern ein kollektives Unbewusstes, das unseres Clans, zu dem wir einerseits gehören wollen, aber der uns andererseits auch einengt.

Tausende, vor allem junge Menschen sind gekommen, um im Open-Air-Auditorium der Buchmesse Guadalajara einer Psychomagie-Massen-Séance beizuwohnen. Die Sehnsucht nach Spiritualität. Ich bin skeptisch, ich brauche keine Therapie aus dem Internet oder Buch, keine vorgefertigten Sätze wie „Lass deine Seele frei“, und stelle mich in die Mitte, an einen schwarz verhüllten Lautsprecher, mit verschränkten Armen. Ich schaue mich immer wieder um, sehe konzentrierte Gesichter, offene Münder, Gläubige. Jodorowsky hält die Menge im Zaum. Er redet ruhig, geht auf und ab, ein rundes Spotlight verfolgt ihn, die silberne Folie im Hintergrund kräuselt sich zu einer Mondlandschaft. Er vermeidet jede Predigerhaltung, spielt den weisen Alten, den Geschichtenerzähler. Dass er hier etwas verkaufen will, ist ihm zwei Sätze wert: „Ein Buch sollte wie ein Kochbuch sein, das dir Rezepte gibt, dein eigener Heiler zu werden. Es ist ein Buch zum Lesen und Studieren. So, jetzt habe ich das Buch vorgestellt“, scherzt der Mann im schwarzen Anzug, der auf der Messe in weißer Kluft herumläuft. Er ist seine selbst geschaffene Figur. Neben ihm sitzen zwei stumme Verlagsleute der Edicion Siruela, wie Puppen oder wie Kontrolleure, sektenartig.

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Seine Anekdoten, das muss ich zugeben, sind nicht schlecht. Er erzählt von dem wunderschönen Stoff, den ein König für seine Königin weben ließ und den die Königin daraufhin verschmähte; den er noch einmal selbst nähte, und den sie dann bewunderte. „Der erste Stoff war mit Stolz gemacht, der zweite mit Liebe“, erklärt Jodorowsky. Oder die Geschichte vom Pinguin, der unbedingt ins Kino gehen wollte. „Nein, sagen die Leute auf der Straße, du gehörst in den Zoo.“ „Ich will aber nicht in den Zoo.“ Die Lektion: Lass deinen Pinguin frei, sperr ihn nicht ein in den Zoo der Kultur, der Religion, der Familie. Oder von dem Dorf, das im Schatten eines großen Berges liegt. Eines Tages geht ein alter Mann daran, mit einem Porzellanlöffel, den Berg abzutragen. „Warum machst du das, wird er gefragt?“ „Irgendjemand muss doch anfangen“, erwidert der Alte.

Ich habe nichts gegen Geschichtenerzähler, ich mag sie sogar. Aber immer wieder macht Jodorowsky Kunstpausen für den Applaus, lächelt selbstverliebt, weil der Applaus natürlich kommt. „Ich möchte, dass ihr den Weg hierher nicht vergebens gemacht habt“, sagt er. „Fragt mich, was ihr wollt.“ Und dann wird es ein bisschen unangenehm-intim. Eine junge Frau steht auf: „Meine Mutter liegt im Sterben, was soll ich tun.“ Jodorowsky geht zu dem Verlagsmann, drückt dessen Kopf an seine Brust, umarmt ihn fest. „Das kannst du tun. Sie in den Arm nehmen, wenn sie stirbt. Es ist ein natürlicher Prozess, du kannst ihn nicht aufhalten.“ „Danke, Meister.“ Sie setzt sich wieder. Jodorowsky analysiert Namen, etwa Linn, das käme von „luna“, sie wäre eine kreative, sensible Persönlichkeit. Mehr als eine halbe Stunde gibt er einzelnen Zuhörern Rat, wie bei einer Gruppen-Therapie, alle hören zu, die Seelen liegen nackt da.

Irgendwann wird es ihm zu viel, wir sollen jetzt alle zusammen eine menschliche Erfahrung machen, wenn ich es richtig verstehe und unsere kleinen Finger miteinander verhaken und in die Höhe strecken. „Für den Frieden“, sagt Jodorowsky, „für den Frieden des Sexus, auch wenn es schwierig ist, für den Frieden der Familie“, etc etc. Die Arme senken sich langsam nach unten. Es sah schön aus, als alle kleinen Finger in der Luft waren. Wirklich schön. Aber mehr Frieden hat es mir nicht gebracht. Ein paar Sätze schwingen in mir nach: „Ich glaube nicht an die politische Revolution, sondern an die poetische Re-Evolution.“ Oder: „Man ist nicht treu aus moralischen Gründen, sondern weil man alles hat, was man braucht.“ Oder: „Die Familie gibt uns Werte, aber auch Fallen.“

Ich quetsche mich durch die vollen Reihen, es reicht mir. Jodorowsky sagte, er wolle einen neuen Film machen, um Geld zu verbrennen: „La dansa de la realidad“. Der Realitätstanz. Mmh. Real erscheint mir hier nur die Begeisterung der Menschen. Der Rest ist Show. Die Lektion habe ich definitiv gelernt.

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Die Mauer und die Sprache http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/die-mauer-und-die-sprache/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/die-mauer-und-die-sprache/#comments Mon, 05 Sep 2011 07:04:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5018 Eine Mauer trennt meine rechte Hemisphäre von der linken. Ich erinnere mich an den Moment, als sie sie bauten. Ich schlief auf einem Sofa, war wahrscheinlich gerade auf dem Rückweg aus einem Nebel. Sie betäubten meinen Körper und traten in meinen Kopf ein. Es waren kleine, weiße Arbeiterchen, jeder von ihnen trug eine gestickte Nummer auf seiner Schürze. Sie stammten aus kommunistischen Gesellschaften, Verleumder der Geistes, und aus kapitalistischen Gesellschaften, die hartnäckig sogar die Sonne selbst in Geld verwandeln wollten. Sie hatten die passende Arbeit gefunden: Erbauer von Mauern.

Mauern, die Sprache von Ideen trennen sollen, Körper von Genitalien, Himmel von Höllen. Sie bieten uns Modelle an, oder Glaubensbekenntnisse oder Kulte. Sie werden dafür bezahlt, Mauern zu bauen, die uns von uns selbst trennen.

Diese Mauer ist nun in meinem Kopf. Der Fanatiker kommt, sucht mich, um mir eine Stelle in einer neuen Sekte anzubieten.

Der Pessimist versucht mich davon zu überzeugen, ein paar giftige Pillen zu schlucken, um dem Leid ein Ende zu bereiten. Er sagt zu mir: „Schließlich wirst du die Mauer in deinem Inneren zerstören und an ihrer Stelle werden sie drei neue erbauen.“

Dann kommt der Wissenschaftler: „Erforsche die zarte Struktur deiner Mauer und du wirst schließlich ihre Gründe und ihr Dasein verstehen. Du könntest dich diesen außergewöhnlichen Architekten anschließen.“ Woher kommt all dieser Psycho-Terror? Wie ist es nur möglich, dass ich meinen Kopf soweit geöffnet habe, dass diese Mauer-Bauer ungestraft ihrer Wissenschaft nachgehen können? Wut steigt in meinem Inneren auf, danach Kälte und Verlorenheit. Sie haben mich an den Feind ausgeliefert, an das Gespenst, das jede halbe Stunde seinen Meinung ändert. Und dieses Gespenst: Was für eine Technologie benutzt es, wieso kennt es mich so gut, dass es mich zwingt, dahin zurückzugehen, wohin ich keinerlei Intention verspürte zurückzukehren?

Ich fand mich in einem Zimmer mit einer Deckenhöhe von etwa fünfeinhalb Meter wieder. Und ich lernte ein Alphabet, eine Sprache, sah ein Loch und schaute durch:

Der Psycho-Terror bemächtigte sich der Wolken und der Fenster und der Schulen. Große Mauern drangen in die Augen der Schlafenden ein und die Depressiven beschrieben sie und ängstigen sich.

(Die Seele treibt auf einer Straße, die „Doppeldeutigkeit der Evolution“ heißt.) Bei meiner Rückkehr aus dem Nebel konnte ich auf einige zusätzliche Vorfahren bezüglich des Geistes zählen, will heißen, ich konnte „auf neue Augen“ zählen. Leon Felipe und Arthur Rimbaud gaben ihnen Begleitschutz.

„Der Terror quoll plötzlich aus dem Schoß eines Schlosses, das ich einsam als Kind bewohnte. Enge Familienangehörige trieben mich zu Abenteuern im Inneren des Schlosses an.“

Was mach ich nun mit dieser Mauer?

Ich sprenge sie mit einem Schrei, der Blut auf die Blumen und Menschen spritzt?

Angst erfüllt mich bei dem Gedanken den Erbauer persönlich treffen zu müssen. Er nistet in einem Schloss nahe dem großen Meer der Mehrdeutigkeit. (Ich trennte die Wellen von einander, faltete sie wie die Ecken des Papiers.) Der Architekt konnte nicht gefunden werden. Er war gerade auf der Jagd, in einem dichten und deprimierten Wald.

„Der Architekt ist sich selbst überdrüssig“ ertönte es an der Spitze der historischen Avantgarde.

Nun hatte ich das Gesicht eines Maulwurfes und begann, Wasser auf die einzelnen Steine der Mauer zu zeichnen. Ich sah liegende Männer, manche mit den Zeichen der Pest auf ihren Körpern.

Meister und Sklaven sah ich beim Pilgerzug entlang der Mauer. Eine Menschenmenge steinigte einen Dieb, und dahinter, auf einem Stuhl saß ein Weiser, ein heiliges Buch lesend.

Die Sonne warf parallele Schatten auf die Welt, und ich wusste von den Siedlungen entlang der Mauer und von anderen Büchern entlang der Mauer.

In den kurzen Pausen meines Durstes wuchs meine Liebe unter meinen Rippen, und ich begriff, dass die Mauer, die mich von mir selbst trennt, eine Sprache war, die ich bisher noch nicht gelernt hatte.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Saftig glänzender Humus http://superdemokraticos.com/themen/burger/saftig-glanzender-humus/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/saftig-glanzender-humus/#comments Wed, 01 Jun 2011 16:55:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3880 Spanien durchlebt eine Zeit der sozialen Bewegungen, der Veränderung und der Unruhen, die das Land zwingen, in die Zukunft zu schauen. Umwelt, Wirtschaft und Kulturen werden plötzlich zusammengedacht.

Dieses Foto, das ich während einer Demonstration gemacht habe, halte ich für symbolisch. Neben dem Plakat ("Ihr repräsentiert uns nicht, ihr nennt es Demokratie und das ist es nicht") sieht man im Hintergrund das Rathaus von Saragossa.

Der Dichter Antonio Gamoneda schuf die Grundlage für das Verständnis der derzeitigen intellektuellen Evolution Spaniens. Sein Werk zählt zu der erlesensten Poesie, die in Europa in den letzten 50 Jahren verfasst wurde, und er verfasste einige Verse, die nahezu perfekt das widerspiegeln, was die spanische Gesellschaft derzeit durchlebt – wenn wir uns mit subtiler Eleganz des rhetorischen Stilmittels der Hyperbel bedienen:

Es werden bald neunzehn Jahre sein,/ die ich meinem Herrn diene./ Seit neunzehn Jahren gibt er mir zu essen,/ und noch immer konnte ich sein Gesicht nicht sehen/ (…)/ Es werden bald neunzehn Jahre sein,/ in denen ich mein Haus verlasse und durch die Kälte gehe,/bis ich sein Haus betrete und er mir ein Licht,/ ein gelbes, auf den Kopf stellt.

Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht „Blues del amo“ und zweifelsfrei lässt sich feststellen, dass es sich bei diesem „Herren“ um die Wirtschaft handelt, die sich das Land mit fünf Millionen Arbeitslosen (und davon sind 40 Prozent junge Menschen mit Hochschulabschluss) und einem kollabierten Banken-System hält, in das der spanische Staat 4 Prozent des BIP investieren musste, um die Wirtschaftseinheiten „zu retten“, und die schlussendlich auch die generelle Unzufriedenheit über die Nutzung von Atomstrom verursacht hat. Letzten März gab es eine Großdemonstration für die Schließung von sechs der zehn Atomkraftwerke, die derzeit in Spanien am Netz sind.

Die Katastrophe von Fukushima versetzte soziale Bewegungen in aller Welt in Alarmbereitschaft. Im Falle Spaniens waren die Proteste gegen die unheilbringende Kernkraft als Energiequelle nicht ganz so massiv wie in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Dennoch sind sie zum Teil der Auslöser für eine Reihe von Kundgebungen, die im öffentlichen Raum und auf der Straße stattfinden werden, bei denen im Grunde genommen das gesamte politische Handeln des Landes in Frage gestellt wird. Am 22. Mai fanden Kommunal- und Regionalwahlen statt. Mit einer Stimmenenthaltung von 33 Prozent der Wahlberechtigten übernahm die Partido Popular (PP) in 14 von 17 Provinzen der politischen Landschaft Spaniens die Macht. Dieser massive Sieg der rechtsgerichteten Partei repräsentiert nur 22 Prozent der Wählerschaft, was etwa 8 Millionen Menschen entspricht.

Spanien hat 46 Millionen Einwohner. Addiert man die Zahl der Wähler, die den Sieg der PP verursacht haben, mit der Zahl der Arbeitslosen, ist das Ergebnis immer noch niedriger als die Zahl der Menschen, die letzten Sonntag nicht zur Wahl gegangen sind. Dies führt mich erneut zu den Versen von Gamoneda. Irgendetwas ist dieses Mal passiert. Die politische Stimme, die sich bei der Wahl enthalten hat, manifestierte sich auf einer anderen Ebene. Sie bevölkerte die öffentlichen Plätze der meisten spanischen Städte, um dort „zu campieren“ und auf massive Weise dafür zu plädieren, das traditionelle Zweiparteien-System, welches das politische Leben des Landes bestimmt, abzuschaffen und drastische wirtschaftspolitische Veränderungen vorzunehmen. Denn die derzeitige wirtschaftliche Lage erinnert viele Menschen an die enormen Mängel unter Franco. Unter dem Namen „15-M“ (Bewegung 15M) haben verschiedene soziale Bewegungen gemeinsame Aktionen einberufen. Getragen von sozialen Netzwerken entschied dieses Aktionsbündnis, am 15. Mai von seinem Bürgerrecht Gebrauch zu machen und das System zu erschüttern. An diesem Tag bauten tausende junger Spanier ihre Protestcamps rund um die U-Bahn Station „Sol“, im Herzen Madrids, auf und setzten diese Aktion in den wichtigsten Städten Spaniens fort.

Das Bündnis, das die Proteste initiierte, trägt den Namen Democracia Real Ya (Echte Demokratie Jetzt). Es gründete sich vor drei Monaten und entstand aus sozialen Netzwerken wie Facebook. Es definiert sich als parteilos, gewaltfrei und umweltbewusst, und absolut nicht einverstanden mit dem aktuellen politischen System und der spanischen Wirtschaft. Es finanziert sich hauptsächlich aus Spenden und verwaltet sich selbst; außerdem beabsichtigt es, eine Bewegung zu werden, weniger kurzlebig als die Studentenproteste und Unibesetzungen Ende 2008/Anfang 2009 gegen die Bologna-Reformen. Die neuen Protestierenden wollen drastische Veränderungen erzielen, planen für den kommenden Sommer Massenveranstaltungen und betreuen eine sehr gut besuchte Webseite. Die ersten Auswirkung ist der radikale Zerfall der Linken, da diese sich großteils aus der Wählerschaft zusammengesetzt hatte, die nun Democracia Real Ya und andere soziale Bewegungen unterstützt. Die Partido Socialista Obrero Español, PSOE, (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) ist dieser Veränderung als erste zum Opfer gefallen: Sie erlitt einen massiven und historischen Verlust und regiert nun nur noch in einer einzigen Provinz, Asturien. Auch der amtierende Präsident und Mitglied dieser Koalition José Luis Rodríguez Zapatero, der sich in der linken Mitte verortet, hat diese schwierige Situation als „Schach Matt” anerkannt.

Zu diesem Thema existiert auch eine soziologische Debatte, bei der die Intellektuellen sich nicht einig werden können, ob wir kurz vor einer spanischen Version des „Mai 1968“ stehen oder ob es sich nur um eine vorübergehende Phase der sozialer Unzufriedenheit handelt. Einig sind sie sich nur darin, die Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit dieser Aktionen zu betonen. Aktionen, die ich als ausländischer Mitbürger, der seit vielen Jahren in diesem widersprüchlichen und gleichzeitig faszinierenden Land lebt, noch nie gesehen habe. Die spanische Lebensweise, die sich mit Sinnlichkeit der Glut des mediterranen Leben und den Fiestas widmet, spielt gewöhnlicherweise in Unzufriedenheitsbekundungen keine Hauptrolle und demonstriert auch nicht übermäßig viel – ganz im Gegensatz zu den lateinamerikanischen Ländern, die auf eine lange Tradition von organisierten und teilweise auch dramatischen Demonstrationen zurückblicken können und ausreichend Erfahrung darin haben, den politischen Mächten gewaltsam entgegenzutreten. Der Konformismus, der bei vielen noch aus den Jahren des wirtschaftlichen Wohlstands der 1990er Jahre herrührt, in denen eine starke und im akademischen Sinn sehr gut ausgebildete Mittelschicht entstand, verwässerte teilweise die Einstellung der Protestler.

Georges Bataille reflektierte auf seine meisterhafte Art in seiner Essaysammlung „La Literatura y el Mal“ (Die Literatur und das Böse) darüber, ob revolutionäre Zeiten den Bereichen Kunst und Literatur nicht mehr Glanz verleihen müssten. Die sozialen Bewegungen und die Presse werden dauerhaft im Konflikt stehen, was in letzter Instanz die Entstehung der Kunst beeinflussen wird. Bataille konstatiert, dass die Französische Revolution nicht unmittelbar eine Generation herausragender Literaten hervorgebracht hat. Er sieht im Marquis de Sade einen der großen Autoren der Revolution, auch trotz der Tatsache, dass dieser zur jakobinischen Wertvorstellung der brandneuen französischen Nation absolut keinen Bezug hatte. Bataille möchte damit den rebellischen Charakter von Literatur betonen, in der die Vorstellung von Gut und Böse so verworren ist, sich sogar mischen und hybride werden, dass es schwierig scheint, in Kategorien wie moralisch und unmoralisch zu urteilen. In dieser Epoche und zweifelsfrei auch heute wieder ist zu sehen, dass der Konflikt zwischen Gut und Böse im Konflikt mit der Macht gipfelt, in der Art und Weise wie die Verlagerung der Energie stattfindet, von der Michel Foucault später sprach. Die Macht ist überall und fließt. Sie verbreitet Information durch die Presse, über Internet-Seiten oder Facebook. Gedichte und Essays, die über die soziale Unruhen verfasst werden, vermitteln etwas von der Gier nach Macht, aber auch von dem Drang, gegen sie anzukämpfen. Bataille spricht von Grenzerfahrungen der Kreativität unter dem Schutz der sozialen Veränderungen, insbesondere seinen Essays über de Sade, Blake, Baudelaire oder Kafka. Der Humus, der aus diesen Grenzerfahrungen gewonnen wird, ist der Humus der sozialen Veränderungen und der ästhetischen Radikalisierung.

Was gerade in Spanien passiert, entstand meiner Meinung nach genau auf diesem Nährboden und wird sich in Zukunft davon ernähren. In Krisenzeiten fragen wir nach Identität. Ich denke etwa an die Schriftsteller und Intellektuellen, die je unterschiedliche Beiträge geleistet haben und dennoch alle in der kosmopolitischen Avantgarde und der subversiven und hinterfragenden Dynamik vereint sind. Ich denke an Paul Celan, Edward Said, David Foster Wallace oder Robert Bolaño. Trotz ihrer extrem unterschiedlichen Werke und den definierten Rollen innerhalb des imaginären westlichen Kollektivs, haben sie erreicht, dass viele von uns Identität als ein Perpetu-Transito, als ewiges Pendeln zwischen Erinnerung, Traum, Lektüre und direkter Realität denken. Ich würde gerne die aktuellen Proteste als saftig glänzenden Humus sehen, damit daraus jene Persönlichkeiten sprießen können, die in der Lage sind, die Realität in Frage zu stellen und auf der Idee des Neuen zu bestehen, auf ästhetische Geschwindigkeiten, die unser Leben lenken und uns zu tadellosen Bürgern machen können.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Seismisch, vulkanisch und „tsunamisch“ und bald vielleicht auch noch nuklear. (Brief an ein Mädchen, das eines Tages aus Celle kommen wird) http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/seismisch-vulkanisch-und-%e2%80%9etsunamisch%e2%80%9c-und-bald-vielleicht-auch-noch-nuklear-brief-an-ein-madchen-das-eines-tages-aus-celle-kommen-wird/ Fri, 13 May 2011 07:00:06 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3794 S., geliebte S., ich suche diesen blauen oder schwarzen Stift und kann ihn nicht finden. Das wirst du wahrscheinlich schon gemerkt haben. Meine Schrift ist etwas holprig, denn eigentlich habe mir die schlechte Angewohnheit des Briefeschreibens abgewöhnt. Die Firmen und Anbieter für die Wasserversorgung, für Waschmaschinen und Strom sind immer noch geübt in diesem physischen Briefwechsel, aber mit dieser epigrammatischen und numerischen Art und Weise der Kommunikation überbrachten sie immer nur eine einzige, furchtbare Botschaft: das, was man ihnen schuldet – und man schuldet ihnen immer irgendwas. Uns blieb nur die E-Mail, aber die kam schon gehetzt auf die Welt: Ihre Antworten drängen immer, heute, denn die Buchstaben ruhen nie, und die Antworten magern durch die Laufschritte in Lichtgeschwindigkeit deutlich ab. Damit ist man nicht mehr in der Lage, abwechselnd Monologe zu führen oder jegliche Zusicherungen bis zur Offensichtlichkeit genüsslich durchzukauen. Aber es gibt kein Zurück mehr. In Eile und eilig schrieb ich dir, angetrieben von dem Erd- und Seebeben, das Chile und Japan vereint hat und von dem nuklearen Verderben, das uns trennen wird. Wenn jemand schon einmal diese Angst erlebt hat, kann er sie meilenweit riechen, auch auf große Entfernung – Erwachsenwerden bedeutet zu lernen, Angst zu haben. Ich habe gezögert, dir nach all den Jahren zu schreiben, und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus, wenn ich daran denke, dass du nichts mehr so vorfinden wirst wie es war, wenn du wieder in dieses Chile zurückkehrst, das zu einem Satellit seiner selbst geworden ist, voller Irrungen und erzwungenem Gelächter. Tellurisch, seismisch, vulkanisch und „tsunamisch“ und dann vielleicht auch noch nuklear: wunderschön wie eine Gedenktafel, voll von schwerem Wein und Osterliteratur.

Ich hätte es dir sagen sollen, um mit der allgegenwärtigen Phrase zu spielen und sie doch in Frage zu stellen: Die nukleare Energie wird die Welt retten. Jetzt muss die Welt vor der nuklearen Energie gerettet werden. Was für ein Hohn. Schau dir an, wer das sagt und dann weißt du an was er angeschlossen ist. Da ich der Unwissende bin und mit mir selbst allein, folge ich dem elektrischen – und eklektischen – Kabel, das mich nun mit dir verbindet. Natürlich kommt es nicht bei einem riesigen Kernkraftwerk an, in dem das Atom gespaltet wird, es reicht nicht bis zu dem, das Japan gerade bluten lässt, zu dieser Fabrik der blitzenden Dolchstöße. Nein. Aber mein Draht zur Elektrizität reicht bis zu einem riesigen Wasserkraftwerk, das die Länder der indigenen Vorfahren geflutet hat. Länder, mit Jahrtausenden alten Wäldern und diesem Extrakt der Artenvielfalt, die uns so unglaublich überfordert, dass uns der Mund offenstehen bleibt, aber das uns am Leben erhält. Somit wird jeder dieser strahlenden Dolchblitze, für immer und ewig ein Dolchstoß bleiben. Es stimmt schon: Die hauptsächliche Verschmutzung wird von den großen Industrien und Bergbau-Gesellschaften verursacht – diejenigen mit Füßen aus Kupfer und Stechschritt aus Eisen – und nicht von Halogenbeleuchtungen der Fußgängerzonen oder von Computern und auch nicht vom Bügeleisen oder Weihnachtsbaum. Weniger Schuld, aber schuld = Schuld, trotzdem.

Und die Todesstöße des Lichts produzieren und reproduzieren: den Mensch, das zum Tode verurteilte Wesen. Das ist weder die alte Leier, noch dummes Geschwätz. Ich schreibe dir mit strahlenden Dolchstößen, die Flüsse vernichtet haben. Das ist weder besser noch schlechter als jene zu nutzen und zu bezahlen und zu bewerben, die ein Atom zusammenhalten, diese ionisierende Strahlung, diese radioaktiven Isotopen, die das Celle deiner Kindheit und das Berlin deines Erwachsenen-Fahrrads bewegen. Blitzende Messerstiche, Windsclae, Mayak, Tokaimura mon amour. Der Wind, dein germanischer Wind, mit seinen 13,8 Watt Windenergie bewahrt dich hoffentlich beim Radfahren, damit auch unsere Enkel herumradeln können. Wir werden hier von hydroelektrischen und thermoelektrischen Kohlekraftwerken überflutet, da wir in zehn Jahren viermal so viel Strom benötigen werden, sei es um dir eine Mail zu schicken, um einen Berg in zwei Hälften zu spalten (Barrick Gold Corporation), sei es, um den letzten Wald aus Cellulose zu roden (Arauco S. A.) – (und ich habe gerade meinen schwarzen Stift wiedergefunden). Genau dafür hat mein schmales Land und seine überaufmerksame Regierung vor einigen Wochen einen Vertrag über die atomenergetische Zusammenarbeit mit Europa abgeschlossen. Schöne S., aus Celle, ich bin ein Mittäter dieser kleinen Heimat, die systematisch die Abkommen über den Umweltschutz verletzt und zum Gewalttäter wird, wenn ihr eine Papier-Fabrik geschlossen wird.

Beängstigend und beschissen wird ein Vaterland mit prall gefüllten Taschen sein, mit schöngerechneten Zahlen und Schmutz auf den weißen Westen unter seinem souverän getragenen Anzug, ein Land, das vortäuscht, die Welt nicht zu verstehen, um sich an ihr bereichern zu können. Du würdest davon wissen, wenn so etwas hier zur gleichen Zeit passieren würde – also Erdbeben und Verstrahlung –, wir wären nicht wie die Japaner, denn keiner glaubt mehr an die Flüchtigkeit der Dinge, an den „Mono no aware“ oder den dezenten Schmerz vor dem Verlust. Keiner glaubt an die Beherrschung. Wir sind nicht Japan und werden es auch nicht sein, denn wir hier heulen aus tiefstem Herzen wie die kleinen Kinder und stimmen auf tiefstem Herzen das Wehklagen an. Diese derart inbrünstige Tiefe wird die Skizze des Aufschreis sein.

Aber du wirst es schon sehen, vieles in meinem Süden bewegt sich dank Wasser und Holz, und jetzt sind wir auch frei von Kernspaltung und von der Rache der Atome. Von denen, die dich nicht in den Park gelassen haben und dich davon abhielten Pilze im Wald zu sammeln, wegen des Windes und des Sauren Regens von Tschernobyl. Du wirst hier sein und es spüren: Noch haben wir einen grünen Uterus, unberührt und zerbrechlich, der keine Vorurteile fällt, da er nicht einmal Urteile fällt. Wir werden darüber sprechen, während wir durch die Haselnusshaine wandern. Und wir werden nicht wissen wie viel noch fehlt, bis unsere Fukushima am Herd des Heims ankommt, auch wenn im Hof noch Staudämme wachsen.

Ja, meine geliebte S., ich gebe zu, ich habe mich bei meinen Überlegungen an Jaques Rigaut erinnert: Einige Menschen machen Geld, andere Neurasthenie, andere Kinder. Einige machen Spaß, einige Liebe und einige Trauer. Wie lange Zeit habe ich versucht etwas zu machen! Man kann nichts machen: Man kann nichts machen. Möglicherweise gibt es keine widerlicheren und perverseren Dinge wie vorgetäuschte Zärtlichkeiten und menschliche Wärme als Ersatz für die Gerechtigkeit. Mitschuldig, finde ich keine tröstliche Ruhe auf dem Abhang der Schuld, wie du weißt: Ich erhänge mich Schritt für Schritt. Ich hänge mich daran auf, weil ich baumle. In jedem auf Raten Gehenkten gibt es einen Rädelsführer, der anklagt, und einen Geistlichen, der sich räuspert. Ich gebe mich nicht auf, ich hänge mich daran auf, weil ich aufrecht stehen bleiben will, vertikal versuche ich das Gleichgewicht zu halten wie ein Lebender: Die Poesie stirbt nicht, sie schläft nur, würde Alfonso Alcalde sagen.

Aber S., geliebte S., du wirst kommen und die Zeiten werden immer noch erfreulich sein. Die Erde wird ab und zu erbeben, wie sie das eben so macht, um die blinden Körper aufzuwecken. Du wirst an realen Stränden spazieren, mit Wasser, das näher kommt und sich zurückzieht, grün und real wie die Freude über deinen Besuch. Es wird sauber und ausreichend regnen, und deshalb werden in allen Jahreszeiten die Bäume blühen. Es wird wie der beste Frühling in Celle sein, deinem Dorf mit langen Beinen und roten Hölzern. Ich werde dir später schreiben, ich werde dir morgen schreiben, ich werde dir zufällig schreiben, damit du mir antwortest, meine Kleine aus Wladiwostok, mein Mädchen aus Celle, atemberaubende Biene.

Valdivia / Angachilla/ Herbst 2011

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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