Bolivien – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Gruppen-Trolling in der fünften Internationale http://superdemokraticos.com/poetologie/gruppen-trolling-in-der-funften-internationale/ Fri, 16 Nov 2012 16:30:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6458

Wir sagen: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Dort, wo Facebook der drittgrößte Staat der Welt ist, wo es keine Netiquette gibt, aber Nutzungsverträge, die niemand liest, wo Liebe wirklich immer ein Wort ist, wo Zustimmung nur einen Mausklick bedeutet, wo wir uns mit Unbekannten anfreunden und Bekannte entfreunden und wo das Dark Web von selbsterwählten Nerds und Hackern regiert wird, wo Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht sich in HTML auflösen, sind wir Hyperlinks in einer hyperlinken Zeit.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im Netz entstehen.

Innerhalb der Mauern der hyperlinken Zeit entwickelt sich die Utopie eines vormarxistischen Ursozialismus. Das hegelianische Fortschrittsdenken hat sich aufgelöst, die lineare Hoheitsbetrachtung der Geschichte hat abgedankt. Sich über die technische Revolution neu zu erfinden, bedeutet, flüssige Zeit- und Raumverständnisse zu vertreten. Zum Beispiel: am Berliner Schreibtisch bolivianisches Radio hören. Also muss heute jeder ein Anarchist sein. Denn das Internet bedeutet Freiheit, Unordnung, unkontrolliertes Sprechen und Schreiben, zumindest in seinem Idealzustand. Das freie Web lässt uns in kurzer Zeit einfach und schnell neue Ideen entdecken, Ideen, gegenüber denen es eventuell Vorurteile gibt. Gegebene Machtstrukturen werden durch diese Entwicklungen ernsthaft in Frage gestellt – die Reaktion darauf ist, dass im Namen von Sicherheit und Gerechtigkeit, Einschränkungen vorgenommen werden. Die Bullen sind schon da, aber wir fordern Wlan weltweit. Das Netz darf nicht kolonialisiert werden, es gehört allen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur im freien Netz entstehen.

Vor allem sind wir im Netz sprachlich verfasste Wesen. Unsere Subjektivität stellt sich durch Worte und Bilder dar, in ästhetischen Entscheidungen, die sich auf kollektives Unterbewusstes beziehen. Die geheimen Sehnsüchte der Menschen treffen sich online.

Das Netz gibt uns die Möglichkeit, unsere eigene Minderheit weltweit maßzuschneidern, ständig vernetzt, oft allein, als Aktivisten für die Verbreitung von Inhalten. In der Anonymität unserer Avatare brauchen wir uns nicht an dominante Meinungen anzupassen – vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran, hoch, runter, lady bum. So können Stereotype eher gebrochen werden.

Daher ist das konsequenteste befreite Schreibverhalten das Schreiben von Blogs. Blogger sind bewusste Internet-Nihilisten. Ihre „zero comments“-Haltung ist eine positive Strategie für das Vorbeischreiben am Mainstream und am Verlagswesen der Bertelsmänner und Pinguine. Bertelsmannprodukte sollte man kennzeichnen wie Zigarettenschachteln. „Achtung: Die Pseudokultur, die wir verkaufen, kann ideologischen Schaden zufügen.“

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur in freien Räumen im Netz entstehen.

Wir sind umgeben von einer Ästhetik der Oberfläche. Das ist auch das Problem von linken Parteien und Institutionen, die sich auf eine oberflächlich-linke Ikonographie beziehen, die mehr der Nostalgie gewidmet ist als einem neuen Umgang miteinander. Hauptsache, Rot, Rot, Rot. Und mit Bart. Gerne auch ein Che-Guevara-Jutebeutel. Hammer und Sichel. Dabei ist das Arbeiterproletariat durch das Proletariat der Tastatur-Dienstleister ersetzt worden, die eher einem Chat auf Global English als einer Gewerkschaft beitreten würden. Doch wo ist die übernationale Lobby für die neuen Netzarbeiter? Wer kämpft für das globale Grundeinkommen von Freidenkern, die demokratische Strukturen aufrechterhalten wollen?

Das Internet muss als politischer und kultureller Ort aufgewertet werden. Es gräbt Klassiker aus und rettet sie vor dem Vergessen. Die Bibliothekare des Internets sind Kopisten, die ihre Lieblingstexte abschreiben, mit URLs versehen und der globalen Leserschaft schenken. Hyperlinke Autoren müssen sich stärker mit ihrem linken Stammbaum beschäftigen, auch mit dem Teil des Stammbaumes, der gezwungen war, Europa zu verlassen. Lateinamerika ist überfüllt von Anarchisten und Trotzkisten, zwei linken Minderheiten, die sich mit Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft beschäftigt haben und die es nie groß in die Medien geschafft haben.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch Wissenskommunen entstehen.

Lasst uns über Trotzki reden. Er war einer der weniger Revoluzzer, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigt haben. Ein Mann mit Bart. Und ein Exilant in Lateinamerika. Wir haben sein Haus im bürgerlichen Stadtteil Coyoacan in Megalo-Mexiko-City besucht. Seinen Bunker. Den Innenhof, in dem er Kaninchen und Hennen in Ställen züchtete, weil er glaubte, dass der revolutionäre Schreiber sowohl intellektuelle Arbeit als auch Handarbeit leisten müsse.

Die erste Bedingung für den Künstler ist die thematische Freiheit, um zu einer eigenen Ästhetik zu gelangen, schrieben Trotzki und Breton in einem gemeinsamen Manifest, das sie 1938 in Mexiko verfasst haben. Daher wird ein Roman, der den Untertitel „linker Roman“ trägt, als linker Roman scheitern. Das Andocken an eine linke Systemästhetik nimmt dem Kunstwerk seine ästhetische Eigenständigkeit. Wir müssen unterscheiden zwischen links als Label, als Aufkleber auf dem Fahrrad oder Auto, und zwischen hyperlinks als utopischem Aktionismus. Ein hyperlinker Autor ist der, der frei schreibt und als Mensch gerecht handelt. Freie Kunst wird von den orthodoxen Linken, die es in die Geschichtsbücher geschafft haben, nicht allzu sehr geschätzt.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann nur durch freie Geister im Netz entstehen.

Als freie Geister werfen wir uns tiefe Blicke zu, in denen sich die Gegenwart zur Unendlichkeit ausdehnt. Wir dürfen auch mal was Romantisches sagen. Die Zukunft, in der wir uns treffen, verläuft als kodierte Doppel-Helix, sie besteht aus unendlichen Kombinationen von Nullen und Einsen, Xen und Ypsilons. Die fünfte Sonne der Mayas fängt in diesem Jahr im Dezember an, ein neuer historischer Abschnitt beginnt. Es ist die Zeit gekommen, dass der hyperlinke Autor einen ganz neuen Menschen und neue Leserschaften erfindet, die sich über Grenzen hinweg organisieren. Sie alle brauchen Übersetzer, um plural und demokratisch zu bleiben, etwa wie Yoani Sanchez, die kubanische Bloggerin, deren Blog von Freiwilligen in etwa 20 Sprachen übersetzt wird. Trotzky sprach Spanisch mit russischem Akzent. Die neuen literarischen Netzaktivisten lesen und schreiben auch mit Akzent, sie sind fehlerhafte Mestizen mit vielen Augen und Sichtweisen.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale fordert: Benutzt „FREE GOOGLE TRANSLATE“.

Es müssen neue Tätigkeiten anerkannt werden: Statt Toto Lotto zu spielen, sollte jede Woche der beste Tweet mit 30.000 Euro ausgezeichnet werden. Aphorismen zu schreiben, ist hartes Brot. Wenn schon Facebook alle unsere Inhalte speichert und auswertet, sollte der Konzern auch ab und zu das beste Foto kaufen. Wer seine Lieblingsbücher einscannt oder abtippt und für die Netzbibliothek digitalisiert, verdient einen fairen Lohn. Genau wie Programmierer und Entwickler von freier Software. Wenn Trotzki heute im Exil wäre, würde er von Mexiko aus nonstop über alle Kanäle kommunizieren. Trotzki wäre ein durch crowdsourcing finanzierter Troll. Aber Trolling gegen eine Regierung ist schwieriger als man es sich vorstellt. Derzeit setzen viele Länder Facebook-Polizisten ein, die einzelnen Personen auf ihren Internetprofilen Drohungen hinterlassen, das ist für Bolivien, Venezuela, Iran so, in Spanien, Griechenland, Italien wird zur Zeit über ähnliche Maßnahmen diskutiert.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale wird von hyperlinken Trollen aufgebaut.

Hyperlinke Trolle handeln stets im Sinne der Gruppe, für die sie kämpfen und leisten Lobbyarbeit für hyperlinkes Gedankengut. Sie schreiben obsessiv über ein Thema, überall, wo sie können, auch wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Sie sind provokant. Worte sind ihre Waffen. Sie verstecken ihr Gesicht nicht in einer Sockenpuppe, sondern stehen öffentlich zu ihrer Meinung. Sie reagieren impulsiv, sind kommerziell-unbewusst, nicht am Markt, sondern an Menschen orientiert. Daher ist eines der Grundgebote der hyperlinken Trolle das Teilen: Das ist die bessere Nächstenliebe! So bauen sich diese Einzeltäter textuelle Kooperativen auf, welche unabhängig und selbstständig Inhalte weitertrollen. Solidarität unter Trolls ist ein Muss, Gruppen-Trolling ist die revolutionäre Taktik.

Daher sagen wir: Die fünfte Internationale kann sich nur durch Gruppen-Trolling im Netz verbreiten. Deutschland, vergiss deinen Impfpass. Relajate y disfruta.

]]>
Ich http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ich/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ich/#comments Fri, 01 Jun 2012 07:04:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6434 Ein bolivianischer Freund fragte mich kürzlich: Warum willst du in dieses país-no país gehen, in dieses Land, das keins ist? Das ist seine Sicht auf Bolivien. Natürlich ist Bolivien ein Land, ebenso wie Deutschland, Kamerun oder Thailand, mit seinem eigenen Charakter. Doch bleibt die Frage: Was zieht mich dorthin? Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Die Geschichte begann vor langer Zeit, als mich mit 16 Jahren der Zufall an einen Ort namens Tarija im Süden des Landes verschlug, ein Weinanbaugebiet mit mildem Klima unweit der argentinischen Grenze. Hier verbrachte ich ein Jahr, das mir anfangs unendlich erschien. Ich schrieb Briefe an meine Familie und Freunde in Berlin, die ihr Ziel nach durchschnittlich sechs Wochen erreichten, wenn sie überhaupt ankamen. Meine Mutter rief mich wöchentlich an und zahlte horrende Telefonrechnungen. Die schnellste Art der Kommunikation war neben dem Telefon das Fax; eine Maschine, die beim Empfangen von Nachrichten schiefe Melodien erzeugte und im Minutentakt eine Zeile ausspuckte. Den kommunikativen Beschränkungen geschuldet, entfernte sich mein Zuhause auf der anderen Erdhalbkugel zunehmend, während mein Aufenthaltsort immer präsenter wurde. Als ich nach Europa zurückkehrte, um mein früheres Berliner Leben wieder aufzunehmen, verstand ich nicht, was mit mir los war. Es fühlte sich nicht an wie vorher. Ich stellte fest, dass irgendetwas von mir dort geblieben sein musste.

Ich ging es Jahre später suchen, als ich zurückkehrte, um einige Zeit in La Paz zu verbringen, der auf 4.000 Meter Höhe gelegenen Stadt in der Form eines Topfes, in der es immer gleichzeitig heiß und eisig ist. Ich begriff, dass diese Zeit vor ein paar Jahren keine verstreute Randnotiz gewesen war. Ich fand nicht, was ich suchte, aber stattdessen Neues, Unerwartetes, wie meinen tarijeñischen Freund. Es folgten Jahre des Kommens und Gehens, in denen ich mich, stets im Aufbruch begriffen, wie ein Vogel von Norden nach Süden bewegte. Seit meinem ersten Aufenthalt in Bolivien war die Technologie vorangeschritten. Über das Internet und Chatprogramme führten wir „Videokonferenzen“, konnten uns in 2D in unseren eigenen Umfeldern beobachten. Im Cyberspace schufen wir unsere eigene Welt, unsere Sprache, unsere Codes. Ich fragte mich, wie Paare vor fünfzig, hundert Jahren die Distanz überbrückt hatten. Was hatten sie in Notfällen unternommen und seien sie emotionaler Art?

Ich lebte gleichzeitig hier und dort und war nirgendwo angekommen. Mit der Zeit entwickelte ich eine Art geografische Bipolarität. Meine Freunde sagten, ich solle endlich realistisch werden und mein Leben in Berlin beginnen. Sie verstanden nicht, dass dies alles sehr real war. Und es war keine Frage des Auswählens. Doch obwohl die virtuellen Hilfsmittel eine Nahezu-Gegenwart schaffen, ist ein Chat nicht das Gleiche wie ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Während Vorstellungskraft und Ausdauer übernatürliche Kräfte entwickeln, zeichnet sich körperliche Nähe durch ihre Abwesenheit aus. Sex wird zu einem abstrakten Konzept. Liebe schrumpft zu Emoticons zusammen: <3 oder :*. Ich fragte mich, wie viel seit dem letzten Treffen vom „Wir“ geblieben und wie viel zu einer Idee geworden war.

Schließlich beschloss ich, nach Bolivien zu ziehen. Es fällt mir schwer, mein Bedürfnis zu erklären, immer wieder in jenes Land zurückzukehren, das meinem so fern und so fremd ist. Ob es am weiten und ruhigen Hochland liegt, die Nähe zum Himmel, die mich glücklich macht? Ist es, wie eine bolivianische Freundin beschrieb, die existenzielle Angst, die einen begleitet, etwa wenn man im Bus zwei Zentimeter vom Abgrund entlangfährt? Ist der Grund mein imaginärer Freund? Oder der verseuchte See, an den wir fahren, um Fischchen zu essen? Ist es das, was ich suche? Möglicherweise habe ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr einfach einen sprunghaften Puls, der mir keine Ruhe lässt. Ich kann weder eindeutig erklären, warum ich gehen will, noch was ich suche. Ich bin mir einzig ziemlich sicher, dass die Sehnsucht meine treue Begleiterin sein wird. Sollte ich keine Bleibe finden, weiß ich immerhin, dass der Cyberspace mich stets willkommen heißen wird.

]]>
http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ich/feed/ 2
Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-en-casa-de-herrero-cuchillo-de-palo/ Sat, 26 Nov 2011 03:42:04 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5939 Eines dieser typischen lateinamerikanischen Motive. Ein Refrain, der überall wieder zitiert wird, ein populäres Mantra mit unendlich vielen semantischen Äquivalenten, in der gesamten Bandbreite, die unsere Sprache zu bieten hat. Bei den Marktschreiern auf den Straßen hinter dem Zócalo, östlich vom Gymnasium San Ildefonso. Ich suchte nur nach einem Blue Demon-T-Shirt. Aber es scheint, als wären diese Person und El Santó (Der Heilige), eine weitere Wrestling-Figur, wohl die einzigen Figuren, die von den Mexikanern als registrierte Marken anerkannt werden. Die Shirts waren einfach nicht zu finden. Jeder weiß, wer sie verkauft, ein Weg von einem Verkäufer zum nächsten Verkäufer, der dich zum Geschäft schickt, wo sie es auch nicht haben. Mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch über den Ground Zero der Vereinten Staaten von Mexiko, der Plaza de la Constitución. Trauben von Polizisten an allen Ecken im Osten, noch symbolischer als die Polizisten noch weiter im Osten vor den Geschäften von Cartier in Polanco. Festgelegte Routen für die Touri-Busse. Wir fuhren wieder aus Bolivien ab, ohne einen einzigen Post geschrieben zu haben. Letzten Mittwoch dachten wir noch, dass das Unwohlsein vorübergehend wäre. Manchmal bereitet die Höhe einigen Menschen eine schlechte Zeit. Am Tag unserer Lesung in La Paz bekam ich fast keine Luft. Schlussendlich saß ich mit Schüttelfrost vor einer Menschenmenge, von der ich nicht weiß, inwiweit sie unsere Witze verstanden hat. Jetzt sind wir in Mexiko, heute Nachmittag kommen wir in Guadalajara an.

Mir machen die 3.600 Meter jetzt nicht mehr ganz so sehr so schaffen, obwohl ich schon in meiner Kindheit damit Probleme hatte – ich wurde ja auch nicht dort geboren – und es steht fest, dass ich, wenn ich mal wieder hier bin, in den ersten Tagen vermeide, in das Zentrum hinaufzugehen. In La Paz trinke ich lieber auch nicht, mein eigener Wunsch für uns beide, denn mein Körper tut sich schwer damit, den Kater zu überleben, und auf dieser Reise mit Niko hätte es eh nichts gebracht. An dem Tag, an dem wir lesen sollten, mussten wir unseren Weg durch die Zona Sur zum Goethe Institut plötzlich, von einem Moment auf den anderen, unterbrechen. In den 20 Minuten im Taxi, zwischen Obrajes und der Avenida Arce, versuchte ich mir vorzustellen, wie ich mich aufspalten könnte, um die beiden Stimme gleichzeitig und simultan aus mir herauszuholen. Wie sehr hätte es mir gefallen, das Mädchen aus dem Film „Der Exorzist“ zu sein, um den Texten, die wir gemeinsam geschrieben haben, den Charakter, den Charme verleihen zu können.

Unserer Autoren erschienen nur so viel früher, wie es unbedingt nötig war, damit die Lesung nicht ohne sie begann. Keine Chance, irgendwas zu proben. Fernando Barrientos versuchte, die weibliche Stimme zu ersetzen, die mir fehlte, um mich in die männliche Figur zu verwandeln, die ich normalerweise auf dieser Lesereise bin, wenn wir den Cybersex-Text von Augustin Calcagno inszenieren. Am Ende entschied ich mich dafür, es alleine zu machen, und ersetzte das Geschlecht mit ein bisschen mehr deutschem Schuldgefühl. Das war ein Versuch, die Verwirrung auf der Bühne des armen Flaco zu vermeiden, der ja mit unseren Ablauf nicht vertraut war. Zusätzlich zeigte sich meine Mutter als eine der schlechtesten Fotografinnen der Stadt. Auf jeden Fall und trotz aller Pannen teilte ich mir die Bühne mit unseren Autoren aus La Paz und das war etwas sehr Schönes. Und am nächsten Tag wurde es sogar noch besser, als wir bei unserem Workshop die Arbeit von Ernesto Martínez kennenlernten, der mit Editiones Vinculo als erster bolivianischer Verlag digitalisierte Bücher herausbringt und Mitinhaber der kulturträchtigsten Buchhandlung von La Paz ist, von Martínez Acchini. Außerdem konnten wir uns auch mit der Arbeit von „Desde el sur“ (Aus dem Süden) vertraut machen, einem Portal, das versucht, sich für die Stimmen der bolivianischen Diaspora aus der ganzen Welt zu etablieren. Natürlich haben wir auch Lulhy Castro getroffen, die Repräsentantin des Cartonera Verlags aus Oruro “Rostro Asado” und ein Kollektiv von Schriftstellern und Künstlern, welches in dieser Stadt versucht, den öffentlichen Raum einzunehmen. Sich mit jenen Menschen zu treffen, die so wie wir denken, also mit den anderen Neuronen dieses kollektiven Gehirns, setzt viel Energie frei. Aus dem mobilen Hauptquartier der Superdemokraticos geht unser großer Dank an Michael Friedrich, den Direktor des Goethe-Instituts in La Paz und an Patricia Cuarita, die Kulturbeauftragte des Instituts. Ebenfalls vielen Dank an die lesenden Autoren Javier Badani, Fernando Barrientos und Richard Sánchez, wie auch an das Publikum, das kam, um uns zu hören und am nächsten Tag an unserem Workshop teilzunehmen.

Der Zweck unserer Reise ist es, uns mit Seelenverwandten zu treffen, romantisch gesprochen. In Bolivien haben wir nicht nur neue Freunde gefunden, sondern konnten auch auf die Solidarität von lieben Menschen zählen, die uns geholfen haben, alles, auch das Unvorhersehbare, ohne größeren Schaden zu ertragen und zu überwinden. Vielen Dank, La Paz, ohne euch wäre es schwer gewesen so weit zu kommen. Am 2. Dezember präsentieren wir auf der Buchmesse in Guadalajara unser Buch und unser brandneues Ebook.

In unseren Taschen haben wir Bücher zweier Verlage, die wir voller Stolz präsentieren: des Verbrecher Verlags, ein konsequenter Verlag aus der Unabhängigen Republik Kreuzberg, und der Edicion Vinculo, die mit ihrem digitalen Katalog für zeitgenössische Literatur die Tür für die bolivianische Literatur in der Welt öffnet.

]]>
Die Rache Monteczumas http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-rache-monteczumas/ Fri, 25 Nov 2011 02:23:18 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5921

Opfergaben zum Verbrennen bei traditionellen Aymara-Zeremonien: für mehr Geld, eine gute Reise oder was auch immer. Gegen Salmonellen helfen aber nur Salzlösung und Zeit.

Ich werde mich erinnern, an die Kopfsteinpflasterstraßen, die vor der deutschen Schule anfangen und danach wieder aufhören. An das Schild: Achtung, autofahrende Eltern. Oft bin ich hier im Taxiautotaxiauto vorbeigekommen in den zehn Tagen, die wir in La Paz verbracht haben. Mit Blick auf die wackelnde Dufttanne und den hüpfenden Rosenkranz am Rückspiegel des Fahrers. Anfangs, um in der Zona Sur, in San Miguel, im Alexander Coffee das Internet zu nutzen und Fruchtfrappés zu trinken. Alexander Coffee: eines der erfolgreichsten Unternehmen Boliviens, das überall diese modernen Kaffee-cum-Internet-Cafés betreibt, mit verpackten Brownies, aber alles „hecho in Bolivia“, im Land hergestellt.

Mein Hals glüht, drückt, brennt, beim Schlucken, beim Schlafen, ich habe eine Erkältung, eingeschleppt aus der kühl-regnerischen Stadt Bogotá, wo es jeden Tag pünktlich um 14 Uhr grau und nass wird. Nach einer bolivianischen Saltena in einem kleinen Restaurant mit vier Tischen oder nach einer Pizza in einer dieser Shopping Malls, die in Lateinamerika das öffentliche Leben in klimatisierte Palmen-Zonen verlegen, kommt noch ein Bauchgrummeln dazu. Die Rache Monteczumas liegt auf mir: Durchfall, Erbrechen, so nennt man die Reisekrankheit, die angeblich auf dem Fluch des letzten mexikanischen Aztekenherrschers beruht, der vor dem spanischen Eroberer Hernan Cortés zwar friedlich in die Knie ging, aber dann ermordet wurde. Nicht schön. Also verbringe ich die Tage im Bett.

Aber ich werde mich erinnern an die Taxiautotaxifahrten, an das rote Fleisch der Berge, die trocken rund um die Stadt La Paz in die Höhe ragen. An den Ausflug mit Jeep in das Hinterland, durch Geröll-Canyons. Die rohen Steine, die sandig ausgespülten Rinnsale, an den Stadthängen Hochhäuser darauf thronend, steil in die Höhe steigend. Die Lichter nachts. Die Marineschule mit Leuchtturm und Ausguck und Takelage, in einem Land ohne Meer, direkt an der Stadtautobahn. Ich werde mich erinnern an den freundlichen, allgemeinen Arzt, der mich in ein leeres Krankenhaus bringen wollte, wo es kein Klopapier gab. An den lustigen Onkel Pepe, der mich dann in einem anderen Krankenhaus nochmal untersuchte. Ich werde mich erinnern an die Siestas der Straßenarbeiter unter den Bäumen auf den Plazas. Hingestreckt. Dunkle Gesichter. Verschränkte Arme. An die Straßenverkäuferinnen mit weiten Röcken: 2 Bolivianos für ein Haargummi, 6 für eine Cola. An den täglich sinkenden Eurokurs. An die vielen Dienstleister: Wächter vor den reichen Stadtvierteln, Rasensprenger auf Verkehrsinseln, Gepäckträger am Flughafen, Tütenpacker in Geschäften, Sandwichausrufer vor Bürogebäuden. Die Alternative zu 1-Euro-Jobs?

Und an das Dachzimmer bei Rerys Familie im Tudorstil mit vielen Fenstern, Holzbalken, Licht, in jedem Fenster ein anderes Himmels-TV: Wolken, Fichtenwipfel, hochragende Klippen aus sandigem Stein, Vögel, bellende Hunde der Nachbarn. An die Krankenkost, die mir Rerys Mutter brachte: Salzlösung mit Ananasgeschmack, mit Wasser aufgelöste Maizena mit Zimt, Salzcracker, dazu der surrende Luftbefeuchter. An die Düfte aus der Küche von Kika, der Haushälterin, die aus dem Dorf Mokomoko („Kleiner Mann mit breitem Schnauzer“) kommt, acht Stunden Autofahrt entfernt von La Paz, mit einem Klima wie im Süden des Landes, wo nur noch 30 Leute wohnen. Daran, dass sie die einzige ist, die in diesem Haushalt eine Privatsphäre hat. Denn in ihrem Zimmer räumt sie selbst auf.

An all das werde ich mich erinnern, obwohl oder weil ich die meiste Zeit im Bett lag. Auf dem Hexenmarkt in La Paz, mein einziger Ausflug ins Zentrum für ein paar Stunden am letzten Tag, hab ich die Medikamente nur fotografiert, die Statuen für Gesundheit, Glück, gute Reise oder Weisheit, die Opfergaben, die Tees, Tinkturen, Lama-Föten und Kräuterkörbe. Gekauft hab ich ein silbernes Kokablatt. Ich werde es Monteczuma nennen. Oder besser Cuauthémoc, so hieß sein Cousin. Er hat sich als letzter Herrscher von Tenochtitlán nicht ergeben, sondern Widerstand geleistet. Salmonellen, adé!

Und ich werde dankbar sein, denn wenn man krank ist, ist die Wahrnehmung eine andere.

]]>
Postkarte aus La Paz http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/5944/ Wed, 23 Nov 2011 04:30:03 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5944

Von links nach rechts: 1- Früchte auf dem Markt, 2- Spielen in einer Schrottkarre auf dem Weg nach Palca, 3- Glücksflaschen in der Straße der Hexen in La Paz, 4- Ekekostatue, 5- Fußballmatch mit dem Berg Illimani, 6- Handwerker, der auf einer Straße im Zentrum arbeitet, 7- Mit unseren neuen Freunden im Café Blueberry, 8- Cholita in der Straße Illampu.

]]>
Die Kinder des Netzes http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/#comments Thu, 17 Nov 2011 08:01:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5828

Die Wege des Lebens sind nicht diejenigen, die ich erwartet hatte, sie sind nicht so wie ich es gewollt hatte…
Vallenato

Auf der 73. Straße in Bogotá fährt ein Bus nach San Blas und nach Germania. Als ich diesen sah, musste ich einfach lachen, denn ich glaube, ich hatte, ohne es zu wissen, vor vielen Jahren genau diesen Bus genommen. In einer anderen Stadt, mit einem Ex-Freund, der Blas hieß und mit dem ich in Potsdam, Deutschland, landete. Im Juli 2012 gedenke ich den 15. Jahrestag dieser ersten Reise. Seitdem überquerte ich viele Male den Atlantik.

Praktisch meine gesamte Familie lebt immer noch in den Anden und ihren Ausläufern, verteilt zwischen der Hauptstadt meines Landes, La Paz, und Tarija, im südlichen Tal, an der Grenze zu Argentinien, aus dem wir eigentlich alle stammen. Dort liegt die Wiege der Galarzas, der Ort, den mein ganzer Clan in sentimentaler Imagination in sich trägt, obwohl wir möglicherweise niemals dort gelebt haben. Das ist es, was beispielsweise meinen beiden Neffen passierte, den beiden Kinder, die fröhlich in London aufwachsen. Die beiden kleinen englischen Kids, die ich so sehr liebe.

Ich kann sie mir nicht vorstellen, die Zeit, in der der Kontakt zueinander auf dem Rücken den Maultiere aufrechterhalten wurde, anhand von Briefen, die Jahrhunderte brauchten, um anzukommen, wenn sie denn eines Tages ankamen. Ich weiß von Freunden, dass sogar Anfang der 1980er noch nicht einmal das Telefon ein sicherer Weg war, um den Kontakt mit der Familie zu halten. Die Telekommunikation war mangelhaft, im Hintergrund hörte man die Geräusche der Welt und die Stimmen derer, die man tatsächlich hören wollte. Sie mussten sich die Seele aus dem Leibe schreien, um sich in diesem Chor der Störgeräusche, diesem ununterbrochenen Lärm, Gehör zu verschaffen.

Ich dagegen hatte das unglaubliche Glück in der Offenheit der Welt des Internets aufzuwachsen und mein Ausländerdasein wird erträglich, weil ich mit meiner Mutter bei einem Konferenzgespräch Kaffee trinken kann. Ich kann sie sehen und hören, mit ihr eine Zigarette rauchen, mehrmals die Woche. Es ist erträglich, weil ich sehen kann, wie meine Neffen aufwachsen, und weil ich mit meiner Schwester mit einem Glas Wein zu Abend essen kann, immer, wenn uns danach ist. Ich kann sie zwar nicht anfassen, bin aber dennoch ein Teil ihres Lebens. Ich bin der Kopf auf dem Computer, der versucht sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen. Und die Kleine, mein Augenstern, erkennt in dem typischen Windowsgeräusch, wenn der Rechner hochfährt, ihre Tante oder ihre Oma wieder, und sie hat überhaupt keine Hemmungen diesem flachen Bildschirm herzliche Beweise ihrer Liebe zu erbringen.

In diesem Monat war unser Thema Neue Welt im Netz: Liebe, Arbeit, Freiheit, und ich denke, es sind die Ausländer in aller Welt, egal, woher sie stammen, die am meisten dazu zu sagen haben. Ich werde niemals den überraschten Gesichtsausdruck meines Mitbewohners vergessen, als er eines Nachmittags, vor ein paar Monaten, meine Mutter begrüßen musste. Er, der daran gewöhnt ist, dass seine Eltern nicht jederzeit, wann immer sie wollen, zu ihm nach Hause kommen können, weil sie in Bielefeld wohnen und weil sie nicht mit den neuen Medien vertraut sind, sprang vom Stuhl in der Küche auf, um seinen Schlafanzug zu verstecken. Er, der nicht daran gewöhnt ist, dass der Computer so ein essentieller Teil seines sozialen Lebens ist, verstand letztendlich woher meine Unabhängigkeit kommt. Denn ich muss niemanden in der Realität sehen, ich lebe im ständigen Kontakt mit meiner Familie, meinen Freunden und Arbeitskollegen, wo auch immer sie sein mögen.

Ich bin nicht von einem physischen Raum konditioniert, die meiste Zeit über nicht einmal von einer Sprache. Ich fließe zwischen der digitalen und der analogen Realität hin und her, zwischen dem, was in Bolivien passiert, und dem, was in Deutschland los ist, und auf meine Art und Weise bin ich ein aktives Mitglied beider Gesellschaften. Und genau wie ich sind das auch drei Millionen Bolivianer, die in der ganzen Welt verteilt leben. Ein Viertel der Bürger meines Landes lebt zwischen Buenos Aires, Virginia und Madrid. Die Überweisungen, die sie schicken, sind die drittgrößte Einnahmequelle meines Landes. Unsere Ausländer und ihre bescheidene Lebensweise sind effizienter für die Wirtschaft als die Entwicklungshilfe, wesentlich effizienter. Und unsere Kinder konstruieren ihre neuen Identitäten. Emotionale Zugehörigkeiten, die wir möglicherweise noch nicht in ihren gesamten Dimension wahrzunehmen fähig sind.

Ich kann mir vorstellen, dass es überall an den Universitäten Pflicht werden wird, jeweilige soziologische Studien durchzuführen, um die Generation zu verstehen, die derzeit mit Breitband und mit doppeltem Herkunftsort heranwächst, ohne eine gemeinsame Bezugssprache, die wahren Bürger dieser Welt.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/feed/ 2
Die Intellektuellen und die Regierung http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-intellektuellen-und-die-regierung/ Wed, 26 Oct 2011 12:12:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5427 Beginnen wir bei dem Grundsatz, dass ein Intellektueller jemand ist, der die Konstruktion einer Gesellschaft lenkt und organisiert sowie neue Konzepte über die Welt beisteuert. Antonio Gramsci begreift Intellektuelle als eine Art „Bindeglied“ zwischen oppositionellen Klassen, jenen, die politische Macht besitzen, und denen, die die Arbeiterklasse bilden. Und obwohl der Intellekt etwas aller menschlicher Aktivität inhärentes ist, und deshalb alle Menschen Intellektuelle sind, haben nur einige innerhalb der Gesellschaft diese Funktion, so Gramsci weiter. Zusammengefasst sind sie es, die denken, analysieren, planen und empfehlen. Was ist mit jenen Intellektuellen geschehen, die jetzt mit Evo Morales in Bolivien an der Regierung sind?

Möglicherweise war die Idee, verschiedene Intellektuelle in eine Regierung aufzunehmen, die vorgibt, die Strukturen des Landes verändern zu wollen, voller guter Absichten, das Ergebnis ist jedoch – bis heute zumindest – nicht das Beste. Jene, die mit der derzeitigen Regierung, die des bekanntesten bolivianischen Präsidenten der Welt, in einem Boot sitzen, beobachten von der Tribüne aus die enormen Fehler dieser politischen Führung, Resultat eines internen Machtkampfes, der dazu führte, absolut falsche Entscheidungen zu treffen, etwa die Treibstoffpreiserhöhung „Gazolinazo“ um 80 Prozent, verkündet am 26. Dezember 2010.

Wenn Evo Morales dachte, dass die Bürger eine derart unpopuläre Maßnahme akzeptieren würden, weil er mit 60 Prozent einen hohen Stimmanteil auf sich vereint, hat er sich getäuscht. Oder haben sich seine Berater getäuscht? Einige Intellektuelle erhoben warnend die Stimme, aber sie wurden nicht beachtet. Damit sich die Regierung dieses Irrtums, dieses riesigen Irrtums, bewusst wurde, war es nötig, dass eine Massendemonstration gegen diese Maßnahme fast bis zur Plaza Murillo, dem Epizentrum des Macht, vordrang. In der Neujahrsnacht wurde das Dekret annulliert.

Seitdem kursiert in den Gängen des Regierungspalast das Gerücht über das Weggehen verschiedener Intellektueller, denen nicht zugehört wurde. Andere, die ihre Stimme zur Beschwerde erhoben, wurden von der Regierung gegangen, angeklagt des Verrats am „Veränderungsprozess“. Dafür gibt es mehr als genug Beispiele: der Ideologe und eigentliche Gründer der MAS, der Regierungspartei, Filemón Escóbar; der ehemalige Vize-Landwirtschaftsminister Alejandro Almaraz; der Schriftsteller Raúl Prada (ehemaliger Gefährte des Vizepräsident Álvaro García Linera); der Journalist und ehemalige Abgeordnete in den USA Gustavo Guzmán sowie Alex Contreras, ehemaliger Regierungssprecher, der Evo Morales seit seinem Wahlkampf in Chapare in den 90ern begleitete.

Sie sind alle sind aus ihrem Amt geschieden und haben die Tür hinter sich zugeschlagen. Heute sind sie die Kritiker aller Handlungen der Regierung, mit Erfahrung und Grund, während die Regierung sie dagegen als Überläufer bezichtigt, übergelaufen zu den Rechten, zur Botschaft der USA, oder – wie erst kürzlich – zu den NGOs. Fast alle konnten beweisen, dass sie mit ihrem Beitritt in die Reihen der Regierungspartei, zu dem sie „eingeladen“ wurden, jene Unabhängigkeit, Autorität oder Fähigkeiten verloren haben, die sie ja eigentlich als die Intellektuellen der Gesellschaft ausmacht. Es scheint, als würde das Denken der Intellektuellen und die politische Führung der Regierenden nicht Hand in Hand gehen. Das Traurige daran ist zu sehen, wie viele Intellektuelle innerhalb der Regierung – wie beispielsweise Álvaro García Linera – aufgehört haben zu denken, was, wenn sie es tun würden, Überprüfungen, Beurteilungen, Anzeigen und auch Selbstkritik mit sich bringen würde. Die Ideologie hat sich vor all die vorangegangenen Handlungen gestellt.

Nein, heutzutage ist die Aufgabe der bolivianischen Intellektuellen an der Macht nicht mehr das Denken, sondern die Handlungen der Regierung zu anzuordnen, zu verteidigen und zu rechtfertigen. Genauso, wie sie es im Oktober mit der Unterdrückung des indigenen Aufstandes taten, der von Beni aus nach La Paz führte und sich gegen den Bau einer Landstraße durch deren Territorium richtete: dem TIPNIS (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure, dem indigenen Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure).

Das war wiedereinmal eine falsche Rechnung in den Sphären der Macht, vor der verschiedenen Intellektuellen gewarnt hatten. Aber sämtliche Kritik wurde von der Regierung für nichtig erklärt, da diese behauptete, es handle sich hierbei um ausländische Interessen, wie die der NGOs und Stiftungen, die sich unter dem Deckmantel des „Umweltschutzes“ gegen die Regierung verschworen hätten. Die Bürger empörten sich über diese Vorgehensweise, dafür – und auch wegen anderer Faktoren – musste die Regierung teuer bezahlen: Bei der ersten Wahl der Richter, die Evo Morales veranlasste, war die Zahl der ungültigen Stimmen höher als die der gültigen Stimmen. Etwas bisher in Bolivien und der Welt noch nicht Dagewesenes.

Ist es überhaupt möglich ein Intellektueller zu sein und als solcher im Amt zu sein? Das werden uns die zukünftigen Handlungen einer Regierung der Veränderung zeigen, deren Pflicht nicht nur das Regieren, sondern auch das Denken zu sein hat, eine Aufgabe für ihre Intellektuellen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
Solipsismus http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/solipismus/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/solipismus/#comments Thu, 06 Oct 2011 12:52:19 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5254 „alle Nationen sind Gefängnisse“, Jörg Fauser

[30.09.2011 23:26:18] Umweltschützer: Skype bringt den Gesprächen viele Vorteile.
[30.09.2011 23:26:19] Anarchofeministin: Ja.
[30.09.2011 23:26:20] Umweltschützer: Und wir können uns sogar aussuchen ob wir uns sehen oder nicht. Ob wir reden oder nicht.
[30.09.2011 23:26:21] Anarchofeministin: Ob wir nur schreiben. Ich habe heute einem Freund vorgeschlagen, dass wir den Verlag, den er vor einem Jahr gegründet hat, neu organisieren. Wir brauchen eine juristische Person. Und dass er mir auch mit der Übersetzung von ein paar Gedichten helfen soll. Zwei Köpfe, die gleichzeitig über Phonetik nachdenken, während wir auf Reisen sind.
[30.09.2011 23:26:23] Umweltschützer: Sehr gut, Kleine. Obwohl es eigentlich zu viel Aufwand ist, so ohne Kohle.
[30.09.2011 23:26:24] Umweltschützer: Sagt ihr auch Kohle dazu?
[30.09.2011 23:26:25] Anarchofeministin: Mit Worten zu arbeiten, bringt fast nie Kohle.
[30.09.2011 23:26:26] Umweltschützer: Nein?
[30.09.2011 23:26:27] Anarchofeministin: Nein, aber eine immense Befriedigung, sie zu ermöglichen. Egal, auf welche Art und Weise.
[30.09.2011 23:26:29] Umweltschützer: Beim Management dreht sich alles um Worte und um Reden.
[30.09.2011 23:26:30] Umweltschützer: Wir leben im Zeitalter der Information…
[30.09.2011 23:26:31] Umweltschützer: Viele Worte
[30.09.2011 23:26:32] Umweltschützer: worteworteworteworte
[30.09.2011 23:26:33] Anarchofeministin: Ein Manager handelt mit Worten
[30.09.2011 23:26:34] Anarchofeministin: Er lernt sie zu benutzen, er ermöglicht sie nicht. Oder zumindest können nicht alle Manager Worte ermöglichen. Dichter machen Worte.
[30.09.2011 23:26:35] Umweltschützer: Aber nur, wenn du sukcesu hast.
[30.09.2011 23:26:36] Anarchofeministin: Was willste damit sagen?
[30.09.2011 23:26:37] Umweltschützer: Na, nicht alle. Nur ein paar.
[30.09.2011 23:26:40] Anarchofeministin: Ja klar… aber gehen wir mal davon aus, dass es meistens darum geht zu wissen, wie man sie benutzt, um zu verkaufen, zu kaufen, zu verwalten, zu wissen, wie man eine Struktur vermittelt, die genauso gut Mathematik sein kann, oder BWL. Nicht daran, sie möglich zu machen.
[30.09.2011 23:26:41] Umweltschützer: Etwas möglich zu machen, was nicht glaubwürdig ist.
[30.09.2011 23:26:42] Anarchofeministin: Ja. Aber wenn es einen Namen hat, dann gibt es das, also existiert es. Inklusive in der Negation ihrer Existenz.
[30.09.2011 23:26:43] Umweltschützer: Und sogar inklusive in der Negation der Negation ihrer Existenz
[30.09.2011 23:26:43] Anarchofeministin: und so weiter bis zum Absurdum … Bücher über Bücher über Bücher. Hunderte, Tausende, Millionen von Ismen und Geschichten über Liebe. Die besten mystischen Texte sind diejenigen, die der Übung des Schreibens und Lesens gewidmet sind.
[30.09.2011 23:26:44] Umweltschützer: Das ist ein Klassiker von Borges…
[30.09.2011 23:26:45] Umweltschützer: Das ist, wie wenn Luhmann in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ über die Gesellschaft schreibt. Das ist ein Witz. Wie ein Hund rennt und rennt und es nicht schafft, seinen Schwanz zu fangen…
[30.09.2011 23:26:46] Anarchofeministin: Das Buch habe ich nicht gelesen. Aber ich habe ein Interview gesehen, in dem Luhmann über die Liebe als Leidenschaft und das Lesen spricht. Genau wie es als erstes die Frauen waren, die erkannten, dass man durch die Fiktion die Motive des anderen verstehen kann und daher im 17. Jahrhundert die Warnung aufkam, sie keine Romane lesen zu lassen.
[30.09.2011 23:26:47] Umweltschützer: Genau, das war der Moment in dem sich der Mensch in der Theorie bewusst wurde, dass er seine Realität verändern könnte, wenn er die Fiktion kopiert, dass die Veränderung seiner eigenen Handlungen eine Veränderung seiner Umwelt bewirkt. Die Strukturen werden aufrechterhalten durch unser Kommunikationssystem…
[30.09.2011 23:26:48] Anarchofeministin: … mit der Fähigkeit, neue Welten zu erfinden. Das erste, das die Lateinamerikaner schmuggelten, waren Drucke und Bücher. Die erste harte Droge waren Ritterromane. Ein Mensch, der von einen Mensch träumt, der von einem Mensch träumt.
[30.09.2011 23:26:49] Umweltschützer: Ich gehe nach Khartum, mal sehen ob sich mit den solarbetriebenen elektrischen Bügeleisen Geschäfte machen lassen und damit die Wirtschaft im Sudan angekurbelt werden kann.
[30.09.2011 23:26:50] Anarchofeministin: Ich gehe nach Ungarn, wo die Rechten wieder an der Macht sind, um ihnen auf Deutsch (wer hätte das gedacht) zu sagen, dass die kosmische Rasse existiert und dass internationale Konzerne seit Jahren den Amazonas plündern.

° In dem Monat der Wiedervereinigung Deutschlands und der Frankfurter Buchmesse fragen wir uns bei Los Superdemokraticos nach der Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft. Hat er eine Funktion? Ist ein Schreibender, wie Sartre sagen würde, ein Arbeiter des Wortes, der seinen Kontext reflektiert oder ist er eine Figur innerhalb des Kontextes, der eine Industrie nährt? Für uns ist ein Intellektueller jeder Mensch, der in der Lage ist, umsichtig/verantwortungsvoll seinen Kontext zu beurteilen, am besten schriftlich, und im allerbesten Fall ist das Geschriebene schön. Denn dieser Wille zur Verständigung ist unschätzbar wertvoll, in einer Gesellschaft, die danach strebt, von einzelnen Individuen geformt zu werden.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/solipismus/feed/ 1
Männer weinen nicht http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/manner-weinen-nicht/ Wed, 17 Aug 2011 08:00:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4852 http://flickriver.com/photos/tags/mujeres+creando+bolivia/interesting/

Psychologische Gewalt, sexuelle Gewalt, physische Gewalt, häusliche Gewalt, soziale Gewalt, familiäre Gewalt, Gewalt gegen Frauen. Femizid. Ich hasse dieses Wort. Ich habe es 2003 zum ersten Mal gelesen und seitdem, von Zeit zu Zeit, von Monat zu Woche ja, die nächste auch: träume ich. Ich erinnere mich, dass ich es in einem Steckbrief gelesen habe, den ich per Mail bekommen habe, über einem Namen und einem Bild. Ich habe diesen Namen bewusst vergessen, obwohl ich den Typen kenne, ich habe in schon öfter (in meinem Leben) getroffen.

Ich lernte ihn im ersten Semester an der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften kennen. Wir kamen aus der Klosterschule und fühlten uns völlig verloren. Verloren in den Gängen der staatlichen Universität, in die Ecke gedrängt in den zwei kleinen Räumchen in der 10. Etage des Studiengangs Literatur, lernten wir die Bohème kennen. Wahrscheinlich der einzige Ort an der UMSA, an dem die Mehrheit aus privaten Schulen, Klosterschulen kam. Die wahre Mittelschicht Boliviens, mit ihren Überzeugungen und ihren Traumata, ihrem Modus Operandi und dieser verheerenden sentimentalen Erziehung, wir waren hauptsächlich Mädchen. In der Aula verkündeten die Mujeres Creando ihre Botschaft, und nicht viele von uns blieben stehen, um zuzuhören.

Die Geschichte der Bürgerrechte der Frauen in meinem Land ist seltsam. Einerseits dürfen wir seit den 30er Jahren transzendentale Entscheidungen treffen, etwa uns scheiden lassen, studieren und arbeiten gehen, seit 1952 dürfen wir wählen, viel früher als die Frauen in der Schweiz. Andererseits war es unerlässlich, dass die Demokratie wieder hergestellt wurde und dass in den 90er Jahren eine Organisation wie „la Plataforma de la Mujer“, die Plattform der Frau, entstand, damit die Regierung das Strafgesetzbuch reformiert. Bis 1995 wurde häusliche Gewalt nicht als Verbrechen anerkannt, außer wenn das Opfer Verletzungen erlitten hatte, die drei oder mehr Tage Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten.

Schwangerschaftsabbruch ist weiterhin illegal und die Abtreibung ist weiterhin eine häufige Todesursache bei jungen Frauen. Abgesehen davon, dass Schwangerschaftsabbruch eine Todessünde ist und die soziale Ablehnung, die sie verursacht, DER scheinheilige Akt der Unterdrückung schlechthin. Und das in einer Gesellschaft, die Teil eines Subkontinents ist, der unter anderem diesen Neologismus verursacht hat: Femizid. Mexiko wurde 2009 zum ersten Land der Welt, das von einem internationalen Tribunal wegen dieses Verbrechens an der Menschheit verurteilt wurde.

Die Straffreiheit, mit welcher der mexikanische Machismo den Genozid in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juarez belohnt, die über 10.000 Ermordeten, ist der plumpeste Ausdruck des veranschaulichten Frauenhasses. Ist er heimtückisch, dann findet man ihn unterlegt mit einer  destruktiven Redseligkeit, ist er brutal, dann ist er unterlegt mit einem Sadismus, den man mit Worten nicht beschreiben kann. Auch in Deutschland. Laut allen Untersuchungen kommen die Angreifer aus allen sozialen Schichten und aus jedem Bildungsniveau. Jeder könnte es tun, und was noch erstaunlicher ist: Das ist in allen westlichen Ländern der Fall. Die geringere Zahl der weiblichen Toten lässt sich im Wesentlichenb auf die soziale Kontrolle zurückführen und darauf, dass die Verbrechen verfolgt werden, dass ein durchsichtigeres Rechtsssystem existiert, dass sich die Frauen ihrer Rechte deutlicher bewusst sind und verantwortungsvoller mit der Erziehung ihrer Kinder umgehen. Vor allem ist auch wichtig, dass eine Infrastruktur existiert, die die Opfer beschützt. Und nicht so sehr die Tatsache, dass die Männer besser lernen sollen, ihre Instinkte zu kontrollieren. El Pronto, wie ihn die Spanier nennen. Laut der offiziellen Kampagne zur Vermeidung von Gewalt der Stadt Berlin wird deutlich, dass jede vierte Frau schon einmal häusliche Gewalt erfahren hat, möglicherweise ein weiterer Grund für den hohen Konsum von Antidepressiva. 2010 starben in Spanien 76 Frauen, in Bolivien 210.

Das letzte Mal, als ich mit der Schriftstellerin Daniela Camacho sprach, arbeitete sie an ihrem ersten Roman, lehrte an einem Institut und lebte mit ihrer Tochter und einer Freundin in einer WG. Sie hatte es geschafft, unabhängig zu werden, sie dachte, dass sie sich wieder verlieben könne. Und so will ich sie in Erinnerung behalten. Mit rot lackierten Fingernägeln, einen Tee trinkend, lachend: endlich selbstbewusst.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
Die gute Strahlung vom Platz der Sonne http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-gute-strahlung-vom-platz-der-sonne/ Thu, 04 Aug 2011 07:00:38 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4782 Gewalt ist laut dem Wörterbuch der Real Academia Española die Handlung, die jemandem oder sich selbst Gewalt antut. Aber Gewalt geht darüber hinaus, es gibt tägliche Gewalttaten, die nicht so eindeutig in diese Definition einzuordnen sind und trotzdem soviel oder mehr zerstören. Zum Beispiel: Wenn du in einen Fahrstuhl einsteigst und niemand dich grüßt, ist das ein gewaltvoller Übergriff. Diese alltägliche und offensichtlich unbedeutende Tatsache ist das Zeichen einer verbitterten, grauen Gesellschaft, in der wir alle nur ichbezogen und unfähig sind, unser Gegenüber wahrzunehmen. Wie oft erleben wir Ungerechtigkeit und gehen an ihr vorbei, sei es aus Gleichgültigkeit oder aus Angst. Wenn sie etwas nicht gewohnt ist, fühlt frau sich von den Leuten in ihrem Umfeld weder unterstützt noch anerkannt, sie fühlt sich hilflos und alleine.

Aber meist, wenn alles so entmutigend wirkt, springt auf einmal ein Funke über, und du gehst auf die Straße. Und plötzlich fühlst du dich nicht mehr alleine, plötzlich schaust du in die Augen deiner Nachbarin, die sich genauso alleine fühlt wie du und es genauso endgültig satt hat. Plötzlich füllen sich die Straßen mit Worten, Ideen, Lösungen und wahr gewordenen Träumen. Genau das ist in Madrid am 15. Mai 2011 passiert, die Plaza del Sol („Platz der Sonne“) strahlte wie nie zuvor. Einige fanden das gewalttätig: Ein öffentlicher Platz wurde ohne Genehmigung besetzt. Aber trotz aller Widersprüche war das für viele eine Gelegenheit, alle Stimmen hören zu lassen und alles Schweigen zu respektieren. In jedem Winkel auf dem Kilometer 0 in Madrid diskutierten die Leute, stellten ihre Ideen vor, bauten sie auf. In kürzester Zeit wurden wir zu einer Mini-Gemeinde, in der die verschiedensten Menschen zusammenlebten und der Respekt und das aktive Zuhören das vorherrschende Gesetz war.

In Lavapiés, einem zentralen Stadtviertel Madrids, wo vorwiegend Bewohner mit Migrationshintergrund leben, führte diese Bewegung zu einer schlagkräftigen Maßnahme: Die Bewohner konnten die Polizei aus ihrem Viertel vertreiben, nachdem diese rassistische Razzien durchgeführt hatte, Polizeikontrollen, wegen ethnischer Aspekte und in allen möglichen Situationen. Mehr als einer musste die Gespräche mit seiner Familie in einer Telefonzelle unterbrechen und viele andere wurden in ihrer Freizeit in Restaurants und Diskotheken gestört. Die Mehrheit jener Razzien wurde an den U-Bahn-Zugängen durchgeführt, als die Menschen von der Arbeit kamen. Die Vormachtstellung der Polizei beruht drauf, dass die Menschen normalerweise nur sehr wenig über ihre Rechte, dafür aber sehr viel über ihre Pflichten wissen. Schon vom ersten Moment an verlangen sie von dir eine Reihe von Requisiten, damit sie denken, du wärst auch eine Bürgerin. Aber Staatsbürgerschaft wird nicht nur aus Steuergeldern und sozialer Sicherheit konstruiert, sie gründet sich darauf, dass man aktiv daran teilnimmt, Entscheidungen zu treffen.

Diese Razzien führen nicht einmal zu Rückführung der Einwanderer. Ihr einziger Zweck ist die Einschüchterung der Migranten, die sich dann schlussendlich in „Ghettos“ zurückziehen. Viele Mütter haben Angst, ihre Söhne in die Schule zu bringen, Angst, dass sie nach ihren Papieren gefragt werden, und es gibt immer noch sehr wenige, die sich trauen auf die Straße gehen und ihre Rechte einfordern, denn sie wissen, was die Konsequenzen sein können.

Eine signifikante Zahl von Anzeigen gegen polizeilichen Machtmissbrauch wurde bei allen möglichen Instanzen eingereicht; tatsächlich wird nur wenigen nachgegangen. Zu diesem Zeitpunkt muss man sich fragen, ob dieses Vorgehen legitim ist oder nicht. Wie sehr wollen wir hinter einem System stehen, das jeden Tag aufs Neue unsere kollektive und individuelle Freiheit untersagt und einschränkt? Viele Leute fragen sich, wie es denn möglich sein kann, dass ein Polizist das Gesetz übertritt. Sie können sich nicht vorstellen, dass die rassistischen Razzien illegal sind, irgendetwas werden diese Leute schon gemacht haben, dass sie fest genommen werden. Wir glauben, es handle sich um etwas, das uns nicht betrifft, wir sprechen über die und über uns, und es ist uns nicht bewusst, dass so etwas sowohl die als auch uns betrifft.

Aber wir alle zusammen können die Dinge verändern. In vielen Vierteln Madrids organisieren sich die Menschen, um diese illegalen Maßnahmen anzuzeigen, damit werden viele Razzien gebremst. Derzeit reicht es aus, dass eine Gruppe der 15M in Sichtweite der Polizei steht, damit diese in ihre Einsatzfahrzeuge zu steigen und die Menschen in Ruhe lassen. Es ist nur gerecht zu erwähnen, dass es auch lange vor der 15M Initiativen gab, von denen diese Arbeit durchgeführt wurde, aber der multiplizierende Effekt der 15M und vor allem diese wichtige Debatte, die geführt wird, sind unaufhaltbar und absolut notwendig für das geistige Wachstum der Gesellschaft. Wir Menschen sind keine Ware, wir sind nicht dazu da, benutzt und weggeworfen zu werfen, wir sind keine Konsumgüter, wir haben das Recht dort zu wohnen, wo wir wollen, ohne jede unserer Bewegungen rechtfertigen zu müssen. Es sollte keine Bürger erster und zweiter Klasse geben, es wird Zeit, dass wir uns auf Augenhöhe ansehen und uns zuhören, dass wir empathisch miteinander umgehen, was eigentlich gar nicht so schwer ist.
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass ich dank dieser Bewegung das Gefühl habe, dass jeder Raum, den ich einnehme, mein eigener ist, aufgrund der Selbstverständlichkeit, aufgrund des Gewohnheitsrechtes, weil es ganz natürlich ist. Aber in der realen Umsetzung spüre ich das nicht so wirklich. Obwohl noch viel zu tun vor uns liegt, haben wir keine Eile: „Wir gehen langsam, weil wir weit gehen wollen.“

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>