Editorial – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Offene Arme http://superdemokraticos.com/editorial/offene-arme/ Sun, 17 Oct 2010 13:41:38 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2992

Ich bin traurig. Die Superdemokraten verabschieden sich in ihren letzten Texten, ziehen Bilanz, grüßen sich gegenseitig und die Übersetzer, resümieren die Erfahrung, anhand vorgegebener Fragen in einem anonymen digitalen Raum als Individuum aufzutreten. Sie sind die aktiven gewesen in einem Dialog, der oft im Stillen verlief, beim Lesen, denn Leser, insgesamt 12.000, hatten wir! Sie waren die schweigenden Geister im Dunkeln des Cyberspace, denn oft kam auf die über 200 Essays, die jetzt in diesem Blog zu lesen sind, kein Echo zurück. Auch zwischen den deutsch- und den spanischsprachigen Autoren war es manchmal erstaunlich ruhig. Gemeinsam schweigen.

Ich bin mir dennoch sicher: Alle, die LSD genommen haben, haben ihre „Ichs durch ihre anderen dichs“ sehen können (Pedro Alexander). Das war kein Trip, das war kein Traum, das war eine traumhafte Versammlung von Ideen, Gefühlen, Visionen, eine „virtuelle geteilte Heimat“ (Liliana Lara), eine „Schreibübung“ als „erste Etappe“ (María Medrano) von ähnlichen intellektuellen Tauschrouten, die noch gebaut werden müssen. Wenn wir es geschafft haben, alte Machtstrukturen zwischen Europa und Lateinamerika für diese vier Monate aufzuheben, wenn ihr Menschen vermissen werdet, die ihr eines Tages zu treffen hofft (so wie ich!), dann glaube ich, dass diese globale Skypekonferenz, die wie eine kleine Buchmesse funktioniert hat, nicht abbrechen wird. Wir lesen und lieben uns weiter – und ich bin sicher, dass wir uns immer wieder begegnen werden. Wir werden uns an den offenen Armen und Augen erkennen. Denn ich bin optimistisch. Und wie Juan Gelman, der Shakespeare und Cervantes immer wieder liest, so wie Alan Pauls, der die Singleportionen im Kaiser’s, etwa „eine Scheibe Mozzarella“, wie Kunstobjekte liest, werde ich weiterlesen, wiederlesen, neulesen. Das ist kein Ende. Das ist ein Anfang von etwas.

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Eine Finanzspritze http://superdemokraticos.com/editorial/eine-finanzspritze/ Sun, 03 Oct 2010 13:50:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2500

Oscar Seco, Apocalipse & Alternative Worlds, 2001

„Unsere Probleme sind die gleichen, wie man sie auf den Straßen von Mailand, Berlin oder New York einatmen kann.“ So lautet ein Satz im letzten Artikel von Javier Badani aus La Paz. Er passt sehr gut zum heutigen Tag, dem 3. Oktober. Heute wird in Deutschland die Wiedervereinigung gefeiert. Ich muss zugeben, dass es mich etwas beschämt, dieses Thema anzuschneiden. Ich bin Ausländerin, und meine Beziehung zur Wiedervereinigung hat sich mit den Jahren entwickelt, daher spreche ich in der ersten Person. Ich lebe seit 13 Jahren in Berlin oder in seiner Umgebung, und als ich 1997 in Potsdam ankam, war der Wiedervereinigungsprozess noch in vollem Gange. Wenn er jetzt vielleicht eines Tages vollendet ist: Was ist denn eigentlich eine Nation?

Die Rückgewinnung des historischen Gedächtnisse ist vielleicht eine der Gemeinsamkeiten unserer Generation, und diesbezüglich gibt es keine bessere Stadt: Berlin ist die Hauptstadt für die westlichen Wendekinder. Für die verwöhnten Kinder der existierenden Leere, nachdem physisch mit dem binären Denken gebrochen wurde. Seitdem ist der Kalte Krieg beendet. Diese Stadt ist voller autorefenzieller Denkmäler. Als ob der allegorische Sinn des Mauerfalls nicht vom „Marcha por la Vida“ (Marsch für das Leben) der bolivianischen Minenarbeiter, vom Sturz des letzten Dinosauriers Pinochet, vom Triumphzug des freien Marktes begleitet worden wäre. In Tarija, in Potsdam, in Buenos Aires und in München, auf der gesamten Welt. Mit den Jahren habe ich bemerkt, dass – jenseits der Toten, die in keinster Weise Diktaturen rechtfertigen – es genau das ist, was unsere Leben verändert hat (hier beziehe ich mich auf den Text von Agustín Calcagno). Die Finanzspritzen führten dazu, dass unsere Eltern ihre Richtung verloren haben, es hinderte sie daran, darüber nachzudenken, und vor allem hat sie der Glaube verlassen, dass sie auf eine andere Art und Weise den amerikanischen Traum erreichen könnten, diesen konsumistischen Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär, der dann wahr wird, wenn man alles dafür tut. Auch das lässt sich daran wiedererkennen, wie die deutsche Wiedervereinigung ablief. Ein konkretes Beispiel ist, dass hier niemand mehr sicher weiß, was es eigentlich bedeutet, Sozialdemokrat oder Christdemokrat oder Grüner oder Liberaler zu sein. Berlin und alle anderen Städte vor den Wahlen sehen aus wie Las Vegas. Die wichtigen Entscheidungen sind ökonomischer Art, globalisiert, werden auf Kauderwelsch-Englisch getroffen und benötigen jetzt einen anderen Feind.

Wenn ich mit schlechter Laune aufwache, denke ich dasselbe wie Jo Schneider in seinem letzten Artikel, außer, dass mein Zuhause weit weg ist und ich mich damit tröste, dass ich glaube, dass dies die wiederkehrenden Gedanken der Mittelschicht sind, überall auf der Welt. Besonders das Auf- und Abflauen eines nationalen Pulses, das gilt jetzt für Deutschland, seit 1997, hat mich in einen Status versetzt, der „Nicht-EU-Bürger“ genannt wird. Wie fast alle meiner Mitbürger, egal, welchen legalen Status sie haben, habe ich viele Bürgerrechte in den vergangenen Jahren verloren. Und meine Frage lautet: Welche Rolle spielte dabei die Wiedervereinigung?

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Die Denker sind mitten unter uns http://superdemokraticos.com/editorial/die-denker-sind-mitten-unter-uns/ Sun, 26 Sep 2010 11:34:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2297 Bevor du diesen Text lesen kannst, musst du eine globalisierte Handlung ausgeführt haben. Du hast deinen Rechner angeschaltet, eine Begrüßungsmelodie gehört, dein Desktop hat sich vor dir ausgebreitet wie eine Landkarte, vielleicht hast du ein privates Foto als Hintergrundbild eingestellt: dein Freund, deine Frau, dein Baby, ein Schnappschuss von deiner letzten Reise, einen Helden, Sänger, Fußballer. Deine Ordner und Dokumente liegen verteilt vor dir wie kleine Inseln. Mit einem Mausklick, den deine Hand wie  dressiert ausgeführt hat, öffnest du den Browser (Firefox, Explorer, Safari, Netscape…), und das Netz öffnet sich für dich. Vor dir liegt die globale Unendlichkeit, eine vierte Dimension aus Raum und Zeit. Mit diesen Handlungen hast du den Ritus des „Netizen“ vollzogen. Der Netizen hat Macht. Er kann nicht nur das Netz passiv nutzen, sondern er kann es, durch Blogs, Twitter, Kommentare, Videos, Fotos, aktiv mitprägen, der bulgarische Philosoph Ivaylo Ditchev nennt das die Kultur des permanenten reflexiven Feedbacks.

Mit den Superdemokraten versuchen wir genau das. Wir stellen Fragen und sammeln Antworten, die wir auf zwei, fast drei Sprachen veröffentlichen. Anhand der Denklinien unserer 20 Autorinnen und Autoren entsteht eine neue politische, globale Theorie, die durch eine neue Sprache, neues Vokabular und durch für unsere Generation wichtige Persönlichkeiten (Deleuze/ Guattari, Renato Ortiz, Tzvetan Todorov, Rimbaud, Lady Gaga… um nur einige zu nennen) definiert wird. Da gibt es jetzt den „Globalichiater“ (Carlos Velázquez), den wir „vagabundierenden Parias“ (Calcagno) aufsuchen, wenn uns die „binäre Schlange“ (Tilsa Otta) bedroht. Den Dichter, der auf Ttzotzil schreibt (Luis Felipe Fabre), haben wir bereits als Präsidenten unserer virtuellen Gemeinschaft erwählt.

Wir kämpfen dagegen an, dass unser Denken genauso globalisiert wird wie unsere Handlungen. Wir sind digitalte Conquistatoren, mit dem Ziel, neue Wahrnehmungen zu erschließen. Fortan ist für mich jede Mango eine Mango unter dem Weihnachtsbaum (Karen Naundorf) und Multikulturalismus nur ein globaler Sticker (Monica Lizabel).

Dem globalen Medienmarkt mangelt es inbesonders an historischem Gedächtnis, welches es dem Besucher ermöglichen würde, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen und bestimmen zu können, was wirklich neu und wahrlich zeitgenössisch an der Gegenwart ist.

Boris Groys, Art Power, „The Logic of Equal Asthetic Rights“

Früher wollte ich die Orte bereisen, die noch nicht von Google Earth erfasst sind. Sobald Google keine Satellitenbilder von einem Ort vorliegen, wird die Fläche einfach irgendwie erdig eingefärbt, mit einer Pseudo-Physiognomie versehen, so dass nicht auffällt, dass an dieser Stelle Menschen siedeln. Und das ist das Gute: Niemand hat bisher die gesamte Welt regiert (Emma Braslavsky), auch nicht Google, aber du kannst heute damit anfangen, deinen Ort sprachlich und denkend zu bestimmen und ihm die Geschichte zurückzugeben. Eigentlich haben wir schon damit angefangen. Danke an euch alle!

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The Limits of Control http://superdemokraticos.com/editorial/the-limits-of-control/ Sun, 19 Sep 2010 19:49:04 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2149 „das leben ist nichts wert/ wenn wir nicht daran sterben, dass andere erben
was wir genießen und lieben“
Pablo Milanés

Vor knapp einem Jahrhundert kamen „Utopien“ in der westlichen Literatur in Mode – das, was wir heute Science Fiction nennen. Wissenschaft und darwinistische Theorie fanden Unterstützung in intellektuellen Kreisen. Das Konzept der „Rasse“ verband und vereinigte sich mit der Idee des Nationalstaats. Es erschien mir immer fantastisch, entschuldigt die Wiederholung, dass die in dieser Epoche beliebteste lateinamerikanische Sozialutopie „Die Kosmische Rasse – Mission der iberoamerikanischen Rasse“ von José Vasconcelos war. Dieses Werk wurde zum ersten Mal 1925 in Barcelona veröffentlicht, und die Schlussfolgerungen, die der Autor zieht, sind der exakte Gegenpol der Nazi-Ideologie und deren Idee einer reinen Rasse – vielleicht wegen des Einflusses der mexikanischen Revolution 1910, vielleicht, weil die spanischen Eroberer trotz ihrer destruktiven Ignoranz ihr Staunen nicht verbergen konnten, ihren Respekt vor indigenen Konstruktionen – als Beispiel reichen hier die Briefe von Hernán Cortés an den spanischen König –, vielleicht, weil die neuen Republiken seit der Unabhängigkeit Migranten aller Herren Länder (Chinesen, Japanern, Libanesen, Palästinensern, Koreanern) Tor und Tür geöffnet hatten, vielleicht, weil damals schon Mexiko einen Grenzkonflikt mit den USA austrug. Für Vasconcelos ist die „fünfte Rasse“ die Synthese von allem; der neue Mensch ist ein Mestize, und auf dem lateinamerikanischen Kontinent hat er das Licht der Welt erblickt. Die Mission des Autors ist es, diese Wahrheit zu verkündigen: Der „neue Mensch“ ist Sohn befreiter Fleischeslust, und seine Kultur ist der apostolisch-römische Katholizismus, damit werden auch die Portugiesen, Spanier und Italiener kulturell miteingeschlossen, vorausgesetzt, dass sie es schaffen, sich vom Joch des Puritanismus zu befreien, welches die römische Kirche der Liebe auferlegt hat. Der „neue Mensch“ hat keinen Namen und kann jede Hautfarbe haben so wie Figuren in Filmen von Jim Jarmusch.

Wenn wir Vasconcelos in seinem Delirium weiter folgen, bleibt, wenn die USA es schaffen, den Amazonas zu beherrschen, den „neuen Menschen“ nichts anderes übrig, als ihren Kontinent aufzugeben, um dann die Welt zu erobern. Claudia Rusch hat uns in ihrem Essay erzählt, dass die Globalisierung ein Phänomen ist, das schon viele Jahre länger existiert als das Wort, das es nun beschreibt. Im Jahre 1925 sah Vasconcelos die privaten Unternehmen die regionalen Regierungen beherrschen. Die lateinamerikanische Wirtschaft war schon immer eine globalisierte, es sind die europäischen Länder, die erst jetzt dieses Phänomen entdecken. Der Null-Ort, den Liliana Lara beschreibt. Das Goldfischglas, aus dem heraus Alan Mills spricht. Das kritische Bewusstsein, immun zu sein, das Jo Schneider beschreibt.

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Vierter Sommersalon – „Cronotopo cero“ http://superdemokraticos.com/editorial/vierter-sommersalon-cronotopo-cero/ Sat, 18 Sep 2010 18:07:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2092

Ich bin im Hotel.
Wo?
In der Hotelbar.
Welches Hotel?

Seit ein paar Jahren gibt es eine Raumzeit Null – einen Cronotopo cero – in der Mariannenstr. 26 in Berlin-Kreuzberg, wo sich Fremde, Hartz-4-Empfänger und Millionäre treffen: „Wir wollten einen Platz schaffen, an dem die Orientierung verloren geht“, erklärt Carsten, Hotel-Besitzer, der eigentlich ein französisches Bistro eröffnen wollte. Das Hotel war – schon immer und überall auf der Welt – ein Ort zum Ankommen und dann wieder Weiterreisen, ein Transit-Ort, der einlädt und nicht wertet, hier spezifisch ein Ort, wo Spanisch und alter Jazz-Swing-Blues die lingua franca sind. In diesem Hotel wirkt alles verbraucht und benutzt, aber auch altbekannt, wie bei dir um die Ecke, in der Provinz oder in der Großstadt – wenn du deinen Computer anmachst.

Überprüfe deine Haltung.
Strecke dein Rückgrat.
Tut dir dein Rücken weh?

Bei den unter 40-Jährigen regiert noch die Ironie, denn wir sind noch nicht im Sarkasmus angekommen: Wir singen Politik wie etwa MC Eisbommi, unser Gast mit Ukulele und kabarettistischem Liedgut, der bei unserem vierten Sommersalon am 24. September auftreten wird. Er selbst beschreibt sich so:

MC Eisbommi ist der einzig wahre Barde der Gegenwart – das hat er mit seinem ersten Hit Deine Mudda kommt aus Berlin unter Beweis gestellt. Wo andere versuchen, superschlau rüberzukommen, ist Bommi einfach superschlau. Wo andere sich bemühen, total ironisch zu wirken, ist Bommi einfach total ironisch. Wo andere verzweifelt nach musikalischen Innovationen suchen, sagt Bommi: „Scheiß drauf, wir machen einfach was, das geht ins Ohr und in die Beine. Fertig! Und wenn’s dann ein bisschen nach ‚Gimme hope, Joanna‘ klingt oder nur zwei Akkorde hat – egal!“ Diese Mischung aus geistiger Potenz und musikalischer Unbefangenheit – in Kennerkreisen wird Bommis Stil auch als „Ballermann-Mucke für Akademiker“ bezeichnet – macht MC Eisbommi (benannt nach einem Mixgetränk aus Deutschlands hohem Norden) zu dem kommenden Ereignis in der nationalen Singer-Songwriter-Szene.

Wir sagen: Es ist nicht nur ein kommendes Ereignis, sondern ein sehr bald kommendes Ereignis! Wir freuen uns, mit MC Eisbommi, mit euch und mit Gästen, Freunden, Unbekannten und Durchreisenden unseren vierten und leider letzten Sommersalon 2010 zu feiern: am Freitag, 24. September, um 21 Uhr in der Hotelbar, Mariannenstr. 26.

Text verfasst von Rery und Nikola im Hotel.

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Werdet Bus-Bürger http://superdemokraticos.com/editorial/werdet-bus-burger/ Sun, 12 Sep 2010 11:18:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1884 Unser Blog Los Superdemokraticos verbindet zwei Regionen, die sehr unterschiedlich auf Migration blicken, dieses Phänomen, dass weltweit die Gesellschaften, die Literaturen prägt: Deutschland hat Probleme, seine Immigranten als integralen Teil zu akzeptieren (siehe Sarrazin-Debatte, bei Jo Schneider und Emma Braslavsky), dabei hat bereits in Berlin jedes zweite Kind Migrationshintergrund, lateinamerikanische Länder wie Argentinien verstehen sich dagegen schon lange als Einwanderungsland (siehe Karen Naundorfs Text), andere Staaten – Mexiko, Bolivien, Kuba – sind durch Abwanderung geprägt: in die USA, nach Europa soll es gehen.

Doch: Jeder Mensch trägt gewisserweise einen Migranten in sich, vielleicht ist das der gute Bürger, den René Hamann getroffen hat. (Wer jetzt mit dem Kopf schüttelt, braucht in seiner Familiengeschichte nur ein paar Generationen zurückgehen.) Neu ist, dass jeder durch Internet, Kabelfernsehen, Radiostreams und Skype mit seiner ursprünglichen Heimat verbunden bleibt. Die Überseekabel dienen als Nabelschnur und das Fort-Da-Spiel von Freud wird somit ad absurdum geführt: Es ist möglich, sowohl hier, als auch da zu sein, zumindest als hyperrealer Bruder, Freund, Elternteil, Facebook-Freundin. Aus dieser Spannung heraus kann „eine neue Form der Identität aus eigenen und fremden kulturellen Praktiken“ gefunden werden, wie Lizabel Mónica es formuliert. Sie fordert weiterhin, das „Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren“. Wer fremd ist, sieht die Dinge anders. Wer fremd ist, kann konstruktive Vorschläge machen. Wer fremd ist, erlebt Missstände.

Heute reicht es, mit dem Bus zu fahren, um sich, ich sage mal, „produktiv fremd“ zu fühlen. Um zu erkennen, wo die gesellschaftliche Debatte hakt. Im Liniennetz des öffentlichen Nahverkehrs begegnen sich Arbeiter und Arbeitslose, Touristen, Asylanten und Alteingesessene, Familien, Paare und Singles, Studenten, Bauarbeiter, Straßenmusiker Sie benutzen Kollektivos, Trams, U-Bahnen und Zügen völlig zufällig. In einem Gefährt werden sie zu Gefährten eines gemeinsamen Alltags. Agustín Calcagno lauscht im Bus einer Mischung aus Cumbia und Minimal Tech, Maria Medrano den Stimmen der Frauen, die ihre Verwandten im Gefängnis besuchen, Leo Felipe Campos bedauert ausländischen Besuch, der sich den „Abenteuern der verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel“ nicht stellt, Rery und ich treffen Touristen und einen berühmten bolivianischen Maler in der M 29. Ich plädiere hier dafür, eine neue Form der Staatsbürgerschaft, die Bus-Bürgerschaft zu gründen. Vor dem Bus sind alle gleich. Fahrt mehr Bus! Erhascht den Blick des Anderen.

PS: Ihr könnt natürlich sagen, das ist doch Schwachsinn. Aber diese Form der Annäherung an unterschiedliche kulturelle Codes wäre zumindest ein Anfang. Wir könnten anfangen, mit denen zu reden, die neben uns sitzen. Zu beiden Seiten. Und Bus und Bussi, das geht gut aus.

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Was legal ist … http://superdemokraticos.com/editorial/was-legal-ist/ http://superdemokraticos.com/editorial/was-legal-ist/#comments Mon, 06 Sep 2010 14:51:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1719 Es ist eines wichtigsten Ziele von Los Superdemokraticos, eine Sammlung von Polaroids zu erstellen, die das Individuum in seinem Umfeld zeigen, und zu versuchen, gemeinsame Linien zwischen unseren Mannschaftsmitgliedern zu entdecken, die wir als Repräsentanten „unserer Generation“ ausgewählt haben. Auch wenn natürlich 20 Personen kein repräsentatives Bild ergeben, haben wir sehr darauf geachtet, dass unterschiedliche Positionen vertreten sind. Unser Name ist nur eine Übertreibung, ein Witz über das, worüber wir hier ständig nachdenken: die Meinungsfreiheit. Als Individuen stehen wir oft im Konflikt mit Meinungen und Überlegungen, die nicht unserer eigenen Haltung entsprechen. Als Projektleiterinnnen von Los Superdemokraticos müssen wir weiter gehen: unsere Neutralität bewahren. Was tun?

Unsere Devise lautet: Was legal ist, ist erlaubt; allerdings verletzen manche Gedankengänge, die argumentativ gut strukturiert sind, das individuelle Feingefühl. Wir haben intern die verschiedensten Diskussionen geführt. Ich persönlich hätte mir niemals vorstellen können, dass mein Name mit einer Idee in Verbindung gebracht wird, die Javier Badani in seinem Artikel „Erschießen wir sie?“ vertritt. Aus dem Maschinenraum von Los Superdemokraticos kann ich nur dieses sagen: Wir sind nicht für die Todesstrafe, wir möchten keine Diskussion befördern, die in diese Richtung geht. Die Abwesenheit der Staatsmacht legitimiert den Mob in keinster Weise, die Justiz in die eigenen Hände zu nehmen und das auch noch als die Ausübung von Gerechtigkeit anzusehen.

Als Frau bin ich auch nicht mit Liliana Laras Artikel „Entbindung“ einverstanden. Mir erscheint es natürlich legitim, die Mutter- oder Vaterschaft als einen fundamentalen Aspekt des Lebens eines Subjekts anzuerkennen. Und natürlich darf niemand darüber urteilen, welcher Apspekt für eine andere Person der wichtigste im Leben ist. Aber die Wahrheit ist doch, dass Frauen seit Jahren, Generation für Generation, dafür kämpfen, selbst über ihre Körper zu bestimmen, aufzuhören, eine Gebärmutter zu sein. Ich glaube nicht an die Mutterschaft mit großem M. Dieses Konzept kam mir immer wie eine Falle vor, die das Patriarchat der Frau stellt, um sie „ehrenhaft“ im privaten Raum zu halten. Für mich ist die Erzeugung von Nachkommen etwas ebenso Männliches wie Weibliches. Eine Entbindung ist kein Garant für menschliche Beziehungen, und ein Kind gehört denen, die es großziehen. Daher bin ich für das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare.

Auch meine Kollegen haben über die vergangenen Wochen mit einigen Texten Probleme gehabt, aber weil wir, wie alle hier, Individuen sind, reagieren wir bei ganz unterschiedlichen Dingen sensibel. Bisher haben wir unseren Zensur-Instinkt im Zaume gehalten und Themen nicht diskutiert. Jetzt aber ist ein guter Moment, um unsere Position klarzustellen: Wir teilen viele der Meinungen unserer Autorinnen und Autoren, aber wir bleiben unserer Idee treu: Was legal ist, … Genau das. Unsere Editorials sind dazu da, die Meinung des Teams wiederzugeben und von unserem Einspruchsrecht Gebrauch zu machen. Meinungsfreiheit ermöglicht uns, öffentlich zu zeigen, dass wir eine bestimmte Ansicht vertreten. Vor allem ermächtigt sie uns, öffentlich zu sagen, wenn wir nicht einverstanden sind.

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Im Wahl-Lokal http://superdemokraticos.com/editorial/im-wahl-lokal/ Sun, 29 Aug 2010 15:32:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1355 Wenn meine Eltern wählen gehen, ziehen sie sich etwas Festliches an, wie früher die Menschen auf dem Dorf für den Kirchgang, und gehen ehrfürchtig schweigend ans Ende unserer Straße, in das Wahllokal in einer Grundschule, einem Betonbau der 1960er Jahre. Damit zeigen sie, dass die Artikulation ihrer Stimme für sie nicht nur eine Pflicht, sondern ein Ritual darstellt, das jeden Bürger überhaupt erst als Bürger definiert. Ich erinnere mich daran, wo ich das letzte Mal gewählt habe (aber nicht daran, was ich anhatte), und zwar in einer Volksabstimmung in Friedrichshain-Kreuzberg, dem Berliner Bezirk, in dem ich wohne. Es ging darum, dass ein langer Uferstreifen der Spree, der von Standbars, alten Lagerhallen und Grünflächen besiedelt ist, von der Stadtverwaltung an Investoren verkauft worden war. Hier sollen sich in Zukunft große Medienunternehmen ansiedeln, die den Zugang zum Wasser verbauen und privat nutzen wollen – und damit dem Bezirk einen menschenfreundlichen öffentlichen Ort wegnehmen. Die Volksabstimmung sprach sich mit 87 Prozent der Stimmen gegen die Investorenpläne aus, aber in den weiteren Bauverhandlungen wurde dieses Ergebnis einfach ignoriert.

Ich bin immer noch wütend darüber. Mir wurde klar, wie wenig heute demokratische Abstimmungen und breite Bürgerbewegungen politischen Einfluss haben; dass wir in einer „Postdemokratie“ leben, wie der britische Politologe Colin Crouch es nennt. Ökonomische Eliten, Lobbygruppen und so genannte Berater treffen die Entscheidungen, weil sich der Staat immer mehr aus der Fürsorge um den Bürger zurückzieht. Crouch fordert, es müssten sich neue Bürgeridentitäten herausbilden.

Wie könnten diese aussehen? Emma Braslavsky schlägt die tägliche aktive Positionierung als „Bürger-Individuum“ vor, das sich durch Anpassung und Widerstand auszeichnet. Lizabel Mónica fühlt sich aufgerufen, in René Hamanns Text die „politisch inaktiven Sätze“ zu analysieren. Wir brauchen also eine permanente Bewusstseinserweiterung. Erst wer die Realitäten, in denen er lebt anerkennt und angemessen beschreibt, kann sie verändern, seien es Megacities, wie bei Leo Felipe Campos und Carlos Velázquez, oder „magische Objekte“ (Fernando Barrientos), mit denen er sich selbstbestimmte imaginäre Orte erschafft und somit in einer Feedbackschleife in die Wirklichkeit eingreift. Ein Buch in die Hand zu nehmen, diese Wahl haben wir.

Wenn der „Bürger“ ein verbrauchtes antikes Konzept ist, eines, das ja schon in seiner Urform elitär war, weil nur herrschende Männer in der Polis wählen durften, müssen wir den Bürger recyclen; das sage ich jetzt mal so als Deutsche, die immer alles recyclen will. Wenn wir uns denkend zusammentun, könnte aus dem heute oft sehr virtuellen „Nicht-Ort“ (Karen Naundorf), an dem sich das Subjekt frei fühlt, aber auch „ständig abwesend“ ist, eine Stammkneipe werden. Damit meine ich nicht eine Rückkehr in Stammeskultur, sondern in Gemeinschaftskultur. Wir brauchen alle unser Lokal in der augmented reality, wo wir ganz bourgeois über Klatsch und Tratsch (Luis Felipe Fabre) sprechen und unsere Haltungen einbringen. Denn wir sind unsere eigenen Repräsentanten.

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Angie alleine in der Pampa http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/ http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/#comments Sun, 22 Aug 2010 15:22:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1140 Dieser Titel kam mir in den Kopf, als ich die Zeichnung von Valia Carvalho sah, die uns in den nächsten Wochen als Illustration des aktuellen Themas begleiten wird: Bürger sein. Die Frisur, die klobige Körperform, das gepunktete Kleid – wie ein Kittel –, das einzelstehende Haus im Hintergrund, das einen dunklen Schatten wirft, erinnerten mich an die deutsche Kanzlerin. Angie, so nennen die Deutschen ihre Regierungschefin, wuchs in der verschwundenen Deutschen Demokratischen Republik als Pastorentochter auf. Sie studierte Physik in Leipzig und schrieb 1978 ihre Diplomarbeit über „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“. Sie heiratete zweimal und hat keine Kinder. Ihre politische Karriere begann im Herbst 1989 als ehrenamtliche Mitarbeiterin des „Demokratischen Aufbruchs“ (DA), nachdem sie an der Demonstration „gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“ auf dem Alexanderplatz teilgenommen hatte. Diese Demo vom 4. November ist sicherlich eines der jüngsten weltweiten Beispiele für die Bedeutung und den Wert von Zivilgesellschaft. Die Aktion begann als eine Initiative von Schauspielern und Arbeitern an zwei Ostberliner Theatern sowie vieler Künstler und schaffte es, etwa eine halbe Million Menschen zu versammeln. Die Grundidee war, das Volk als Träger der Landeshoheit einzufordern: Die Parole lautete „Wir sind das Volk“, und dieses Volk entschied durch diese Performance, aus eigener Kraft demokratisch zu sein. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, die diese Bewegung unterstützten, nicht aufhören wollten, Sozialisten zu sein. Dass viele Menschen nicht damit einverstanden sind, wie die Wiedervereinigung umgesetzt wurde. Claudia Rusch spricht darüber in ihrem Essay.

Auf der anderen Seite erklärt uns Agustín Calcagno die Gründe, warum er selbst die Zivilbewegungen unterstützt, welche „demokratische Revolutionen“ herbeigeführt haben und sich als „bolivariano“ bezeichen, ein Begriff, den der venezolanische Präsident Hugo Chavez geprägt hat. Liliana Lara lässt uns mit einer gewissen Melancholie zurück, die einer Fremden, die den Wandel in den Gebieten, die sie bewohnt, direkt wahrnimmt. Die Distanz hat sie dazu gebracht, eine „virtuelle Kommandobrücke“ zu erschaffen, von dort aus teletransportiert sie sich in eine der beiden Wirklichkeiten, in denen sie gebraucht wird. Und ich verstehe sie völlig. Auf meinem Breitengrad lebe ich ähnlich, und ich sehe die Revolution, die gerade in Bolivien passiert, aus der Ferne. Oft frage ich mich, ob diejenigen, die so fühlen wie ich, Demokraten sein und weiter Sozialisten bleiben wollen. Das Volk hat souverän darüber entschieden, die Revolution zu unterstützen, und die Antwort des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist es, abseits von allen Diskursen, jene Institutionen zu schleifen, die demokratische Transparenz garantieren. Augenscheinlich ist ein Hauptvorschlag, in das Jahr 1917 zurückzukehren, als hätte es 1989 nicht gegeben. Als ich noch klein war, herrschte in Bolivien noch eine Diktatur. Wir lebten in Santa Cruz und mein Vater verband mir den Arm oder den Fuß, um durch die Polizeikontrollen zu kommen und seine Pokerrunden zu treffen.

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Eine kleine Ninja-Fiesta: der dritte Sommersalon http://superdemokraticos.com/editorial/ninja-fiesta-der-dritte-sommersalon/ Wed, 18 Aug 2010 15:03:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=961

„Wir müssen erfinderisch sein und Klamotten wie eine Sprache benutzen.“ (Alan Mills)

Man kann nicht über das kulturelle Leben der Latinos in Berlin sprechen, ohne die verschiedenen DJ-Kollektive zu erwähnen, die in der Stadt aktiv sind. Sie sind ein Phänomen, das die Unter-40-Jährigen direkt betrifft, und das Bindeglied für die Latinos, die in zweiter Generation hier leben. Für diejenigen, die in Berlin aufgewachsen sind, aber nicht vergessen haben, dass ihre Eltern vom Neuen Kontinent gekommen sind. Die Parties in den Clubs dienen der Community, aber auch anderen, die an dieser Szene interessiert sind, als Treffpunkt, und bedeuten in vielerlei Hinsicht eine Einnahmequelle. Sich im Kollektiv zu organisieren, ist die Integrationstechnik der Jüngeren; sie erschaffen so ihre eigenen Arbeitsplätze und vermitteln bestimmte Aspekte ihrer Kulturen. Ihre Existenz ist eine Aneignung von Klischés. Die DJs repräsentieren mit Sicherheit das beststrukturierteste Segment der Gemeinschaft, das gleichzeitig besser als andere die Kommunikationscodes der globalisierten Welt bedient. Ihre Fiestas sind der direkteste Weg, um den ästhethischen Puls vieler lateinamerikanischer Länder zu fühlen. Viele haben sich zu dialogischen, interkulturellen Orten einer spontanen Generation entwickelt.

Wir haben uns entschieden, unseren dritten Sommersalon in ein Ninja-Fest zu verwandeln – inspiriert von den Lehren des Alan Mills und den Gemeinschaftscodices der verschiedenen Kollektive. Wir freuen uns, euch DJs aus drei Kollektiven vorzustellen: Kid Watusi (Cumbia Rockers), Intiche (Pachazonica) und Grace Kelly (Mundo Mix), sicherlich eine der wichtigsten DJanes der Szene und unsere Gastgeberin im Madame Satã, Bergstr. 25. Dieser freie Ort, mit viel Kreativität und Liebe zu Details vor drei Wochen von einem anderen Kollektiv in Berlin-Mitte eröffnet, heißt euch alle am Donnerstag, 26. August ab 21 Uhr, herzlich willkommen.

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