Apropos rudimentäre Technik: Einem anderen Freund von mir, dem Poeten Daniel Saldaña París, kam die wahnsinnig witzige Idee, etwas zu initiieren, dem er den Namen „Faxbook“ verlieh: eine Art freiwillig-reaktionäre und mittlerweile gescheiterte Imitation von Facebook. Es hätte sich dabei um Zusammenkünfte gehandelt, bei denen eine Gruppe von Freunden statt Computern Faxgeräte benutzt, um sich gegenseitig unsere Neuigkeiten, Klatsch und Kommentare mitzuteilen. Eine Art anti-ökologische Performance, bei der in jeder Sitzung eine Menge Papier verschwendet wird, die etwa ein paar Bäumen entspricht. Ich weiß nicht, warum ich kein Facebook-Profil habe, aber ich würde keinen Moment zögern, mich bei Faxbook einzuschreiben, wenn es das denn gäbe. Ich weiß nicht, möglicherweise habe ich kein Facebook-Profil, weil ich zu lange gezögert habe, und da jetzt wirklich jeder eines hat, finde ich es interessanter, keines zu haben. Oder vielleicht, weil es für mich einfach eine Horrorvorstellung ist, den Menschen den Kontakt zu mir zu ermöglichen, die ich im Leben zurückgelassen habe. Ich habe absolut kein Interesse daran, von meinen Ex-Kindergartenfreunden gefunden werden zu können. Ich will gar nicht wissen, ob sie verheiratet sind, Kinder haben, ob sie ein Perücken-Geschäft eröffnet haben oder eine Zahnarztpraxis. Ich will auch nicht ihre Bilder aus dem Türkei-Urlaub sehen: diese verkürzten und glücklichen Versionen des Lebens, die für das gesamte Publikum geeignet sind. Natürlich kann man auch eine Freundschaftsanfrage ablehnen, aber ich kenne mich, und mir fällt es schwer Nein zu sagen. Ich habe kein Facebook-Profil und das liegt mitnichten daran, dass ich es für das absolut beste Spionage-Netzwerk schlechthin halte, in dem jedes Mitglied freiwillig zum Informanten und Denunziant seiner selbst wird, es liegt an der Unentschlossenheit. Denn ich muss auch sagen, dass ich mich manchmal so fühle, als würde ich etwas verpassen, vor allem, wenn meine Freundin mir eine Diskussion vorliest, an der ich gerne teilgenommen hätte. Es ist schon komisch: Einige mexikanische Schriftsteller, egal wie politisch und herzlich sie als Menschen sind, zeigen auf Facebook ihre Seite als hitzige Polemiker. Sie sagen Dinge, die sie beispielsweise bei einer öffentlichen Diskussion vor Publikum nicht sagen würden. Ich nehme an, dass liegt an dieser gewissen Atmosphäre der Intimität: Ansichten über Politik und Literatur wechseln sich mit Fotos von der Familie und von Haustieren ab. Außerdem steckt ja die Idee dahinter, dass man sich „unter Freunden“ unterhält. Obwohl man viele davon nicht kennt und den Verdacht hegen kann, dass es sich bei denen um Feinde handelt, getarnt mit falschen Identitäten. Tatsächlich ist es nun so, dass Facebook zu einem Forum für Debatten wurde, zumindest unter den mexikanischen Dichtern, in dem Dinge gesagt werden, die sonst nirgends gesagt werden würden. Natürlich passiert es nicht selten, dass die intellektuelle Debatte in Richtung persönlicher Diskreditierungen schlingert, wahrscheinlich begünstigt durch genau diese Atmosphäre der Intimität. Und so wechseln sich Argumente mit Links zu unerträglichen Liedern mit Beleidigungen und Geburtstags Glückwünschen ab. Das wurde mir jedenfalls so erzählt. Eine Mischung, die ich faszinierend finde. Manchmal. Denn mir wurde auch berichtet, dass ein gewisser verabscheuenswerter Dichterling mich vor einigen Wochen auf seiner Pinnwand beleidigt hat. Tja, und weil ich eben nicht auf Facebook bin, konnte ich mich nicht verteidigen… Nun gut, warum bin ich nicht auf Facebook?
Ich weiß es nicht. Ich nehme an, dass es früher oder später damit endet, dass ich auch einen Account eröffne. Ja, ich sehe mich schon gemeinsam mit hundert anderen Personen „Gefällt mir“ klicken auf ein Bild vom neuen Haus von der Cousine der Tante vom Lehrer des Töpferkurses, bei dem ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr war.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>With a growing wave of violence, President Felipe Calderon (who is in part responsible due to his poor strategy in what he called „war against the narco“) drawed a line and asked the media not to alarm the society. But about what else can we talk? : so titled very aptly the Mexican artist Teresa Margolles her last exhibition at the Venice Biennale. A brutally pertinent installation, made from materials that the artist collected at crime scenes mainly related with drugs: the floors of the ancient Venetian palace were „washed“ with a mixture of water and blood from the victims (sometimes turn killers), murderers’ messages embroidered in gold on canvas soaked in blood (in reference to the „narco-blanket“) were hung on the walls, and ostentatious narco-style jewelry, made of gold and glass chips (as if they were diamonds) from broken windshields in the shootings were shown. The installation is almost an illegal work, because she works with materials that are police and forensic evidences. Materials, whose collection by the artist implies the corruption of government officials. Certainly a very accurate image of Mexico in its paradoxical symbolic literality, which deeply angered the federal government.
Margolles installation works with fear and body-anxiety, and invites everybody to think twice about them, almost as a provocation. Is not fear an effective control mechanism, finally? We have all experienced a striking example after September 11th’s attacks: nowadays, trying to introduce a bottle of water on a plane makes a suspect from you. A bottle of water! We live in an era of wide-spreaded paranoia: said that, I do not intend to say that the danger is not real. But the truth is that I hate each day airports even more, because they are now a performance of fear and control. And I hate to feel controlled.
That’s why I don’t know what to think anymore, what to ask, what to demand, what to propose in terrible situations as one appeared a few days ago: 72 Latin American migrants were killed by the Zetas (a group of hitmen associated with drugs). So do Los Zetas operate. Among their activities, kidnapping immigrants from Central and South America who try to reach the United States through Mexico, looking for a job. Where on Earth killing at once 72 people is something that could be made with impunity? The first thing that comes from the guts, is to require order and control to the authorities. Then my own desire scares me. Totalitarism and many State crimes have emerged from the same popular demand. Not to mention the corruption, complicity and criminality of the Mexican „law enforcement“… And the truth is, that this „war against drugs“ there have been many civilian casualties, innocent people killed by the bullets of the army or the police. As Liliana Felipe-s song says: „You have to decide / Who would you prefer to kill you: / a terrorist / or your own government, to save you / from the terrorist ….“
Of course we should legalize drugs. And of course, talking about a „war against drugs“ in Mexico is full of hypocresy: the money earned from dealing with drugs is one of national economy’s biggest supports. Politicians and authorities: if you really want to do something, you should start by reading The Naked Lunch by William Burroughs.
Meanwhile, a dear friend, the poet Maria Rivera, recently proposed at her facebook a sort of sabotage or civil protest: she invites recreational drug consumers to stop buying their candy until violence levels fall. A boycott as any other boycott to any other product, which attacked a principle we consider valuable. Because own complicity plays here a role too.I imagine a bizarre place where all my abstinent friends with eyes popping out of their heads are marching through the streets shouting slogans like „Until the end of the thriller / I’m not buying from my dealer!“ Maybe. Who knows. I don’t know it anymore.
© Luis Felipe Fabre
Translation:
Ralph del Valle
Es geht nicht darum „das Ende“ zu kennen: Das Ende eines Dramas kommt fast immer vor dem letzten Satz, manchmal kommt es sogar danach: außerhalb des Buches. Es gibt sogar Bücher, die haben keinen letzten Satz, wie Die wilden Detektive, das mit einem Bilderrätsel abschließt.
Manchmal gibt es keine Interpunktion oder der Satz ist zu lang, dann lese ich nur die letzten Worte. Das ist bei einem meiner Lieblingsenden der Fall: dieses „Ja, ich will, ja“ von Molly Bloom am Ende von Ulysses, diese so erotische, so lebensbejahende Zustimmung. Wie könnte man nicht etwas zu lesen beginnen, das so endet? Ja, ich will, ja, habe ich mir gesagt und mich daran gemacht, es zu lesen. Oder das Ende von Unterwegs von Kerouac, das mir zugegebenermaßen das ein oder andere Tränchen der schuldhaften Kitschigkeit entlockt und das mich fasziniert. Ich lese es mir laut vor, als wäre es ein Gedicht. Ein Satz, der sich durch einen ziemlich umfassenden Absatz dehnt und abschließend aussagt: „…und niemand, niemand weiß, was einem jeden bevorsteht, außer den elenden Lumpen des Alterns, dann denke ich an Dean Moriaty, dann denke ich auch an Old Dean Moriaty, den Vater, den wir nie gefunden haben, ja, dann denke ich an Dean Moriaty.“ Jetzt, wo ich diese beiden Enden gemeinsam niederschreibe, fällt mir auf, dass ich wohl eine gewisse Schwäche für die Verwendung des Wortes „ja“ bei den Verabschiedungen habe. Sollte ich wohl diesen Text, mit dem ich meine Teilnahme bei Los Superdemokraticos beende, mit „ja“ abschließen? Ja?
Mir würde es wirklich gefallen, mit den Worten aufzuhören, die Salinger in Der Fänger im Roggen Holden Caulfield am Ende sagen lässt: „Man sollte nie jemandem etwas erzählen. Sonst fangen sie alle an, einem zu fehlen.“ Das Problem ist, dass das nicht ein Satz ist, sondern es sind zwei. Dann passiert es. Ein Satz führt mich zum vorherigen und der zum vorherigen und plötzlich befinde ich mich in der Mitte des Buches und habe alles rückwärts gelesen. Also gehe ich zum Anfang und bin mit dem Buch fertig, wenn ich in der Mitte angekommen bin.
Aber ich schreibe nicht rückwärts. Oder doch? Ich erinnere mich auf einmal an eine Geschichte, deren Titel und Autor ich vergessen habe. Ich erinnere mich, dass am Ende gesagt wird: „Die Abschiede kündigen sich nicht an, und er drückte aufs Gaspedal“. War es so? Ja, ich glaube, ja.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>1- Hat in einer globalisierten Welt ein Poet, der auf Englisch schreibt, irgendeinen Vorteil gegenüber einem Poeten, der auf irgendeiner anderen, viel weniger verbreiteten Sprache schreibt?
a) Ja.
b) Nein.
c) Nein, vorausgesetzt, der Poet aus der anderen Sprache wird nachträglich ins Englische übersetzt.
d) Der Poet, der auf einer Minderheitensprache schreibt, hat einen Vorteil gegenüber dem Poeten, der auf Englisch schreibt, denn die globalisierte Welt strebt nach Pluralität und Multikulturalität, und deshalb wird er durch positive Diskriminierung begünstigt.
2- Wenn sich ein portugiesischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:
a) Internationalität.
b) Globalität.
c) Universalität.
d) Kosmopolitismus.
3- Wenn sich ein mexikanischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:
a) Immigrant.
b) Verdächtig.
c) Pro Yankee.
d) Globalophil.
e) Pessoaesk.
4- In wie viele Sprachen muss ein Gedicht übersetzt werden, um ein globalisiertes Gedicht zu sein?
a) Die Übersetzung ins Englische, falls es auf einer anderen Sprache geschrieben wurde, ist absolut ausreichend.
b) Mindestens in drei westliche und eine fernöstliche Sprache.
c) Mindestens in zehn indigene Sprachen.
d) Es hängt nicht von der Übersetzung, sondern von der Verbreitung ab.
5- Ein globalisiertes Gedicht ist in letzter Instanz:
a) Ein multikulturelles Gut.
b) Universelle Literatur.
c) Eine Ware.
d) Eine Utopie.
6- Welches Gedicht passt besser zu der Idee von einer globalisierten Welt?
a) Ein Gedicht, das auf mehreren Sprachen verfasst wurde, sich auf verschiedene Kulturen bezieht und in der Lokalzeitung eines kleinen, ländlichen Dorfes erscheint.
b) Ein hypertextuelles Gedicht, veröffentlicht auf einem dunklen, privaten Blog.
c) Ein Sonett eines berühmten, US-amerikanischen Dichters, der gerade mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.
d) Ein Gedicht, das auf irgendeiner indigenen Sprache verfasst wurde, sagen wir auf Tzotzil, und bei einem internationalen Poesiefestival in Paris verlesen wird, an dem 100 Personen teilnehmen.
7- Wenn der Autor des Gedichtes auf Tzotzil aus Antwort d) der vorherigen Frage sich entscheidet, in Paris zu bleiben, wird er zu:
a) Einem internationalen Poeten.
b) Einem Produkt der Globalisierung.
c) Einem illegalen Einwanderer.
d) Einem Problem für die Veranstalter des Festivals.
8- Angenommen, Sie hätten als Publikum bei diesem angenommenen internationalen Poesiefestival teilgenommen (bei dem unser mittlerweile geschätzter Autor des Gedichtes auf Tzotzil aufgetreten ist) und, natürlich nur angenommen, dass wir von nationaler Literatur sprechen könnten und uns darüber bewusst sind, dass wir vermutlich in der Annahme einer vermutlich globalisierten Welt leben: Für welchen Dichter hätten Sie mehr applaudiert?
a) Für einen mexikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem US-amerikanischen Dichter verfasst worden.
b) Für einen US-amerikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem kubanischen Dichter verfasst worden.
c) Für einen deutschen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem deutschen Dichter verfasst worden.
d) Für den Autor des Gedichtes auf Tzotzil, obwohl Sie nichts von dem verstanden hätten, was er gelesen hat (und möglicherweise genau deswegen).
e) Sie würden für sich selbst applaudieren, da Sie ohne Murren eine Lesung von über einer Stunde ertragen haben, die voll von fatalen Vorträgen war, die glücklicherweise jeglicher weltlicher Transzendenz entbehrten, denn Poesie interessiert ja sowieso keinen.
9- Was, glauben Sie, verbirgt sich hinter der offensichtlichen Unschuld eines internationalen Poesiefestivals:
a) Eine globalophobe Gruppierung, die vorgibt, die Verschiedenheiten und die Regionalismen zu betonen, indem sie die unterschiedlichen Nationalitäten ihrer eingeladenen Dichten hervorhebt, als Akt des geheimen Widerstands.
b) Eine globalophile Gruppierung, die eine internationale Handvoll Dichter eingeladen hat, aus reiner Geilheit auf exotische Waren, genau wie bei diesen asiatischen Soßen, über die sie jedes Mal so sehr in Aufregung geraten, wenn sie in den Supermarkt gehen.
c) Eine weder globalophobe noch globalophile Gruppierung, sondern lediglich eine Gruppe von gelangweilten Menschen, die versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, so armselig dieses auch sein mag.
d) Eine Gruppe Dichter, die andere Dichter in ihr Land einlädt, in der Hoffnung, dass diese sie ebenfalls einladen und in den jeweiligen Ländern empfangen werden: ein Zweig von dem, was man nun allgemein Fairtrade nennt, eine billige Art des Reisens, literarischer Tourismus, zusammengefasst, eine Gruppe dahergelaufener und opportunistischer Dichter.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>Aufgrund der steigenden Welle an Gewalt bezieht Präsident Felipe Calderón, teilweise wegen seiner schlechten Strategie bezüglich dessen, was er „Krieg gegen den Drogenhandel“ nennt, mitverantwortlich für die derzeitige Situation, Position. Er bittet die Medien darum, die Menschen nicht zu beunruhigen. Aber Über was sollen wir denn sonst reden? betitelte die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles sehr treffend ihre Ausstellung auf der letzten Biennale von Venedig. Eine Installation, die unglaublich berührt und Materialien verwendet, die von der Künstlerin an Tatorten der Verbrechen zusammengesammelt wurden, die vorrangig mit Drogenhandel in Zusammenhang standen: Die Böden des antiken venezianischen Palastes wurden mit einer Mischung aus Wasser und Blut der Opfer (die in manchen Fällen auch gleichzeitig Täter waren) „gewaschen“. An den Wänden wurden Botschaften der Mörder ausgestellt, in Gold auf blutdurchdrängtes Leinen gestickt (eine Anspielung auf die „Narco-Mantas“), und es wurden prahlerische Juwelen gezeigt, Narco-Style, aus Gold und mit Scherben besetzt (so wie man Diamanten einarbeiten würde), aus Windschutzscheiben, die bei Schusswechseln zu Bruch gingen. Die Installation grenzt schon fast an Illegalität, da mit Materialien gearbeitet wurde, die polizeiliche und gerichtliche Beweisstücke sind. Dass derartige Dinge in den Besitz einer Künstlerin gelangen konnten, deutet auf die Bestechlichkeit der offiziellen Autoritäten hin. Natürlich ist dieses Bild von Mexiko wegen seiner paradoxen Wörtlichkeit symbolisch sehr gut getroffen und wird von der Regierung des Landes als ausgesprochen störend empfunden.
Die Installation von Margolles arbeitet mit der Angst und dem körperlichen Angstzustand und lädt dazu ein, über diese als Provokation nachzudenken. Ist die Angst letzten Endes nicht ein wirksamer Kontrollmechanismus? Wir alle haben dies seit dem 11. September am eigenen Leibe erfahren: Eine Flasche Wasser in ein Flugzeug mitzunehmen, macht dich sofort zu einem Verdächtigen. Eine Flasche Wasser! Wir leben in einer Epoche der generalisierten Paranoia, und damit will ich nicht sagen, dass die Gefahr nicht real ist. Aber Tatsache ist, dass ich Flughäfen jeden Tag mehr hasse. Sie haben sich in eine Art der Angst- und Kontroll-Performance verwandelt. Und ich hasse es, mich kontrolliert zu fühlen.
Deshalb weiß ich nun nicht mehr, was ich denken, fordern, verlangen soll, und was ich bei so schrecklichen Situationen, wie in der Nachricht, die vor einigen Tagen erschien, vorschlagen soll: 72 lateinamerikanische Migranten wurden von der Zeta hingerichtet (eine Gruppe Auftragsmörder, die in Verbindung mit dem Drogenhandel steht). Die Zeta arbeitet so. Und zu ihrem vielseitigen Aufgabengebiet gehört auch die Entführung von Migranten, die aus Zentral- und Südamerika stammen und versuchen, von Mexiko aus in die USA zu gelangen, um dort Arbeit zu finden. Was ist das für ein Land, in dem auf einen Schlag 72 Menschen straffrei getötet werden können? Das erste, was mir einfällt, ist, Zucht und Ordnung von der Obrigkeit zu verlangen. Gleich darauf erschreckt mich mein eigener Wunsch. Wie viel Totalitarismus und wie viele Verbrechen der Regierung sind genau dieser Forderung des Volkes entsprungen? Genau das, und ganz zu schweigen von der Korruption, Komplizenhaftigkeit und Kriminalität der mexikanischen „Ordnungsmächte“… Und Tatsache ist, dass es in diesem „Krieg gegen den Drogenhandel“ unzählige zivile Opfer gab, Unschuldige, die durch die Kugeln des Militärs oder der Polizei starben. Wie es in dem Lied von Liliana Felipe heißt: „Tienes que decidir / quién prefieres que te mate: / un comando terrorista / o tu propio gobierno para salvarte / del comando terrorista…” („Du musst dich entscheiden/ wer dich töten soll:/ein Terroristenkommando/ oder deine eigene Regierung, um dich zu retten/ vor dem Terroristenkommando…“)
Natürlich müsste man die Drogen legalisieren. Und natürlich ist es eine Heuchelei, von einem „Krieg gegen den Drogenhandel“ zu sprechen, wenn das Geld aus dem illegalen Handel einer der Stützpfeiler der nationalen Wirtschaft ist. Wenn die Politiker und Autoritäten tatsächlich etwas ändern wollen würden, sollten sie damit anfangen, El almuerzo desnudo (Naked Lunch) von William Burroughs zu lesen.
Na gut, ich sollte zum Schluss kommen. Parallel dazu hat eine liebe Freundin, die Dichterin María Rivera, kürzlich auf ihrer Facebook-Seite, eine Form des zivilen Sabotage-Protests vorgeschlagen: Sie forderte die Hobby-Drogenkonsumenten dazu auf, ihre Naschereien solange nicht mehr zu kaufen, bis das Gewaltniveau gesunken ist. Ein Boykott wie man ihn auch gegen jedes andere Produkt machen würde, das gegen die Prinzipien verstößt, die wir für wichtig halten. Denn es gibt ja auch den Punkt der eigenen Mittäterschaft. Ich stelle mir eine außergewöhnliche Demo vor, bei der all meine Freunde, mit weit aufgerissenen Augen, wegen der Entzugserscheinungen, durch die Straßen marschieren und Slogans rufen wie: „Bis er nicht aufhört der Thriller, kauf ich nicht mehr bei meinem Dealer!“ Könnte sein. Wer weiß. Ich weiß es nun mal nicht.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>Ich bin schwer an diesen Personen interessiert, aber eher als Konversationsthema. Um es auf den Punkt zu bringen: das, was mich auf dieser Welt am meisten interessiert, sind die Gerüchte und ganz besonders der Klatsch über die zeitgenössischen mexikanischen Dichter. Das ist mein Spezialgebiet und dem widme ich all die mir zur Verfügung stehende Zeit. Wer mit wem ins Bett geht und damit wen betrügt, wo, wie, weswegen und wofür, das alles erfüllt mich mit unglaublich großer Freude. Den wahren Grund eines Streits, einer Trennung, einer Publikation herauszufinden, baut mich auf. Je mehr Menschen involviert sind, je komplizierter die zur Debatte stehende Angelegenheit ist und je schlimmer die Gefühle sind, desto mehr gefällt es mir.
Natürlich muss man – wenn man beim Thema literarischer Klatsch up to date sein will – regelmäßig Leute besuchen, lange Zeit am Telefon verbringen, chatten und Facebook durchforsten. Das stellt für mich keinerlei Problem dar: Meine Freunde sind genauso neugierig auf Klatsch wie ich. Tatsächlich ist der komplette Verbund der mexikanischen Poeten gleichermaßen auf Klatsch versessen. Man behauptet, dieses Verhalten sei eine schlechte Angewohnheit aus den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, als die Schriftsteller und Künstler üblicherweise Teil der kommunistischen Zellen und Untergrundbewegungen waren. Wurde man mit einem Trotzkisten in einem Restaurant gesehen, wurde man zügigst aus der Partei verstoßen. Natürlich hielten sie sich damals nicht für Klatschmäuler, sondern für Informanten. In der heutigen Zeit kam es zu einer Entideologisierung des Klatsches, und er wird nur noch zum Vergnügen ausgelebt.
Manchmal bekam ich, wegen meiner Neugier auch schon Probleme. Aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten: Wenn eine Freundin mir ein pikantes Geheimnis erzählte, plauderte ich es nach dem zweiten Glas im Tausch für ein anderes pikantes Geheimnis aus. Es ist so schwierig, in der literarischen Welt loyal zu bleiben! Wie eine andere Freundin einmal sagte, sozusagen als Aperitiv zu einem Gerücht, das sie mir nicht erzählen durfte, aber erzählen musste: „Mein Herz ist ein Grab, aber mein Mund ist ein Vulkan!“
Genau um Probleme dieser Art in Zukunft zu vermeiden, habe ich mit einer Therapie begonnen. Ich entschied mich für einen orthodoxen Psychoanalytiker: Diwan, verschwiegener Analytiker, palavernder Patient. Mein Psychoanalytiker ist nun, nachdem er mich seit zwei Jahren behandelt, Experte für das Kommen, Gehen und die Nachrede der kleinen mexikanischen Dichterwelt. Manchmal, wenn ich befürchte, dass er sich allzu sehr langweilt oder gleich einschlafen wird, sage ich das Wort „Mama“ (das ja den Freudianern so sehr gefällt), nur um ihn aus dem Schlaf zu reißen und mit meiner Erzählung des aktuellen Wochenklatsches fortfahren zu können und zu wissen, dass ich nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit habe. Ich empfinde es unglaublich beruhigend zu wissen, dass alles was ich ihm erzähle, nicht weitergegeben wird. Somit muss ich mich weder zensieren, noch das geringste Detail auslassen, das ich bei meinen Nachforschungen herausgefunden habe.
Selbstverständlich bin ich ein großer Fan von Madame Sévigné, jener Hofdame, die wie keine andere ein noch unbedeutendes Gerücht so ausgeschmückt aufschreiben konnte, dass es Jahrhunderte später beim Leser immer noch Krankhaftigkeit und glühende Neugier hervorruft. So weit will ich gar nicht gehen, aber natürlich bedauere ich es schon, dass die Poesie und die Poeten so wenig Interesse auslösen. Wäre es anders, könnte ich mir meinen Lebenstraum erfüllen: eine Fernsehsendung zu moderieren, die sich mit dem Klatsch und Tratsch über Dichter beschäftigt, so wie ähnlich jener, die dem Showbiz gewidmet sind. Leidenschaft, Liebe, Verrat, Drogenüberdosis, korrupte Literaturpreise, skandalöse Plagiate, Beziehungen, die nicht zugegeben werden können, und all das mit einer Prise literarischer Zitate!
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>Natürlich gab es immer schon Personen, die nach den jeweils aktuellen kulturellen Mustern schöner als andere galten. Und natürlich beeinflussen jene kulturellen Muster das, was eine Person an einer anderen attraktiv findet. Aber damals wie heute „finden auch Hormone, die von der Vernunft nicht verstanden werden, ihre Wege“ (aus einem Lied von Liliana Felipe und Jesusa Rodriguez). Wie auch immer. Ich will sagen, dass, unabhängig davon, dass jede Epoche ihre eigenen Gesetze der Schönheit hatte, diese heute möglicherweise so brutal wie nie sind. Schön zu sein, ist zu einer moralischen Verpflichtung geworden. Kann es sein, dass die Schönheit die restlichen Bürger in die Verantwortung genommen hat, als die Künstler genug von ihr hatten?
Jeder Mensch, so scheint es, steht heute vor der Aufgabe, schön wie eine Skulptur zu sein, aber nicht wie eine der modernen, sondern wie eine der klassisch griechischen Skulpturen. Und die Gesellschaft hat Zwangsmechanismen dafür geschaffen. Ein Beispiel: die Größen und Kleidermodelle, die man in Geschäften kaufen kann. Größen und Modelle (jedes Mal enger geschnitten), die als Regeln dienen, der sich der eigene Körper „anzupassen“ hat. Das ist das genaue Gegenteil von der alten Idee zum Schneider oder zur Näherin zu gehen: Dort gab der Körper seine eigenen Maße vor. Was für eine Epoche der Freiheit! Heutzutage befolgt der Körper, so sehr er kann, fremde Maße.
Die letzten Jahre zeichnen sich auch durch die Eroberung der individuellen Freiheiten aus. Doch die Moral versteckt sich hinter der Maske der Schönheit. Sie tut so, als ob es nur eine Frage der Ästhetik wäre, die eigenen Rechte auszuüben. Als ob nur die Schönen das Recht hätten, ihre Sexualität auszuleben: Genau das ist die Idee, die das kommerzielle Kino und die konventionelle Pornographie bestätigen.Wenn ein Mann beispielsweise eine Vorliebe für dicke Frauen hat, Typ paläolithische Venusfiguren, oder für in die Jahre gekommene Frauen, soll heißen, Frauen, die außerhalb des aktuellen Schönheitskanons stehen, der die Schlankheit und die Jugend verherrlicht, trifft ihn das Schicksal eines „Vom-Weg-Abgekommenen“, und wenn er ein Pornovideo finden will, dass ihn befriedigt, wird er das im Hinterzimmer der Philien suchen müssen. Ja, denn er weicht von der Norm ab, die aussagt, dass nur bestimmte Körper, die bestimmte ästhetische Qualitäten vereinen, als begehrenswert verstanden werden können. Obwohl in Wirklichkeit jeder Körper eine faszinierende Abweichung von der Norm darstellt.
Aber anstatt unsere Körper zu befreien, wie in der zeitgenössischen Kunst, wollen wir lieber klassisch sein. Und wenn wir die ästhetischen Normen nicht erfüllen können, bleiben wir, als Zeichen des guten Geschmacks, lieber alleine zu Hause und schauen uns im Fernsehen diese Infomercials für Bauchmuskel-Trainingsapparate an, mit denen wir die von der Norm abgekommenen Körper quälen und beharrlich versuchen, diese Vorgaben irgendwie zu erreichen. Um damit nur jenes zu bestätigen, was ein lieber Freund, Juan Carlos Bautista, geschrieben hat: „Der einzige Körper, den wir voller Abneigung hassen können, ist der eigene Körper“.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>le doy la espalda a cualquier clase de tristeza…
Fangoria
„Was würdest du lieber sein: Mann oder Frau?“ ist eine der Fragen, die mir zu diesem Abgabethema gestellt wurden. Wenn ich darauf antworte, dass es mir gefällt, das zu sein, was ich bin – klingt das dann selbstgefällig und angeberisch? Alaska, die Sängerin der Gruppe Fangoria erzählt, dass sie mit 12 Jahren die Biographie von David Bowie las; als sie damit fertig war, hatte sie so etwas wie ein plötzliche Erleuchtung. Sie rannte los, um ihre Mutter zu suchen und sagte ganz aufgeregt: „Mama, Mama, ich will ein Mann werden, um schwul sein zu können!“ So etwas Ähnliches würde ich auch antworten, natürlich ohne den Witz dabei, dass ich keine Frau bin, die das sagt. In meinem Fall wäre diese Antwort tautologisch, und vor allem viel weniger glamourös: Ihr fehlt der Glitter und der Bart ist zu viel.
Meine Antwort langweilt mich, aber ich finde die Frage spannend, als eine Möglichkeit, damit zu spielen. Mehr als eine ästhetische denn als eine sexuelle Möglichkeit. Zum Beispiel faszinieren mich die ästhetischen Aspekte der Travestie: Transvestiten, Wesen aus Fleisch und Stoff, die es bis zum äußersten (über)treiben. Sie machen die Oberflächlichkeit zu einer Radikalität. Niemand, nicht mal die Punks, haben es geschafft, allein durch die Kleidung einen Mechanismus zu entwickeln, der in der Lage ist, die Gesellschaft aus der Fassung zu bringen. Ein Mann in Frauen-Kleidern, der in ein Restaurant kommt, kann mit seiner bloßen Anwesenheit bei den anderen Gästen die Diskussion auslösen: „Was würdest du lieber sein: Mann oder Frau?“ Und auch: „Hättest du mich gerne anders?“
Obwohl: Ein Transvestit will es tatsächlich sehr selten schaffen, wie eine Frau zu sein, das stellte schon der Poet Juan Carlos Bautista fest. Ein Transvestit will es schaffen wie ein Transvestit zu sein. Es gibt immer irgendwas, das den Transvestiten verrät: die Größe der Hände, die Perücke, die im ungünstigsten Moment verrutscht, das Brusthaar, das aus dem Dekolletee herausblinzelt. Und genau das macht den Reiz aus. Im Gegensatz zu den Transsexuellen sucht der Transvestit keine festgelegte Identität, er thematisiert sie vielmehr mit dem einfachen An- und Ausziehen der Kleidung. Auf eine gewisse Art ist die geschlechtliche Undefiniertheit des Transvestiten viel gefährlicher für die binäre Denkweise, als die Transsexualität. Aber es ist ungerecht von mir so über Transsexualität zu sprechen. Natürlich können ihre Möglichkeiten so abwechslungsreich sein wie radikal und destabilisierend. Der/die KünstlerIn Del LaGrace Volcano hat wundervolle Fotografien zur Geschlechtsumwandlung gemacht. Eigentlich sind Drag-Kings ihr Spezialgebiet, also Menschen, die als Frau geboren wurden und eine Über-Maskulinität entwickelt haben – und damit meine sexuelle Vorliebe in Frage stellen.
Auch wenn die Maskulinisierung des Femininen bei den Drag-Kings von Del LaGrace Volcano eindeutig ist, machen die Transvestiten ihrerseits ein anderes Phänomen der Maskulinisierung des Femininen sichtbar, das weniger offensichtlich ist. Was für ein Frauentyp wird in einer Travestieshow imitiert oder karikiert? Selten eine normale, durchschnittliche Frau. Normalerweise identifizieren sich, ästhetisch betrachtet, die Transvestiten eher mit Frauen, deren weibliche Attribute überdurchschnittlich ausgeprägt sind. Egal, ob Sängerinnen oder Porno-Darstellerinnen, bei den Frauen, die den Transvestiten als Vorbild dienen, schwingt immer eine maskuline Version des Femininen mit. Ich meine damit: Eine Porno-Darstellerinnen, die sich die Brüste extrem vergrößern ließ, entspricht mehr einer männlichen Phantasie, als einer realen Frau. In ihrer Über-Weiblichkeit gibt es etwas, was das Männliche berührt, da sie den Blick des Mannes auf sich ziehen will, der Fleisch gewordene Blick sein will.
Natürlich hat heutzutage, viel mehr als früher, jeder die Möglichkeit des Teiresias, jenes Thebaners, der als Mann geboren wurde und später zu einer Frau verwandelt wurde und dann wieder zu einem Mann wurde; den Jupiter und seine Frau bezogen auf seinen Werdegang befragen, wer den sexuellen Akt mehr genießen würde: Mann oder Frau? Aber auch heute ist wie damals die Frage viel amüsanter als die Antwort.
Übersetzung:
Barbara Buxbaum
Aber dieses vage Gefühl des Verlusts kommt hier zur Sprache, weil das Ende der Geschichte mich in eine Gegenwart stürzt, die ich für einen Moment sinnfrei finde. Sagen wir mal, die Zeit der Erzählung wäre eine historische Zeit: Sie schreitet voran, immer weiter. Jedes Mal also, wenn ich einen Roman zu Ende gelesen habe oder das Ende einer Miniserie gesehen habe, erlebe ich einen kleinen Teil von dem, was manche den Weltuntergang nennen, diese andere Geschichte. Ja, natürlich übertreibe ich! Und natürlich kann man ein gutes Buch immer wieder lesen, aber man muss auch sagen, dass das ein schwacher Trost ist: Das Buch ist Teil der eigenen Vergangenheit geworden und man kehrt zu ihm zurück, wie man an einen bekannten Ort zurückkehrt: ein verlorenes Paradies.
Mit der Poesie geht mir das nicht so. Ein Gedicht verlangt von einem, dass man sich ihm immer und immer wieder zuwendet. Traurig zu werden, weil ein Gedichtband zu Ende ist, wäre so, als ob man traurig wäre, wenn eine CD aus ist. Lächerlich. Eine CD, die wir so oft einlegen können, wie wir wollen: Genau so ist ein Gedichtband. Die Zeit der Lieder ist die Zeit der Gedichte: die sich wiederholende, besser gesagt mythische Zeit, dessen, was immer wiederkehrt. Als Exempel dafür halte ich die CD für erstaunlich: Sie eignet sich die sich wiederholende Zeit an: Sie ist rund: Sie dreht sich. Und man macht immer das selbe Lied an.
Vor einigen Jahren habe ich begeistert María Zambrano gelesen – und ich muss zugeben, das gefällt mir jeden Tag weniger. Dennoch bin ich immer noch fasziniert von ihrer Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Für sie besteht die Erbsünde darin, in die Falle der Zukunft getappt zu sein. So sagt die Schlange: „(…) und ihr werdet wie Götter sein.“ Das Problem liegt an der Zeitform, in der das Verb konjugiert wurde. Adam und Eva fielen auf die Idee einer besseren Zukunft herein, das heißt, auf die Logik des Fortschritts und verloren damit den Genuss des Moments, und somit das Paradies. Die Zeit spaltet sich: die Vorstellung einer Zukunft wird geboren und damit die Vorstellung einer Vergangenheit. Das ist der Anfang der Geschichte.
Es stimmt, jedes Mal wenn ich einen Roman zu Ende lese, ist es das Ende der Geschichte, aber auch der Anfang: die Vertreibung aus einem Paradies. Und ich finde mich immer am selben Ort wieder: in einer leeren Gegenwart, für die ich einen Sinn erfinden muss, um sie wieder tolerieren zu können (nichts im Vergleich mit dem Genuss des Moments). Das heißt, ich muss sie in die Geschichte integrieren, sie zu einer Erzählung verarbeiten: Wie anstrengend! Ich mach lieber den Fernseher an.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
]]>Ich nehme an, ich muss das erklären: Ich weiß nicht wie es in anderen Ländern ist, aber in Mexiko ist es zumindest so, dass die Geschichte (die offizielle natürlich) eine Art Märchen ist, welches Kindern erzählt wird, um ihnen hartnäckig vaterländische Werte beizubringen -so ungefähr wie der Katechismus, nur unterhaltsamer. Und das obwohl der Katechismus seine Heiligen und seine Märtyrer und seine Heiligenbilder hat. Übrigens, erst vor wenigen Wochen wurden die Reliquien der Unabhängigkeitshelden für einen Straßenumzug ausgegraben: in Mexiko wird nämlich derzeit der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit gefeiert – mit all der überladenen, offiziellen Feierlichkeit, die so ein Tag fordert. Vielleicht kommt daher der genervte Tonfall, in dem ich diesen Text schreibe.
Denn eigentlich fasziniert mich -wie alle Mexikaner- die Geschichte. Möglicherweise weil es Geschichten waren, die uns als Kindern erzählt wurden. Es ist erwiesen, dass Geschichtsbücher -die in Romanform verfasst sind, natürlich- die meistverkauften Bücher in den mexikanischen Buchhandlungen sind. Mexiko hat eine Tradition von hervorragenden Geschichtsschreibern und auch eine bemerkenswerte Tradition von historischen Romanen. Ein faszinierendes Beispiel dafür sind die Nachrichten aus dem Imperium von Fernando del Paso. Kauft das Buch, ich kann es nur empfehlen… Literatur und Geschichte: Die Grenzen sind nicht immer klar. Ist die Geschichte im Grunde nicht immer Literatur, Erzählungen, Fiktion, Mythos, Poesie?
Die Azteken, beispielsweise zerstörten ihre eigenen, traditionellen Handschriften, nachdem sie ihr Imperium festigen konnten, um ihre Geschichte neu zu erfinden: Sie dichteten sich einen neuen, ruhmvolleren Ursprung an, der sie von den Tolteken -eine Art lokaler griechischer Kultur- abstammen ließ. Um bei diesem didaktischen Vergleich zu bleiben, kann man sagen, dass die Azteken die Römer dieser Geschichte waren.
Eine andere Geschichte: Das Kindermädchen meiner Großmutter lebte in Teotihuacan: einem der wichtigsten präkolumbischen zeremoniellen Zentrum vor dem Aufstieg der Azteken. Laut meiner Oma befanden sich Haus und Ackerland des Kindermädchens genau neben der Ruine der großen Mond-Pyramide, bis diese von der Regierung gerettet und zum nationalen Kulturerbe erklärt wurde. Als das passierte, wurde das Kindermädchen von all ihren Besitztümern enteignet und musste trotz ihres Alters von Verwandten aufgenommen werden. Meine Oma erzählte uns, dass sie als junges Mädchen manchmal sonntags nach Teotihuacan ging, um ihr Kindermädchen zu besuchen. Daher hatte sie auch ihre kleine Sammlung präkolumbischer Dinge: Scherbenstücke von Gefäßen, Messer aus Obsidiansgestein, anthropomorphe Figürchen. „Die kamen aus dem Maisfeld“, erklärte sie uns, „wenn sie die Erde pflügten, um die Saat vorzubereiten. Deshalb nennt man diese Figürchen ,Kinder des Maisfelds‘“. Ich stelle mir meine Oma gerne so vor: ein kleines Mädchen, das Teile der Geschichte aufsammelt, wie andere Kinder Muscheln und Schnecken am Strand sammeln oder Glühwürmchen jagen gehen.
Sie hat uns auch erzählt, dass in dem Hühnergehege ein Zugang zu der Pyramide war, aber ihr Vater hatte ihr immer verboten dort hineinzugehen. Diese Geschichte faszinierte mich als Kind natürlich: das Mysterium des Geheimgangs, was wohl dort drinnen war? Von meiner Oma und von Indiana Jones habe ich meine Faszination für die Archäologie. Aber – man muss bei der Wahrheit bleiben – meine Oma hatte sehr viel Phantasie und sie erzählte mir eine Menge Geschichten, von denen ich erst später langsam herausfand, dass sie nicht ganz so wahr waren, wie ich annahm. Dadurch lernte ich, die Quadratwurzel aus der Geschichte zu ziehen.
Vor ein paar Jahren stieß ich auf eine Nachricht in der Zeitung: Archäologen fanden an einer Seite der Mond-Pyramide -genau da, wo laut meiner Oma das Haus des Kindermädchens gewesen war- einen Eingang zu einem Geheimgang: Es stimmte also doch! Ich schnitt den Artikel aus und brachte ihn aufgeregt meiner Oma. Sie las gelangweilt die Neuigkeit und gab mir den Ausschnitt gleichgültig zurück. Ihre Emotionslosigkeit brachte mich durcheinander. Erst später verstand ich es: Für sie bedeutete die sogenannte Entdeckung weder eine Überraschung, noch eine Neuigkeit: Sie wusste es ja schon seit ihrer Kindheit! Für mich jedoch bedeutete die Entdeckung, dass die Geschichten manchmal eben doch wahr sind.
Und, liebe Freunde, so endet diese Erzählung und die Moral von der Geschichte: Oh nein, wie furchtbar! Genauso wie diese alten Märchen, die den Kindern erzählt werden.
Übersetzung: Barbara Buxbaum
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