Lena Zúñiga – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ich lese, damit mir die Dinge von Bedeutung sind http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ich-lese-damit-mir-die-dinge-von-bedeutung-sind/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ich-lese-damit-mir-die-dinge-von-bedeutung-sind/#comments Wed, 29 Sep 2010 07:00:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2278 Es gibt Tage, an denen mir alles erdrückend und sinnlos erscheint. Dann sind mir nur noch der Kaffee, das Essen, der Mantel und der Zug von Bedeutung, der in der Ferne vorbei fährt, ohne dass ich darüber nachdenke, wer vorbeifährt, wer die Fenster bewohnt, hinter ihnen leidet oder lacht. Ich erliege der Versuchung, dass mir alles egal ist, ich zucke mit den Schultern und denke an verrückte Dinge. An solchen Tagen schreibe ich nicht, sondern lese David Foster Wallace.

DFW, wie wir ihn unter Freunden in Korrespondenzen voller Referenzen und Vermerken nennen, forderte im September 2008 den Tod heraus. Einen Monat später brachte sich ein Jugendfreund auf dieselbe Weise um. Ich erinnere mich daran, wie ich den langen, harten und verpflichtenden Artikel in der Rolling Stone lese, auf dem Hinflug weinte und auf dem Rückflug zerstört war durch den Tod eines Teils meines Lebens. Trotz meiner lähmenden Angst vor dem Fliegen waren dies die beruhigendsten Flüge, weil mir bewusst wurde, dass es viel schlimmere Dinge gibt als den freien Fall aus 3.000 Fuß Flughöhe.

Möglicherweise wird meine Beziehung zu DFW immer diese traurige Seite haben, dunkel und depressiv, ergeben und verzweifelt. Die schlecht erleuchteten Salons, wo wir Alkoholiker schiefe Behauptungen wiederholen, die paranoiden Einsamen, die mit geschlossenen Fenstern leben, mit jenen brutalen Formen, mit denen wir uns selbst zerstören. Aber nicht nur für mich, sondern für einige Menschen, die ich kenne, sind seine Essays und Romane brillante Quellen der Inspiration, eine Landkarte, um die nordamerikanische Erfahrung zu verstehen, und vor allen Dingen eine Mahnung, warum uns die Dinge von Bedeutung sein sollten.

2009 las ich Infinite Jest (Unendlicher Spaß), ein überdimensionales Buch, das ich voller Energie durch die Straßen von Amsterdam schleppte. Anstatt mit Menschen zu interagieren, versenkte ich mich darin, eine Ersatzhandlung. Eine Touristin, die, indem sie sich sich einem so schweren, unbequemen Buch auszusetzen, sagt: Liebes Amsterdam, ich mag deine Cafés, aber ich bin mehr daran interessiert zu erfahren, was in einer imaginären Tennisschule an der Ostküste der Vereinigten Staaten geschieht. Ich liebte jede der 1079 Seiten, jede gewundene Fußnote, jede düstere Referenz, jedes unverständliche geometrische Diagramm. Ein Spiegel jedes Menschen, mit dem ich nicht sprach.

Ich fühlte mich nicht schlecht. Bei diesem Zusammentreffen, jenem im Flugzeug, hatte ich gelernt, dass Schüchternheit im Prinzip bedeutet, so „self-absorbed“ zu sein, so sehr mit den eigenen Belangen und Gedanken beschäftigt zu sein, dass es sich schwierig gestaltet, mit anderen Menschen zu sein.

David Foster Wallace hat mich das alles mit seiner leichtfertigen Didaktik gelehrt, mit seiner Fähigkeit, Dinge, die man lieber nicht wissen würde, detailliert zu zeigen. Einer seiner meist-zitierten Texte ist seine Antrittsrede vor einer Klasse am Kenyon College im Jahr 2005, der einzige Text, den ich jenen empfehle, die sich nicht mit Problemen beschäftigen möchten. In dieser Rede sagte DFW, dass nur jene Art von Freiheit wirklich von Bedeutung ist, die Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Disziplin, Anstrengung und die Fähigkeit, sich um andere Menschen zu kümmern und sie zu mögen, einfordert, sowie die Bereitschaft, sich für sie ein ums andere Mal und jeden Tag auf’s Neue in einer Vielfalt von trivialen, kleinen und unsexy Formen zu opfern.

Er zeigte mir auch, dass postmoderne Ironie und Zynismus weder beim Schreiben, noch beim Sprechen noch bei sonst etwas notwendigerweise gute Politik sind. Dass sie ein selbstbezogenes Ziel sind, eine Art und Weise, ein cooler und schlauer Autor zu sein. Dass Ironie und der Zynismus Möglichkeiten waren, auf die Dinge hinzuweisen, die nicht waren, was sie vorgaben zu sein, die Gesellschaftsmodelle der 50er und 60er Jahre zu verurteilen. Aber was tun wir, nachdem wir sie verurteilt haben, nachdem wir die Dinge zur Mitte hin geöffnet haben und ihren wahren Inhalt gezeigt haben?

Ohne Zynismus zu schreiben, macht jeden Tag Arbeit, so wie das Bügeln der Bluse der Schuluniform, wie auch das sorgfältige Putzen der hinteren Zähne. Die Übung, für die Superdemokraten zu schreiben, war Teil dieser methodischen Anstrengung, die Aufrichtigkeit zu praktizieren, auch wenn sie uns nackt und einsam zurück lässt mit dem ehrlichen Versuch, die Dinge zu ändern.

Ich werde diese Artikel aufbewahren, um mich wieder zu lesen, um zu sehen, wie ich in dieser Epoche der Mysterien war. Im Moment fühle ich mich nicht als Bürgerin irgendeines Ortes, nicht besonders eingebunden in irgendeine gesellschaftliche Angelegenheit und nicht einmal besonders nah bei mir selber. Ich gehe blind und bin nicht alleine, wir sind viele, die wir den Boden ausmessen und die Spuren suchen, die uns dorthin gebracht haben, wo wir sind. Unglücklicherweise geht mir die endliche Quelle von Material aus, das einst David Foster Wallace schrieb oder das jemand anderes über ihn schrieb. Vielleicht, wenn ich aufgehört habe zu lesen, habe ich meinen exakten Ort der Normalität der Tage gefunden und kann dem Zug in der Ferne vorbeifahren sehen, aber diesmal, ja, diesmal winke ich mit der Hand zum Abschied.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Traumfänger http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/traumfanger/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/traumfanger/#comments Thu, 16 Sep 2010 06:20:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1656 *Die Globalisierung erreichte mich mit dem Hypertext, der durch das schwache Signal einer Telefonanlage zu mir gelangte. Sie gab nächtliche, interplanetare Geräusche von sich. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich und konnte mir nicht vorstellen, dass ich nicht nur niemals als Journalistin arbeiten würde, sondern dass die Zeit, die Mikroprozessoren und die Globalisierung mich zu der Überzeugung bringen würden, dass das Studium des Journalismus wie ein Studium zum Telegraphen-Operator ist.

*Im Jahr 2001 sah ich auf einem Kunsthandwerkmarkt in Südafrika zwischen peruanischem und ecuadorianischem Trödel einen kleinen Traumfänger aus orange-farbenen Federchen hängen. Es war dieser heilige Kreis, der sich in industriellem Maßstab wiederholt, aus Plastik oder Acryl gefertigt ist und bis zu seinen lächerlichsten Ausformungen getrieben wird, der auf virale Art und Weise in die Schlafzimmer von Millionen von Jugendlichen auf der ganzen Welt einfallen würde, um vergeblich die kollektiven Alpträume des neuen Milleniums aufzuhalten.

*Im selben Jahr, als Nicht-Journalistin, arbeitete ich bereits mit Menschen aus aller Welt und versuchte zu verstehen, was in San Fransisco, Seattle, Porto Alegre, Buenos Aires, Bangalore geschieht… alles zur selben Zeit. Die Dinge begannen, sich anders anzufühlen. In den Folgejahren würden wir lernen, dass wir miteinander mehr gemeinsam haben, als mit den Nachbarn der Wohnung nebenan, dieser Frau, die darauf besteht, ihre Zahlungen in der Zentralstelle des Elektrizitätsunternehmens zu tätigen und die sich bekreuzigt, wenn in den Nachrichten die sozialistische Partei genannt wird.

*Alle meine Freunde waren Aktivisten. Gemeinsam waren wir gegen viele Dinge. Jahre später würden wir uns bewusst werden, dass wir uns in wenigen Dingen einig waren. Damals redeten wir von der Globalisierung und ihren verheerenden Auswirkungen, von der ökonomischen Gewalt, vom Knirschen der Strukturen. Wir hörten von Weitem ein rabiates und unaufhaltsames Rudel kommen, eine Maschine, die arme Menschen fraß und ihre Reste ausspuckte, für den Export gepackt und etikettiert. All diese Dinge würden geschehen und mehr.

*Die Globalisierung findet ihr Territorium der Transaktion auf den Flughäfen. Durch die vielen Besuche trösten mich ihre universellen graphischen Konventionen des Gehen Sie hierhin, Setzen Sie sich dort hin, Durchgang verboten. Die Flughäfen und ihre weichen und harmlosen Speisen, ihre einheitliche Literatur, ihre mehrsprachigen Ansagen in den Lautsprecheranlagen. Dieser Unternehmertyp, der allen Unternehmertypen gleicht, dieses Mädchen, das in Urlaub fährt, um ihr wahres Schicksal bei den Armen dieser Erde zu finden, jene Reisenden, die immer zu schlafen scheinen, diese so stille Frau und ihre Kinder, die von einem Beamten der UNHCR begleitet wird.

*Manchmal, während ich ein Stück Papier schneide, fällt mir auf, dass es gar nicht so verrückt ist zu vermuten, dass diese Scheren in China vom Cousin des Chinesen gemacht wurden, der diese andere Schere gemacht hat. Dieses Buch, das mir gefällt, das euch in Deutschland gefällt, gefällt auch irgendeinem Typen in Singapur, der es in einem dieser Züge liest, in denen keine Portemonnaies geklaut werden. Und ich würde gerne mit Bestimmtheit sagen können, dass letzte Nacht, als ich aufwachte, um das Fenster zu öffnen, weil es sehr warm war, zur selben Zeit eine Frau in Senegal oder in Kroatien zum selben Punkt am Himmel schaute und an mich dachte.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Formular http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/#comments Wed, 01 Sep 2010 07:00:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1345 Heute erhielt ich von meiner Anwältin die Nachricht, dass der Moment gekommen ist: Wenn ich möchte, kann ich mich nun, wann immer es mir beliebt, um die US-amerikanische Staatsbürgerschaft bewerben. Ich lud mir sofort das Formular aus dem Internet herunter, als ob es sich um Leben und Tod handelte, und fing an, es mit größter Geschwindigkeit auszufüllen.Vor einigen Jahren hätte mein linker Vater einen Kreislaufkollaps bekommen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich der US-amerikanischen Flagge die Treue schwören und all die schrecklichen Zeremonien über mich ergehen lassen würde. Bestimmt wäre auch mein Kreislauf kollabiert. Ich habe gegen den Krieg demonstriert, habe alle linken Zeitschriften und Bücher von Revolutionären gelesen, die Dinge waren für mich sehr klar. Ich wollte dieses Land nicht mögen, ich wusste nichts über seine Geschichte oder seine Bevölkerung, und ich vermute, ich wollte auch nichts darüber wissen.

Aber die Dinge ändern sich. Nicht so sehr draußen, denn die Kriege und die Politik und die Folter bleiben dieselben, sondern in mir drin, auf einer privaten und sentimentalen Ebene. Das Leben zieht dich hinter sich her, öffnet dir den Mund und steckt dir den Finger hinein, es zeigt dir Dinge, die du nicht sehen wolltest. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier und fühle mich zu Hause, auch wenn ich mich nicht „von hier“ fühle. Ich weiß nicht einmal, ob ich hier bleiben werde.

Aber mit der Staatsbürgerschaft könnte ich dort wählen, wo ich lebe und wenigstens Forderungen stellen, wozu die Steuern verwendet werden sollen, jene eingeschlossen, die wir Millionen von Einwanderern ohne Staatsbürgerschaft bezahlen. Ich könnte mich zumindest dafür einsetzen, dass die Bibliotheken erhalten bleiben, in die ich mich setze, um zu schreiben, die Universitäten, in denen ich studieren möchte und dafür, dass jene Menschen heiraten können, die heiraten möchten. Kurz und gut, um an der kollektiven Illusion der Demokratie und seiner Riten teilzunehmen. Und nun, ich vermute, es würde mir auch ermöglichen, für die Bundesregierung (der Vereinigten Staaten, Anm. d. Ü.) zu arbeiten, sollte ich irgendwann eine Spionin der CIA werden wollen.

Ich denke oft über die Staatsbürgerschaft nach, die ich heute habe, mit der ich geboren wurde, die costa-ricanische. Sie für eine andere einzutauschen, fühlt sich wie ein kleiner Verzicht an, auch wenn es keiner ist. Aber meine jetzige Staatsbürgerschaft ist die eines Landes, das es nur in meinem Kopf gibt. Das Leben erreicht mich nur, wenn ich die Tageszeitungen lese, ich im Internet herumhänge und wenn ich am Wochenende mit meinem Vater telefoniere. Jedes Mal, wenn ich körperlich da sein kann, gehe ich wählen, aber selbst so bringt es mir einen Dreck, weil das Land dort hingeht, wo es hingeht und nicht, wohin ich möchte, dass es geht. Die Staatsbürgerschaft hat sich für mich in ein vages Gefühl der politischen Zugehörigkeit zu einem Territorium verwandelt, in dem ich immer fremd sein werde, auch wenn ich nicht abwesend bin.
Ich hake fleißig die Kästchen des Formulars ab, das die nordamerikanischen Neurosen enthüllt: Nein, ich war nie Mitglied der Kommunistischen Partei, ich wollte niemals, außer in meinen tiefsten Träumen, mit Gewalt irgendeine Regierung stürzen, ich habe nicht zwischen 1933 und 1945 mit der Nazi-Regierung in Deutschland zusammen gearbeitet, ich war immer gut und wurde niemals verhaftet, ich habe weder die Prostitution noch die Bigamie ausgeübt, ich habe keine illegalen Wetten abgeschlossen, und ich weiß nicht, was sie damit meinen, wenn sie von einem Gewohnheitstrinker sprechen, aber vorsichtshalber werde ich das Nein ankreuzen.

Viele Menschen wünschen sich die Staatsbürgerschaft dieses Landes, einen legalen Status, der die Probleme von Millionen von Menschen lösen würde, die heute in der ökonomischen, familiären und persönlichen Ungewissheit leben. Nur die Privilegiertesten unter ihnen, wie ich, sind so einfältig, dass sie philosophische Erwägungen zu einem Problem anstellen, das sie nicht haben. Vielleicht ist es Teil des Spiels, vielleicht ist es gar nichts Großes, vielleicht hat es keine Bedeutung, aber ich habe das Gefühl, dass mir die Staatsbürgerschaft wenigstens erlauben würde, zu wählen, Einspruch zu erheben, den Respekt vor den Menschenrechten jener, die diese Entscheidung nicht treffen können, einzufordern.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Handgepäck http://superdemokraticos.com/themen/burger/handgepack/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/handgepack/#comments Wed, 18 Aug 2010 14:17:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=821 Wichtig ist das Essen – sagt Paul, der eine Tüte mit grünen Tomaten in der Hand hält. Paul leidet unter zwei Übeln, die nicht nur miteinander unvereinbar sind, sondern unabhängig voneinander unheilbar sind: unter Armut und gutem Geschmack, wenn es ums Essen geht. Jede seiner Bewegungen ist in gleichem Maße darauf programmiert, die Zutaten bestmöglich zu verwerten und gleichzeitig mit künstlerischer Großzügigkeit zu kochen. Das gemeinsame Essen mit Paul ist jener Moment, in dem Ernährung Sinn bekommt, und nebenbei wird jede ökonomische Theorie anschaulich, die erklärt, warum dieser Mann, ein treuer Konsument, den Korridoren der Supermärkte fern bleibt.

Wichtig ist der Sex – sagt Beth, während sie die Arme bewegt als ob sie zum Flug ansetzen wollte. Bist du sicher? frage ich sie. Dann lasse ich meine Arme fallen, einen auf meinen Kopf. Beth hat ein kleines Unternehmen, mit dem sie selbstgemachte Pornos produziert – mit bescheidenem wirtschaftlichem Erfolg. Mein Körper ist meine Religion, sagte sie einmal feierlich, und fügte hinzu, dass es nicht das erste Mal wäre, dass sie ihre Religion in ihre primäre Einkommensquelle verwandelte. Natürlich ist sie sich nicht sicher, die Sicherheit Beths ist temporär, als ob sie jeden Moment zum Flug ansetzen wollte.

Wichtig ist das Schreiben – sagte mir Martín, dessen Seiten immer weiß sind. Martín, was zum Teufel machst du? Solltest du nicht wenigstens eine Geschichte, eine Kurzgeschichte fertig schreiben? Solltest du nicht anfangen, ernsthaft daran zu arbeiten, dem Talent Einsatz und Engagement hinzufügen? Es ist nämlich so, dass man um zu schreiben, leben muss, und eine Sache stellt sich immer in den Weg einer anderen. Wichtig ist es dann also nicht, zu schreiben, sagt Martín, sondern Schriftsteller zu sein.

Wichtig ist, dass die Menschen wissen – sagt mir Carla. Sie möchte, dass „die Menschen“ die furchtbaren und mutigen Geschichten all der zentralafrikanischen Frauen, die sie so gerne hat, erfahren. Diese Arbeit ermöglicht es ihr, sich den ganzen Tag um die anderen zu sorgen und dadurch ihre eigene Geschichte zu vermeiden, die im Gegensatz dazu klein, traurig, pathetisch und verdächtig frei von Heldentum und feindlichen Umständen ist. Aber was machen wir, Carla, wenn die Menschen es wissen? Was wäre, wenn die Menschen wissen, aber weiterhin so leben möchten, als ob sie nichts wüssten?

Wichtig ist das Schlafen – sagt mein Bruder Adrián, der Notarzt ist. Schlafen, und wenn jemand Glück hat, am nächsten Tag aufwachen. Jedes Mal, wenn ich mitten in der Nacht die Augen öffne und den Geruch der Schlaflosigkeit wiedererkenne, fühle ich mich doppelt schlecht, weil ich den Schlaf vergeude, den andere verdienen. Mein Bruder fällt zu Beginn jedes Films, inmitten aller Feste und am Ende aller Unterhaltungen in den Schlaf. Wir haben die plötzlichen Schlafattacken als eine der vielen Wunder seiner Persönlichkeit akzeptiert. Niemand weiß, welche Ängste ihn nachts quälen, Alpträume der wachenden Menschen.

Wichtig ist das Rating – erzählt mir Mariana – oder das Äquivalent in Statistiken, Nutzer-Anwendungen, austauschbaren Besuchern. Wir haben keinen wirklichen politischen Standpunkt, sondern wir fischen Nutzer, Leser, Fernsehzuschauer… haben sie einmal angebissen, können wir den Fokus wechseln, um einen anderen Ausschnitt auszuleuchten. Mariana spezialisiert sich darin, eine überzeugende und begründete Darstellung einer Meinung zu erzeugen, die jedoch light genug ist, dass sich niemand dauerhaft beleidigt fühlt. Ihre intellektuelle Flexibilität erlaubt es ihr, nicht nur einen latenten Alkoholismus zu unterhalten, sondern auch eine eindrucksvolle Schuhsammlung in allen Farben.

Einmal zog ich mit einer einzigen Reisetasche, die nur Kleidung für eine Geschäftsreise von zwei Wochen beinhaltete, von einem Land in ein anderes. Darin gab es nichts von Bedeutung. Zehn Monate später kehrte ich in mein Land zurück, wo irgendjemand anderes alle meine Sachen aus meiner Wohnung entfernt hatte. Die Dinge waren auf verschiedene Orte verteilt und meine Kleidung, meine Bücher, meine Bilder, meine Küchenmesser fanden sich in mehreren Kisten wieder, aber unter all den Dingen fand ich nichts, was ich in mein neues Leben mitnehmen wollte. Heute ist es so, dass ich mir jedes Mal, wenn ich packe, darüber bewusst werde, dass ich nichts Unabdingbares mitnehme, und ich werde traurig. Ich würde gerne, wie all die anderen, die Bedeutung der Dinge verkünden, aber es gelingt mir nicht, es zu artikulieren.

Ich vermute, das Wichtige, wenn ich bereits im Flugzeug sitze, ist, dass es nicht abstürzt.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Regen und Körper http://superdemokraticos.com/themen/koerper/regen-und-korper/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/regen-und-korper/#comments Tue, 03 Aug 2010 07:00:20 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=555 * Der Körper ist die einzige Beziehung, die für immer ist. Es ist unmöglich, sich von ihm zu trennen und der Weg ist mühsam. Ich denke, zur Wertschätzung des eigenen Körpers gelangt man schrittweise. Erst muss man ein Melanom haben, erst muss eine Beule anschwellen, muss man sich das Bein brechen. Vor zwei Jahren befand ich mich in denselben Breitengraden und dachte an meinen Tumor, als sich meine lang gehegte Hypochondrie endlich bestätigte. Jahrelang war ich mehr an Ängste als an Schmerzen gewöhnt und endlich: ein runder und riesiger Ball, auf den ich meine Erwartungen konzentrieren konnte.

* Dieser Text überrascht mich, während ich im Wald, im kleinen Haus der Familie nahe der Küste im tropischen Urwald schlafe. Es ist Regenzeit, und die Unwetter füllen die Flüsse und überschwemmen die Felder. Am Morgen trinke ich Kaffee und verlasse barfuß das Haus, um die Erde zu fühlen. Es gibt winzige Schnecken, kleinste Frösche, Eidechsen, die über das Wasser laufen, Würmer, die zwischen den Fingern umher kriechen. Sie fliehen vor dem Schlamm, der sie verjagt, vor den Wassertropfen und Schritten, die sie bombardieren, das Koffein, das ich ausschwitze, alarmiert sie. Sie und ich, wir sind hier alle Körper.

* Meine Füße sind übersät mit Narben der vielen Wunden, die ich mir zuzog, wenn ich in eine Scherbe trat, meine Beine haben sich an Tischen und Surfbrettern verletzt, an Kanten im Asphalt, an hastigen Epilationen, am Leben in anderen Ländern, die ich – möglicherweise auf der Flucht vor diesem – bereiste. Während wir am Stand im Sand sitzen und uns die Haut und die Wünsche verbrennen, beobachte ich die Spuren. All diese kleineren Narben sind wesentlich offensichtlicher als die Narbe, die geblieben ist, nachdem sie mir den Tumor entnommen haben. Sie bleibt unter dem Badeanzug verborgen, als ob nichts geschehen sei.

* Wenn wir im Meer schwimmen, kennen wir unser Gewicht genau, die Leber ist schmerzhaft geschwollen vom Alkohol des gestrigen Tages. Wir vergiften uns immer wieder und unser Körper vergibt uns. Wir öffnen den Mund und füllen die Lungen mit Luft, was uns an die Oberfläche treibt und vor dem Tod rettet. Plötzlich beginnt es zu regnen, aber niemand stört sich daran. Der tropische Regen ist wie ein weißes Laken, das sich über die Menschen und Dinge legt. Manchmal scheint mir, als ob wir, ohne viel darüber nachzudenken, unter der Wasseroberfläche atmeten, und wir verdanken diese unwahrscheinliche Physiologie den Meeressäugetieren.

* Als ich geboren wurde, hatte ich keine Wiege, sondern eine Hängematte wie diese, in der ich nachts schlafe, und ich schaukelte unter dem Lichthof eines Moskitonetzes zwischen meinen Eltern und den Sternen. Auf diese Weise, während wir die Tropfen auf das Dach klopfen hörten, gingen wir mit weniger Angst schlafen. Manchmal vermisse ich diese Wärme ihrer Körper, ihre heilenden Hände, das Hin und Her der Hängematte in einer vorhersagbaren Parabel. Zwischen damals und heute sind die Leiden, Narben und Falten, Zweifel über die eigene und fremde Sterblichkeit, die Gesundheit und Krankheit, die sich wie Wellen abwechseln, ins Leben getreten. Die Hängematte trägt noch immer meinen Körper, dieses Geheimnis, das durch die ihm eigenen Gezeiten reguliert wird, eine feste Masse, die langsam abnutzt und alarmierende Formen annimmt, sich aber auch wieder, ohne es anzukündigen, regeneriert und die mich auf irgendeine Art und Weise immer noch in sich birgt.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Schmutzige Gläser, volle Aschenbecher http://superdemokraticos.com/themen/koerper/schmutzige-glaser-volle-aschenbecher/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/schmutzige-glaser-volle-aschenbecher/#comments Tue, 20 Jul 2010 15:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=490 Ich hatte einen Juraprofessor, der in Deutschland studiert hatte und deshalb davon überzeugt war, dass er eigentlich Professor für Philosophie war. Mit ihm gingen wir das Konzept der Intimität durch, ein imaginärer Kreis, der uns umgibt, in den wir nur jene, eintreten lassen, die wir eintreten lassen möchten. Diesen Kreis stellte ich mir wie eine kleine Feier mit Getränken und Musik vor, wo wir alle nackt sind und die Türe offen lassen, wenn wir ins Bad gehen. Mein Professor sagte, dass uns dieser unsichtbare, aber machtvolle, Kreis vor den unverschämten Blicken der anderen schützt und uns unter anderem das Recht zuspricht, von ihnen in Ruhe gelassen zu werden. Was so viel bedeutet wie, dass ich die Türe jederzeit schließen und allen auf der Feier sagen könnte, dass sie ihre Kleider wieder anziehen und gehen müssen.

In der Intimität wissen wir voneinander ohne miteinander zu sprechen, manchmal sogar ohne uns anzuschauen. Wir erraten viel mehr, als wir wissen, und wir bewegen uns in einer Nähe, die es uns noch immer erlaubt, die Wärme der Haut des Anderen zu spüren. In der Intimität haben wir vor nichts Angst, am allerwenigsten vor dem anderen. Innerhalb dieses Kreises gibt es Gewissheiten, die der Rest der Welt niemals verstehen wird.

Aber Intimität bedeutet auch, alleine zu sein, sich den Raum zu geben und zu wissen, dass wir uns früher oder später wieder berühren werden. Niemals die Existenz dieses Teils von mir zu leugnen, den ich vor dir nie Preis geben werde, die Einzelheiten, die ich dir niemals erzählen werde, die Stille, die noch immer zwischen dir und mir besteht.

Ich weiß nicht, ob es die Jugend war, oder das Land, aus dem ich komme, aber mir scheint als ob die Intimität viel zugänglicher war, bereit stand, um sie in die Hand zu nehmen. Ich hatte augenblicklich Freunde, sofortiges Vertrauen, wir besuchten uns, ohne uns vorher anzurufen und öffneten den Kühlschrank, um zu schauen, was drin war. Wir wurden in wenigen Tagen intime Freunde und konnten uns Dinge mit großem zerstörerischem Potenzial erzählen. Auf der anderen Seite war es schwer, Dinge privat zu halten, unmöglich, etwas zu verbergen, nicht einmal die Superhelden mit ihren geheimen Identitäten können es.

Wenn man auf Englisch davon spricht, intime Beziehungen zu haben, bedeutet es, Sex zu haben, was mich immer verwirrt hat, da man Sex viel schneller bekommen kann als einen Freund. In der Stadt, in der ich lebe, oder vielleicht in dem Alter, in dem ich bin, kommt es mir vor, als ob die Intimität viel langsamer entsteht, das Vertrauen gewinnt man, die Freude sich zu sehen, erstreckt sich über Jahre, die Freundschaften sind tiefgründig und Stürmen ausgesetzt, aber sie entwickeln sich ausgehend von kurzen Nachrichten und sich wiederholenden Stunden.

Mal vermisse ich die eine, mal die andere Form. Manchmal würde ich mich gerne wieder in irgendeinen, der auf der Straße vorbeigeht, verlieben und ihm alle meine Ängste erzählen können. Manchmal erstaunt es mich festzustellen, dass mir jemand aufgrund kleiner Gespräche über Arbeit und Politik unentbehrlich geworden ist.

Durch das Durcheinander des Umzugs hat sich mein Kreis der Intimität auf ein Minimum reduziert. Die Feier ist zu Ende und schmutzige Gläser und volle Aschenbecher sind zurückgeblieben. Die Musik wird immer leiser, wir sitzen zu zweit oder zu dritt in einer Ecke und sehen zu, wie der Tag anbricht.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Nicht einmal Schwung holen in der Vergangenheit http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/nicht-einmal-schwung-holen-in-der-vergangenheit/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/nicht-einmal-schwung-holen-in-der-vergangenheit/#comments Mon, 05 Jul 2010 12:14:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=328 Nostalgie interessiert mich nicht. Jene die behaupten, jede vergangene Zeit sei besser gewesen, müssen entweder dumm sein oder in einer Vergangenheit gelebt haben, in der sie zur herrschenden ethnischen Gruppe, sozialen Klasse, zum herrschenden Geschlecht gehörten, und ihre Erinnerung hat mit den Herrlichkeiten zu tun, die ihnen die Macht und die Norm verlieh. Alle anderen, die wir das Pech haben, nicht einmal das gemeinste Tier zu beherrschen, wissen, dass wir es heute ein bisschen besser haben und dass es die Zeit mit ein wenig Glück gut mit uns meinen wird.

Möglicherweise stört es mich, dass nostalgische Menschen sich immer auf die Seite der Sieger, der Überlebenden schlagen. Sie sind überzeugt, Teil des königlichen Hofes von Marie Antoinette gewesen zu sein, statt in den Pariser Straßen mit Hunden um einen Knochen gekämpft zu haben. Niemand stellt sich selber vor, mit 16 Jahren im Kindsbett zu sterben oder mit 35 Jahren ein alter Mann zu sein. Niemand träumt davon, zum Gestank der Straßen ohne Kanalisation zurückzukehren, zu den Reisen unter Mördern und Verbrechern auf Piratenschiffen, zu den sechs an Röteln verstorbenen oder von Kinderlähmung heimgesuchten Kindern. Niemand träumt von dem Unglück Frau, Schwarzer oder Homosexueller zu sein, in keiner Epoche, auch nicht der unsrigen.

Im Süden der USA schließen sich Menschen zu Klubs zusammen, um in ausgefeilten Rollenspielen verschiedene Szenen des US-amerikanischen Bürgerkriegs nachzustellen, der irgendwann um 1865 die Sklaverei beendete. Jeder Klub beschäftigt sich aus einer spezifischen Perspektive mit diesem Ereignis: Manche interessieren sich für die historischen Tatsachen, andere werden kreativ und denken sich alternative Ausgänge für die verlorenen Schlachten aus, wiederum andere möchten lediglich die Nachbarn abschießen. Die Männer erwerben militärische Ränge, investieren in Uniformen und authentische Waffen. Die Frauen nehmen auch teil: Sie kochen für die Truppen und lindern den Schmerz der Verwundeten mit einem Hütchen auf dem Kopf. (Ich habe keine Ahnung, ob Afroamerikaner bei diesem Zirkus mitmachen, aber ich würde es nicht tun, außer ich bekäme eine Stange Geld dafür.) All diese Menschen leben in einer historischen Schleife, die jedes Jahr erneut die Niederlage ihrer Vorfahren wiederholt und die Asche der verlorenen Privilegien zu retten versucht.

Es gibt eine Menge Menschen in meinem Land, die zur Vergangenheit zurückkehren möchten, obgleich es diesen historischen Moment so nie gegeben hat. Die wahre Vergangenheit ist voller Armer ohne Schuhe und Schulbildung, verlassener Dörfer mitten im Nichts, einer entsetzlichen Passivität der Bevölkerung, einem hartnäckigen Rassismus, einem deprimierenden Klassismus und einer Staatsverwaltung, die eher einer kleinen ländlichen Versorgungsstelle ähnelt. Aber dort möchte niemand leben. Vielmehr will jeder in einem imaginären Costa Rica leben, wo jeder direkter Nachkomme eines gütigen Europäers ist, Geliebte der Demokratie, Erbauer majestätischer Städte, Förderer des Friedens und weise Umweltschützer seit Christoph Kolumbus die Reichtümer unserer Küsten bewunderte.

Ich persönlich bevorzuge es, in der Zukunft zu leben, mit Robotern und Raumschiffen. Ich möchte nicht in irgendeine historische Epoche, an irgendeinen Ort zurückkehren. Niemals gab es eine bessere noch eine wichtigere Zeit als das Heute, nicht einmal eine verführerische Zeit, die relevant wäre. Schlussendlich dient die Geschichte der Aufrechterhaltung der Illusion, dass wir Menschen essenziell sind und dass ohne uns der Planet keinen Sinn habe. Was geschähe mit all diesen einsamen Gegenden ohne unsere Eingriffe, die durch die Hand verschiedener Götter gelenkt werden? Die Geschichte hilft uns, uns im Angesicht der großen Anordnung der Dinge weniger mikroskopisch zu fühlen. Wenn uns gesagt wird, die Erde, auf der wir leben, sei 4,53 Billionen Jahre alt, zucken wir alle kollektiv mit den Schultern, aber wenn das Nachbarland in einem Schulbuch die Grenze um hundert Meter verschiebt – das gäbe ein Geschrei!

Übersetzung: Marcela Knapp

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Den Tag überleben http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/den-tag-uberleben/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/den-tag-uberleben/#comments Sun, 20 Jun 2010 18:35:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=233 Die Nachbarin meiner Großmutter schwor bis zum Tod, dass zwei ihrer Kinder vom selben Vater seien, auch wenn gewisse Umstände und körperliche Merkmale offensichtlich auf das Gegenteil hinwiesen. Einer der Söhne war dunkel und hatte Schlitzaugen, war leise, ruhig, genauso wie der Nachbar. Der andere war blond und ungestüm, bereit, sich mit jedem zu prügeln, um die Familiensage zu verteidigen.

Eine Einwanderin zu sein, heißt, zwei Geschichten zu haben. Wer mehr als eine Geschichte hat, weiß, dass sich jede Geschichte aus mehr oder weniger denselben Zutaten zusammensetzt: aus bestätigten Tatsachen, ehrgeizigen Wünschen, ländlichem Schamgefühl und fehlgeleitetem Stolz. Und angesichts des Zweifels gibt es die Faust, um all dem Gültigkeit zu verleihen. Die Geschichte ist eine Mythologie, die Menschen brauchen, um den nächsten Tag zu überleben.

Als ich in den Vereinigten Staaten ankam, fühlte ich mich angegriffen durch meine Vorgeschichte. Ich wuchs in einer linken, zentralamerikanischen Familie auf, mit linken Freunden und linken Büchern und unsere Sicht auf die Vereinigten Staaten war immer nur eine politische gewesen. Die Geschichte, die wir miteinander teilen, ist eine der Ressourcenausbeutung und der Unterstützung brutaler Regime, der Zermürbung sozialer Bewegungen und der Stütze von Diktaturen. Der räuberische Tourismus, der kulturelle Müll, der leichtfertige Krieg gegen die Drogen. Ich war auf Rassismus, Egoismus und eine Konsumgesellschaft vorbereitet, denn dies war der Mythos, den ich brauchte, um hier herkommen zu können. Auf Solidarität, Respekt, tiefe Freude, den Kampf der Unsichtbaren, war ich weniger vorbereitet. Kurz und gut: Auf die Überraschungen der Geschichte.

In meinen ersten Monaten als Migrantin in San Francisco lief ich viel durch die Stadt, und da ich nicht legal arbeiten durfte, besorgte ich mir als Erstes einen Ausweis für die öffentliche Bibliothek, um einen Nachweis über meinen neuen Wohnsitz zu erwerben. In meinem Ursprungsland sind Bibliotheken eine angenehme Erinnerung an die Vergangenheit, ebenso wie die Telegrafenmasten. Wir wissen, dass sie wichtig und nützlich waren, und möglicherweise sind noch einige in Gebrauch, aber da die meisten nicht benutzt werden (und da sie kein Budget haben), hat man sie weitgehend aus der kollektiven Erinnerung gelöscht. In einer riesigen Bibliothek, begann ich, umgeben von Obdachlosen, die in den Gängen umherstreifen, zu lesen.

Diese Stadt ermöglichte mir einen Quereinstieg in die Vereinigten Staaten. Ich las über die Gründung der Jesuiten, über das Goldfieber, über die Seemänner, die sich in einer Bar betranken und auf einem Schiff Richtung Shanghai erwachten. Ich las die Beatpoeten und sprach mit Hippies, die in den 1960ern in Berkeley demonstriert hatten, die mit Harvey Milk für die Rechte von Homosexuellen marschiert waren. Ich durchstreifte die anonymen Industrieparks, in denen das Internet lebt. „San Francisco ist nicht die Vereinigten Staaten“, warnten mich alle. Es stimmt.

Als ich vor Ort bereits als Sozialarbeiterin in einer Ortsgruppe arbeitete, fuhr ich einmal nach Zentralkalifornien, eine weitläufige, landwirtschaftlich genutzte Region, wo die Luft nach Artischocken, Erdbeeren und Spinat riecht. Ich lernte zwei der zahlreichen Bauernfamilien Hmong kennen, die zu Beginn der 1980er Jahre eingewandert waren. Ich machte die Begegnung mit einer Frau aus El Salvador, die gerade erst angekommen war und unter einer die Sinne beraubenden Sonne Zwiebeln erntete. Ich sah Landkarten aus der Zeit, als dies alles noch zu Mexiko gehörte und die anderen die Migranten waren. Ich lernte Los Angeles kennen, eine apokalyptische Stadt, die sich – Dank der Wunder des Kinos – eine eigene und exklusive Raum-Zeit erschaffen hat: eine Geschichtsfabrik.

Später kam Neuengland dran, jener Teil der Geschichte, der vorwiegend in den nordamerikanischen Geschichtsbüchern auftaucht und von Menschen mit weißen Perücken handelt. Hier legte die Mayflower an, welche das größte Schiff der Welt gewesen sein muss, wenn man bedenkt, wie viele Amerikaner versichern, sie seien direkte Nachfahren von einem der Passagiere. Ich entdeckte, dass viele US-Amerikaner Stammbäume lieben und davon besessen sind, ihren Ursprung zu kennen, als stützenden Mythos. Wir Lateinamerikaner hingegen zucken normalerweise eher mit den Schultern und ziehen es vor, die Ungeheuer der Vergangenheit ruhen zu lassen.

Ich lernte New York und Washington DC kennen, von denen die Nachrichten sagen, hier werde Geschichte gemacht. Ich sah nicht, dass hier irgendwas passierte. Ich sah nur einen Haufen Menschen: arme Menschen, Menschen mit viel Geld, Menschen mit kleinen Hoffnungen, mit riesiger Verantwortung. Menschen, die glauben, dem Glück zu folgen. Menschen, die ihr wahres Zuhause vermissen. Menschen, die nie kommen wollten, die sich irrten oder die niemals wieder gehen können. Millionen von individuellen Geschichten, die sich anschweigen und die auf irgendeine Art und Weise den Verlauf der kollektiven Geschichte zeichnen.

Und eines Tages, in einem sumpfig-feuchten Herbst, lernte ich New Orleans kennen. Ich sah die Zäune, die Mauern, die Pfosten, an denen das Ausmaß der Katastrophe noch abzulesen war, die der Hurrikan Katrina verursacht hatte. Ich sah einen Mann, der Jazz spielte und direkt in sein Saxophon weinte. Ich erinnerte mich an Harriet Jacobs, eine Sklavin, die sich sieben Jahre lang in einem engen Dachzimmer versteckte, um durch ein Loch in den Holzlatten zusehen zu können, wie ihre versklavten Kindern groß wurden. Durch eine Fensterscheibe in der Straßenbahn stellte ich mir die Uniformen der Sklaverei vor, die Häuser der Sklaverei, die Schmerzen der Sklaverei, die auch heute noch nicht erloschen sind und die detaillierten Mythologien, die erfunden werden mussten, um die Ungerechtigkeit und das Elend über Jahrhunderte hinweg ertragen zu können.

In der kommenden Woche werde ich eine Reise durch mehrere Bundesstaaten der Vereinigten Staaten beginnen, die auf der Landkarte alle gleich aussehen. Wenn alles gut läuft, werden wir Nevada, Utah, Wyoming, Nebraska, Iowa, Illinois und Michigan durchqueren. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Ich vermute, ich muss irgendeine Bibliothek ausfindig machen. Ich habe einige vage Anhaltspunkte: Ich weiß, dass ich eine Wüste sehen werde, viele Plateaus, ein paar Städte, viele Felder, auf denen Industriemais angebaut wird. Ich weiß, dass ich Detroit sehen werde, die heruntergekommene Automobilstadt, die von Künstlern und Aktivisten übernommen wurde in Ermangelung der Arbeiter. Ich reise der Geschichte eines Landes hinterher, das es nicht mehr gibt.

Die Armut, die Sklaverei, die Auslöschung indigener Völker, die Unterdrückung der Frauen hinterließen ein Land voller Wunden, das sich bis heute auf seinem riesigen Territorium selbst nicht gefunden hat. Als ich in die Vereinigten Staaten kam, fand ich ein Land vor, das durch seine eigenen Kriege zerstört war, das sich Hals über Kopf in seinen ökonomischen Lügen wiederfand, in dem Millionen und Abermillionen Besiegter aus den Büchern getilgt wurden. In dem obdachlose Menschen in den Gängen einer öffentlichen Bibliothek umherstreifen. Ein mit Hoffnung spärlich bestücktes Land, das gleichzeitig auf einen irritierenden und sturen Optimismus besteht.

Nach und nach beginne ich, mir eine eigene Mythologie dieses Territoriums zu erschaffen, das nun mein Zuhause ist. Es ist eine Verbindung aus dem, was ich früher dachte und was ich heute weiß. Auch wenn ich manchmal die Geduld verliere und nichts mehr verstehe, würde ich mich verwaist fühlen, wenn ich ohne die Umarmung der Geschichte leben müsste – meiner eigenen Geschichte, derjenigen, die in den Büchern steht, die mir die Menschen erzählen, die ich durch das Autofenster an einem Sonntag auf der Straße fotografiere. Indem ich mit anderen lebe und die Welt mit vorantreibe, bin letztendlich ich die Geschichte.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Für meine Familie bin ich die Blog-Oma http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/ http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/#comments Sat, 12 Jun 2010 08:06:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=190 Ich komme aus Costa Rica. Dort wurde ich vor 31 Jahren geboren und wuchs als Stadtkind auf, das Angst vor Insekten und vor der Höhe hat. Ich habe eine riesige Familie aus der unteren Mittelschicht, die alle nicht mehr als vier Stunden Wegstrecke voneinander entfernt wohnen. Ich bin eine der wenigen, die weit weg gegangen sind. Meine Mama sagt, ich sei „lesend zur Welt gekommen“, und ich glaube, das stimmt. Mit zehn Jahren wünschte ich mir eine Schreibmaschine zu Weihnachten, und ich lernte sie mit einer Rage und Verzweiflung zu benutzen, die für meine Eltern etwas beunruhigend waren. Mit der Zeit verwandelte sich mein Computer in meine endgültigere Leidenschaft.

Ich war immer am Schreiben: Postkarten, Theaterstücke, Gedichte, Tagebücher. Alles verlor oder zerstörte ich. Erst als Erwachsene wurde mir bewusst, dass es vielleicht keine allzu gute Idee sei, alles zu verlieren. Im Februar 2001 begann ich, Itzpapalotl.org zu schreiben, einen persönlichen Blog. Ich schreibe ihn noch immer und er bekommt hin und wieder Besuch von Freunden und Verwandten, als sei er eine Blog-Oma, die weit entfernt wohnt und die Dinge immer wiederholt, weil sie vergessen hat, dass sie sie schon erzählt hat.

Aus irgendeinem Grund und zur gleichen Zeit, begann ich, mit Leidenschaft zu arbeiten. Ich arbeitete und lernte wie eine Verrückte. Ich arbeitete als Redakteurin, Übersetzerin, Sozialwissenschaftlerin und Programmiererin. Ich arbeitete in einer NGO, gründete eine Arbeitergenossenschaft, fotografierte, nähte Kleider, begann einen Kochblog und bewaffnete papierene Roboter. Ich bereiste eine Menge Städte, mit dem Flugzeug, mit dem Bus, zu Fuß und auf dem Anhänger irgendeines Lastwagens, immer mit dem Laptop über der Schulter.

2006, während die Spiele der Weltmeisterschaft über die Bildschirme flimmerten, verliebte ich mich. Wenige Monate später zog ich nach San Francisco, Kalifornien, ohne die geringste Ahnung zu haben, was es heißt, in den Vereinigten Staaten zu leben.

Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so schlecht ist. Ich lebe in einer kleinen und vielseitigen Stadt, wo sich die Migranten aller Breitengrade versammeln, die verschiedenen Schattierungen asiatischer Kulturen, die afro-amerikanische Kultur, die Chicana-Kultur, die Hippies der 1960er, die Punks der 1980er, die Online-Unternehmer der 1990er; ein unaufhörliches Hin und Her von Menschen und Ideen, von Leben voller Mysterien.

Hier verbringe ich meine Tage damit, über meinen Zwischenzustand nachzudenken, da ich mich noch immer fühle, als ob ich in Transit sei, obwohl schon vier Jahre vergangen sind. Wenn mich niemand sieht, tanze ich in der Küche, gehe in die Parks zum lesen, bis der eisige Nebel aufzieht und morgens schaue ich erneut aus dem Fenster und dort ist es, wie ein Wunder, das Wasser des Meeres.

Übersetzung: Marcela Knapp

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