Jo Schneider – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Postmoralisches Bekenntnis http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/postmoralisches-bekenntnis/ Fri, 17 Jun 2011 06:45:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4095 Vetternwirtschaft (Deutsch), Vetterliwirtschaft (Schweizerdeutsch), Vetterleswirtschaft (Schwäbisch), Spezlwirtschaft (Bayern), Freunderlwirtschaft (Österreich), Klüngel (Rheinland) oder ganz profan Vitamin B: Welchen Einfluss hat der Nepotismus, die Vorteilsbeschaffung für Nahestehende, auf den Umgang mit Wahrheit?

Ich kann mir vieles vorstellen. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, wie man Helmut Kohl wird. Ja, ich kann mir vorstellen, wie man zunächst der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der „Kanzler der deutschen Einheit“ und „Kanzler der europäischen Einigung“ wird und dann doch als armselige Figur endet. Ich kann mir vorstellen, wie es dazu kommt, dass einer nicht die Namen von Parteispendern nennen will, weil er ihnen sein „Ehrenwort“ (hier der O-Ton) gegeben habe, dies nicht zu tun, Parteiengesetz und Offenlegungspflicht hin oder her. Erst ist man zu dick und zu brav für die Jugend, dann findet man – zu allem Überfluss in einer christlich-konservativen Partei – ein System zum Drin-Funktionieren, inhaliert dessen Eigenlogik, wandelt sie, gestaltet, berauscht sich, teils am System, teils an sich selbst, und schwuppswupps ist man in einem Referenzgebilde, das mit der Welt der Außenstehenden nur noch den Anschein teilt. Das ist ein Zustand, in dem Ehrenworte zu einem wichtigeren Signum für Aufrichtigkeit werden als Wahrheit. Beziehungsweise: Ein Zustand, in dem Wahrheit als Absolutes brüchig wird, weil da auch eine Wahrheit in der Aufrichtigkeit des Ehrenworts liegt. Ich kann mir vorstellen, dass Vetternwirtschaft nicht die Züge des Bösen trägt, nicht einmal aus dem inneren Zirkel der Vetterwirtschaft heraus betrachtet. Ich kann mir vorstellen, dass sie von ihren Protagonisten, dass sie von Leuten wie Kohl als ein Ritual der Freundschaft wahrgenommen wird.

Ich kann mir vieles vorstellen, denn ich habe selbst ein schwaches Wesen. Ich weiß zum Beispiel auch, wie es ist, der Beste sein zu wollen, und ich kenne die Gedanken, die kommen, wenn auf dem Weg Beanspruchtes rüde verwehrt bleibt. Ich kenne die rasenden Bewegungen des Hirns im Falle einer Zurückweisung, und ich weiß, dass es nur eine wenig geringere Verwurzelung in lutheranischer Wohlanständigkeit und kleinbürgerlicher Verzagtheit bedürfte, dass ich mich fallen ließe in die Sphäre der Obskuren. Ich kann mir vorstellen, wie man mit einem Höhergestellten zu handeln beginnt, „um fortzukommen“, wie es so schön heißt. Wahrscheinlich, so stelle ich mir das vor, macht man das gar nicht mit dem verschlagenen Grinsen des Dunkelmanns. Man lacht gemeinsam, schätzt sich ernsthaft wert. So werden sich, stelle ich mir vor, zum Beispiel Professor und Assistent einig: darüber, dass der Jüngere einen Titel verdient hat. Ich kann mir vorstellen, wie man trinkt, bis tief in die Nacht, und bis man sich wechselseitig versichert hat, dass es gut ist und zum Wohle aller.

Ich kann mir vieles vorstellen, ich kann mir auch vorstellen, wie grauenhaft sich ein Reporter fühlt, wenn diejenige Szene einer Recherche, anhand derer man alles zeigen, das gesamte Thema in wenigen tiefenscharfen Bildern erzählen könnte, nicht eintritt, die er daher erfinden muss. Ich kann mir vorstellen, wie er einbricht in das Arsenal anderer Gattungen und sich dort mit den Vorderladern der Literatur reich bewaffnet, um die starren Reihen des Journalismus aufzurüsten. Und wie er dann als Augenzeuge darüber schreibt, was er nur vom Hörensagen kennt. Ich kann mir vorstellen, Interviews zu erfinden wie einst der deutsche Journalist Tom Kummer, und zwar – wie er es in seiner Autobiographie „Blow Up“ beschreibt – nicht allein aus Not, sondern auch, weil der Akt des Erfindens sich manchmal ehrlicher zur Welt verhält als die Behauptung einer Chronik.

Ich kann mir das alles vorstellen, ich kann mir auch Situationen vorstellen, die es notwendig erscheinen lassen, zu töten – und es hinterher zu leugnen. Ich kann mir sogar vorstellen, aus blindem Überlebenswillen zum Massenmörder zu werden. Ja, ich kann mir vorstellen, wie einer wie John Demjanjuk zum Schlächter wurde, sei es in Treblinka oder Sobibor. Ich kann mir auch vorstellen, wie man das eigene Ich vergessen kann, nach einer bösen Tat, und dann – auf eine Art – zu Unrecht bestraft wird, auch als Person, die mal ein Massenmörder war. Ich kann mir vorstellen, jedes Verhalten zu entschuldigen, und ich kann mir vorstellen, mich bis zu einem Zustand zu zweifeln, der tatsächlich „post Moral“ ist und jede Lüge als eine Variation von Wahrheit rechtfertigt.

Dass ich es nicht tue? Nennen wir es Kultur. Oder Spießigkeit. Oder beides.

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Land of wimps http://superdemokraticos.com/english/land-of-wimps/ Fri, 29 Oct 2010 20:49:59 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3117 by Jo Schneider

I write out from a land that (still) surrounds me (as a middle-class, left-wing bourgeois child) as soft as cotton does, and it protects me from bad experiences all around the World. I’ve never been discriminated, at least not openly, and certainly not because of my race, culture or nationality. Tall, thin, white and well dressed, I get through every corner of the world; that has been my experience until now. A doorman at a club has never rejected me, I was never denied as a member of anything, and even USA’s Homeland Security Office wave aside, bored. In my life, the summit of discrimination was some innocuous anti-German needles from a Norwegian exchange student. A joke, really.

What I really appreciate and love from this country, appears to me like an execration in questions like perceiving discrimination: it appears impossible to us, the German Germans (those white-to-the-bone children of German parents and grandsons of German grandfathers), not to be at the sunny side of life; that means, we condescend in will and consciousness with poverty and lawlessness, but that hasn’t got anything to do with discrimination, but with brutishness and the need of collecting experiences.

Is it indeed a sophistry when I say that I’m twice discriminated with this manifest indiscrimination? My words “I want to feel someday discriminated too” at the beginning of this text, may be consciously too out of line, but they comprehend a nuclear point that appears to me as fundamental nowadays, when a decisive debate about Muslim immigrants takes place in Germany: How on Earth could a regular “original German” (as some name them now) understand, how it feels like to be discriminated because of your origin, culture or colour of skin? How should anybody that belongs to the dominant culture and race (which apparently protects them worldwide from discrimination) measure the situation of those, who can’t find a way in to that culture, or even worse, who are rejected to get into that culture?

Without experiencing a daily discrimination, I can only have a slight idea about how obscene it has to feel like, as an aggrieved party, when everyone of those in this land who discriminate collectively the Muslim immigrants, talk about “discrimination” when they are answered with acrid objections –and not just from those immigrants. The experience of a real discrimination regarding religion, culture and colour of skin would scotch the culture of crisis, of breaking taboos, of “we should be able to say…”.

Until that happens (and it could not happen at all, that would be paradoxical), it should be possible to say again that the bourgeois “Original Germans” are clueless wimps, and it would be good for them to be discriminated somewhere (and therefore that this people (we) would surely have to deal with their hubris), and know how it feels like to be a hard-to-integrate minority.

© Jo Schneider


Translation:
Ralph del Valle

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Titel (Deutsch) – Titel (Español) http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/#comments Tue, 19 Oct 2010 11:55:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2969 Es ist ja nun Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Welt dreht sich, und nun dreht sie sich fortan fort von einem wunderbar geruhsamen Sommer zwischen Studium und Beruf, in den sich die Arbeit an diesem Blog biographisch hervorragend einpasste. Schon ist man Arbeitnehmer und Gewerkschafter, schon blickt man sorgenvoll auf das Konto und unsicher in die Zukunft, und schon findet man sich nicht mehr bereit, das reine Denken über das reine Denken zu betreiben, sondern fragt sich nur noch, welche der bestehenden Freundschaften, zu denen keine einzige interkulturelle zählt, trotz deutlich vermindertem Freizeitaufkommen fortgesetzt werden soll.

Man verblödet also und irgendwann wird man, wenn die eigenen Kinder einen als rückständigen, chauvinistischen Kleinstadt-Spießer mit null Sozialkontakten und der Weltgewandtheit eines Bielefelder Senioren enttarnen, auf diese goldene Zeit (weniger auf einzelne Texte) verweisen können und sagen: „Seht her, es gab Zeiten, da stand euer Papa mit der ganzen Welt im Austausch. Kluge Menschen aus Mexiko, Argentinien und Bolivien diskutierten mit ihm über nationale Historiographie und Fragen der Identität in einer beweglich gewordenen Welt.“

Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein sensibler Dolmetscher …

Wenn die Kinder halbwegs Hirn haben, fragen sie dann, was dabei rumgekommen ist – und bringen ihren Erzeuger damit in schwere Verlegenheit: Hat er sich denn etwa jemals für die anderen internationalen Blogger oder die Leser dieses internationalen Blogs interessiert? Nicht wirklich, auch wenn manches interessant und manches bedenkenswert erschien – letztendlich war die Kommunikation zu mühsam. Denn, so würde man in der Rückschau zugeben müssen: Zwar wurden die spanischprachigen Texte im Deutschen lesbar gemacht (und umgekehrt), doch für einen wirklichen mediengemäßen Dialog fehlten Geld und Technik.

Und wer weiß, vielleicht werden die Kinder, die ihren Vater für ein Fossil halten, den schon ganz selbstverständlich finden, wird er doch genau in dem Moment möglich, in dem Echtzeitübersetzungsmaschinen Chat-Beiträge derart gut in andere Sprachen übertragen, wie es jetzige Übersetzungs-Algorhythmen nicht einmal mit fixiertem Textmaterial ansatzweise vermögen. Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein Simultandolmetscher (ein guter, sensibler, einsichtsvoller mit einem Händchen für die stimmige Übertragung kultureller Codes), dann wird überhaupt so etwas Ähnliches möglich sein wie ein interkultureller Dialog. Dann irgendwann werden auch über Sprachräume hinweg Horizonte im Dialog verschmelzen können.

Manchmal möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen.

Bis dahin plagt man sich mit Substituten wie Weltsprachen: Wenn fünf Nicht-Muttersprachler um einen Tisch sitzen und Englisch parlieren, möchte man sehr laut gähnen, und wenn 20 Blogger und ihre Leser um ein Blog sitzen und trotz allen guten Willens nicht wirklich zueinander finden können, dann möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen. Was mache ich aus den spanischen Reaktionen zu meinen (in jeder Hinsicht sehr deutschen) Beiträgen über Schuldkultur, Auschwitz und deutsche Identität? Die Übersetzungsmaschinen können einem zwar eine Ahnung davon geben, was das verhinderte Gegenüber bewegt. Trotzdem bedeuten sie zugleich eine unsachgemäße Surrealisierung: Wenn da steht „leider, und mit allem Respekt, es gab nur einen Holocaust, der Grenze ein verdammt Jukebox, die nie aufhört, warum so blau sind unsere Ziele können wir nur beten, nach San Antonio, wenn Neal Cassady kam, hier zu sterben, um zu immigrieren“, dann mutet das zwar in höchstem Maße lyrisch an, trotzdem bleibt darüber hinaus eben nur eine Ahnung vom semantischen Inhalt und der Grenze zwischen den USA und Mexiko und das kann’s ja wohl nicht sein.

Freuen wir uns also auf eine Zeit, in der es keine Sprachen mehr gibt; in der Landessprachen nur noch gewohnheits- und neigungsmäßige Dialekte sein werden, die für alte Provinz-Spießer, wie ich dann einer sein werde, eine ansonsten gänzlich virtuell gewordene Grenze zwischen Virtualität und Realität markieren. Dass wir dann sentimental werden, steht außer Frage. Immerhin wird dann das, was hier versucht wurde, nichts Besonderes mehr sein. Die ungewohnte Zuneigung, die es speziell für einen jungen Autor deutscher Zunge bedeutet, von nichtdeutsch sozialisierten Lesern gelesen werden zu können, der faszinierte und befremdete Blick auf die Übersetzung der eigenen Texte, den wird es nicht mehr geben. Alles wird Alltag sein, die Superdemokraten waren ein Fest. Danke dafür!

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Völker dieser Welt, schaut auf mich! http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/volker-dieser-welt-schaut-auf-mich/ Fri, 01 Oct 2010 13:29:14 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2447 Seit drei Wochen weiß die Welt, wo ich wohne. Nicht, weil ich es ihr gesagt hätte – ich bin lediglich umgezogen und muss endlich nicht mehr diesen ganzen Quatsch machen mit „a rather big down in the Ruhr District, an industrial area north of Cologne“ (Kindheit, Dortmund) oder „a small city south of Hannover, in the center of the country“ (Hildesheim, Studium). Ich sage „Berlin“, die Welt sagt „Oh!“ Und dass man da ja selbst schon im Rahmen einer Europareise die Mauer/die Clubs etc …

An sich ist es herrlich. Man tritt auf die Straße und alle Coolnessprobleme, die man als erdverbundener Kleinstädter in der Vergangenheit mit sich selbst zu diskutieren hatte, sind gegessen. Man ist qua Wohnort nun aufgestiegen zu einem weltgewandten, leicht fatalistischen Stadtbewohner, der das unglaubliche Privileg hat, eine 1-Zimmer-Wohnung an jenem Ort, zu dem alles strebt, eigenhändig vollgemöbelt zu haben. Es hebt die Geister, die Kleinen und die Großen, der Welt dabei zuzusehen, wie sie vor der eigenen (meiner) Haustür im Gras sitzt und auf irgendwas wartet. (An besonders guten Tagen kommt es mir sogar so vor, als warte sie auf mich.)

An schlechten Tagen bin ich ich, wie ich mich kenne. An schlechten Tagen dulde ich keine Wichtigtuerei (außer meiner eigenen), dulde keinen betont zur Schau gestellten Müßiggang, dulde nicht die „eitle Omnipräsenz der Tagediebe“, die eine kluge Frau mal in meinem Beisein als solche labelte. Dann dulde ich auch nicht den interkulturellen Austausch, ich dulde nicht das betont-freundliche Klarkomm-Verhalten zwischen (deutschen) Medien- und (türkischen) Dönertypen (immer dieses Gezwinker!), und ich dulde nicht das Gespräch zwischen jungen Geisteswissenschaftlern aus aller Welt, das da – geführt in einem fließenden Spanenglesperanteutsch – eigentlich nicht mehr sagen möchte als: „Seht her, wir haben’s kapiert!“

Was haben diese Menschen – im Gegensatz zu mir und allen anderen, die gerne zu Hause geblieben wären, kapiert? Dass es in einer Welt der globalen Märkte – als Anreiz und Ausgleich – auch den globalen Austausch der Zivilisten braucht? Dass, wer die Dinge in ihren Zusammenhängen begreifen, die Zusammenhänge selbst nachvollziehen muss? Dass das Monadentum des alten Nationalstaats längst durch das Nomadentum der globalen Netze abgelöst ist? Selbiges hält die Welt zwar nicht im Innersten zusammen-, aber doch so fest umklammert, dass niemand aus diesem Mainstream ausbrechen kann und will – den Anschein erweckt Berlin, zumindest an Tagen, an denen ich schlecht gelaunt bin. Die progressiven Medientypen sprechen progressives Medientypenenglisch, die spanischen Austauschstudenten Austauschstudentenspanisch und immer wieder sitzt ein deutsches Kleinstadtkind dazwischen und ist selig über so viel Am-Puls-der-Zeit-sein und darüber, wie gut es mit seinem Schulenglisch und -spanisch doch mitplappern kann.

So sitzen dann alle am Kanal, während ich schlecht gelaunt vorbeiziehe, mürrisch, weil mein batterieschwacher MP-3-Player mich nicht mehr mit Thomas-Mann-Hörspielen vor den Emissionen dieser globalen Gemeinschaft schützt, die – da sprachlich dann doch etwas limitiert – sich meist auf Gespräche über Speisen, Reisen oder auf Reisen kennen gelernte Speisen beschränkt. Weil ich sonst nichts zu tun habe, frage ich mich dann zum 1000. Mal, was das soll, und sehne mich nach geordneten westdeutschen Kleinstadtverhältnissen: wo das deutsche Mittelschichtkind unter sich bleibt, um dort in Ruhe, von der Globalisierung ungestört und in bestem Deutsch die Probleme der Globalisierung erörtern zu können. Während am Kanal in Berlin deutsche Mädchen spanischen Mädchen von dänischen Jungs und lettischen WGs erzählen, vergieße ich eine Träne der Wehmut und denke an die Göttingens, Münsters und Freiburgs dieser Welt, in denen man(n) – ob in der Attac-Gruppe oder dem FDP-Ortsverein, ganz egal – so herrlich produktiv unter sich und seinesgleichen das Für und Wider einer globalen Finanzmarktsteuer abwägen kann.

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Das Land der Weicheier http://superdemokraticos.com/themen/burger/das-land-der-weicheier/ Wed, 15 Sep 2010 13:11:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1952 Ich schreibe aus einem Land heraus, das mich, das Bürgerkind aus der linken Mitte, (noch) watteweich umschließt und mich weltweit vor schlechten Erfahrungen schützt. Ich bin noch nie diskriminiert worden, zumindest nicht wissentlich, und schon gar nicht aufgrund von Rasse, Kultur oder nationaler Herkunft. Groß, schlank, weiß und gut gekleidet komme ich eigentlich überall auf der Welt locker durch – das ist zumindest meine bisherige Erfahrung. Noch nie bin ich vor Clubs an einem Türsteher gescheitert, noch nie wurde mir eine Mitgliedschaft verwehrt und selbst die Homeland Security der Vereinigten Staaten winkt gelangweilt ab. Der Gipfel an Diskriminierung in meinem Leben waren einige anti-deutsche Spitzen eines norwegischen Austauschschülers. Im wahrsten Wortsinn: ein Witz!

Was ich sonst eigentlich sehr begrüße und an diesem Land so schätze, erscheint mir in Fragen der Sensibilisierung für Diskriminierung wie ein Fluch: Es scheint uns, den deutschen Deutschen (also den porentief weißen Kindern deutscher Eltern und Enkeln deutscher Großeltern), unmöglich, nicht auf der Sonnenseite der Welt zu stehen – es sei denn, wir begäben uns willentlich und wissentlich in Armut und Gesetzlosigkeit, aber das hat dann nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern allein mit Dummheit und Erfahrungssucht.

Ist es nun Sophisterei zu sagen, dass ich durch offensichtliche Undiskriminierbarkeit gleich doppelt diskriminiert bin? Der Satz „Auch ich möchte mich irgendwann mal diskriminiert fühlen“, mit dem die erste Fassung dieses Eintrags begann, geht zwar gewiss zu weit, er beinhaltet jedoch einen Kern, der mir gerade angesichts der zurzeit in Deutschland tobenden Debatte über die Integration muslimischer Einwanderer entscheidend erscheint: Wie soll der durchschnittliche „Herkunftsdeutsche“, wie das jetzt schon von einigen genannt wird, ermessen, was es bedeutet, aufgrund von Herkunft, Kultur und Hautfarbe diskriminiert zu werden? Wie soll derjenige, der einer Leitkultur und einer Rasse angehört, die ihn weltweit vor Diskriminierung zu schützen scheint, die Situation derer ermessen, die zu eben dieser Kultur keinen Zugang finden oder schlimmer noch: denen der Zugang verwehrt wird?

Ohne die Erfahrung einer alltäglichen Diskriminierung kann ich nur ahnen, wie unverschämt es sich aus Sicht der Betroffenen anfühlen muss, wenn jetzt jene, die in diesem Land die Gruppe der muslimischen Migranten kollektiv diskriminieren, auf einmal selbst von „Diskriminierung“ sprechen, wenn sie – nicht zuletzt aus den Reihen dieser Migrantinnen und Migranten – scharfe Gegenrede erfahren. Die Erfahrung einer wirklichen Diskriminierung aufgrund von Religion, Kultur und Hautfarbe, von allen Bewohnern des Landes geteilt, würde die Kultur der Zuspitzung, des Tabubruchs, des „Man wird ja nochmal sagen dürfen …“ im Keim ersticken.

Bis es so weit ist (und es kann nie dazu kommen, das wäre ja paradox), wird man ja wohl nochmal sagen dürfen, dass die bürgerlichen „Herkunftsdeutschen“ nichtsahnende Weicheier sind, denen es nur gut täte, selbst mal irgendwo eine diskriminierte und – und das wären diese Leute (wir) bei ihrer ganzen kulturellen Hybris gewiss – eine schwer zu integrierende Minderheit zu sein.

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Rückfahrt in getrennten Autos oder „Wie mein 12-jähriges Ich dereinst den Kampf der Kulturen aufheizte“ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ruckfahrt-in-getrennten-autos-oder-wie-mein-12-jahriges-ich-dereinst-den-kampf-der-kulturen-aufheizte/ Fri, 03 Sep 2010 12:36:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1574 Ich habe ein Geständnis zu machen. Angesichts der in Deutschland derzeit um sich greifenden Integrationsdebatte möchte ich zugeben: Ja, auch ich war einmal Teil einer anti-islamischen Initiative. Beziehungsweise: Auch ich habe Migranten aus dem mohammedanischen Kulturraum als Gruppe diskriminiert. Allerdings, das möchte ich zu meiner Ehrenrettung betonen, entsprachen meine Motivationen in keinster Weise den schwammigen Beweggründen, die jetzt Teile der Bevölkerung dazu bringen, einem sich (rechts-)radikalisierenden Politiker darin zuzustimmen, dass muslimische Migranten generell eine kulturelle Bedrohung darstellen; dass sie – ob genetisch oder kulturell bedingt sei erstmal dahingestellt – nicht integrationswillig und nicht lernfähig sind und die deutsche Kultur so wenig respektieren wie überhaupt die Protagonisten des Kulturraums, der ihnen – im Kontext von Immigration ein so furchtbares wie falsches Wort – „Gastgeber“ ist. Ob Deutschland sich „abschaffen“ könnte, wie es dieser besagte Politiker befürchtet, interessierte mich damals, als ich noch Aktivist war, einen Scheißdreck. Ich wollte nur Tore machen! Ich war 12 Jahre alt, ich spielte Fußball beim SC Aplerbeck 09, einem Vorortverein am Rand des Ruhrgebiets. In diesem Verein passierte das, was das dreigliedrige Schulsystem sonst zu verhindern wusste: Bürger- und zumeist ausländische Arbeiterkinder prallten nahezu ungebremst aufeinander. Mit einschneidender Wirkung: Noch heute sehe ich mich mit sieben anderen zumeist semmelblonden deutschen Mittelschichtsknaben nach einem Spiel zum Trainer gehen (Vater eines Mannschaftskameraden, deutsch) und sagen: „Wir wollen nicht mehr mit den Marokks zusammen spielen.“ Der Trainer fragte: „Warum?“ Wir: „Weil: Die spielen nie ab! Und wenn, dann nur untereinander!“ Was mich aus heutiger Sicht an diesem politisch völlig unkorrekten, gruppendiskriminierenden Vorstoß gegen unsere sieben marokkanischen Mitspieler beeindruckt (und was ihn von der jetzigen ideologisch dominierten Debatte unterscheidet), ist sein Pragmatismus. Man hätte seinerzeit, wo man schon mal „dabei“ war, ja tatsächlich so vieles nennen können, was in dieser mannschaftgewordenen Engführung zweier kultureller Gruppen nicht funktionierte. Man hätte die klassischen Exzesse der Ehrkultur monieren können, das aufbrausende „Ey, machsu misch an?“, wenn man in der Mannschaftskabine zu lange in eine Richtung gestarrt hatte. Man hätte sich über die offensichtliche Geringschätzung unserer Familienstrukturen, vor allem unserer Mütter, aufregen können, die sich in dadaistischen Dialogen wie „Verpiss dich, du Hurensohn!“ – „Selber Hurensohn!“ – „Ey, hast du grad meine Mutter beleidigt?“ niederschlugen. Vielleicht war es Arroganz, die sich in Nachsicht äußerte, und die von unseren Eltern auf uns überging: „Das sind meist ganz einfache Leute, die haben’s hier auch nicht leicht.“ Vielleicht war es auch der marokkanische Ärztesohn, der – ebenfalls in unserer Mannschaft – so ganz anders als seine Landsmänner war und damit ein übergroßes Zeichen dafür setzte, dass aggressive Rappeligkeit eventuell doch primär ein soziales und erst danach – im spezifischen Ausdruck – ein kulturelles Problem sei. Vielleicht war es aber auch unser Trainer, ein besonnener Heizungsbau-Meister, der das Strohfeuerchen der Revolte schnell in den Griff bekam. Nicht etwa, indem er interkulturelle „Patenschaften“ bildete, wechselseitige Hausbesuche organisierte oder dergleichen mehr neumodisches Zeugs. Er sorgte einfach vor dem nächsten Spiel für ein klärendes Gespräch. Als die El-Fassi-Brüder in der Folge gelobten, auch „mal“ abzuspielen, grinste er breit. Später lobte er sie vom Spielfeldrand in den Himmel, als sie das dann auch alle Jubeljahre „mal“ taten. Und er warf sich oben auf, als wir – nach einem interkulturellen Doppelpass – das Siegtor schossen und zu fünfzehnt in der roten Erde lagen. Dass der Trainer uns, den Deutschen, bei der Rückfahrt in getrennten Autos versicherte, dass das heute „schon besser“ war, dass „die“ es aber so „natürlich“ dennoch „im Leben“ nie „weit“ bringen würden „in diesem Land“ und uns für unsere Geduld lobte, ist die unschöne Fußnote dieser an sich doch recht hübschen Geschichte.

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Es geht mir gut im Jahr 2025! http://superdemokraticos.com/themen/koerper/es-geht-mir-gut-im-jahr-2025/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/es-geht-mir-gut-im-jahr-2025/#comments Tue, 17 Aug 2010 12:27:14 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=915 Vor fünf Monaten habe ich das Rauchen endgültig aufgegeben. Freilich, viel geraucht habe ich auch in den Jahren zuvor nicht mehr, hier und da vielleicht eine Zigarette im Keller oder auf einer einsamen Bank am Meer. Irgendwann wurde mir aber auch das zu blöd: Eine Bank mit Meer ist auch ohne Kippe schön, dachte ich. Und ein Keller bleibt auch mit ihr trostlos!

Mein Leben hat sich seither grundlegend gewandelt. Ich erwache um sechs Uhr in der Früh, ziehe mir meinen Leichtmetalljogginganzug über, fahre mit dem Rad die 20 Kilometer ins Freibad. Dort bin ich immer der erste. Ganz alleine treibe ich mittig einen Keil in das tiefblaue Becken. Zwei Stunden später, nach zehn Kilometern Lagen, entsteige ich selbigem wie ein Neugeborenes dem Mutterschoß, doch ungleich dem Neugeborenen dusche ich nicht lauwarm, sondern eiskalt. Danach mache ich mich im Dauerlauf auf den Weg nach Hause. Das Fahrrad werde ich am nächsten Tag bei einer reziproken Runde abholen.

Zuhause angekommen dusche ich noch einmal kalt, ehe ich zwei Kilogramm Bircher-Müsli esse. Um vier Uhr nachmittags mache ich einen ausgedehnten Spaziergang durch ein nahe gelegenes Wisentgehege. Danach verwende ich viel Zeit und Liebe auf die Zubereitung eines vegetarischen Fleischsalats. Zum Essen kommen Freunde aus der freikirchlichen Gemeinde. Wir trinken ein alkoholfreies, isotonisches und vitaminreiches Weizenbiergetränk und unterhalten uns intensiv und gut. Es geht um Menschlichkeit und die fortdauernde Krise der Sozialdemokratie. Um neun Uhr bitte ich die Freunde, mich jetzt alleine zu lassen. Nachdem ich mich von oben bis unten mit einer rückfettenden Nachtcreme eingerieben habe, gehe ich ins Bett, wo ich noch zwei Kapitel in den Memoiren von Günther Jauch lese. Um 22.30 Uhr lösche ich das Licht.

So erledige ich meine Biographie und ich kann nicht sagen, dass es mir schaden würde. Ich bin außerdem jetzt Teil eines Zeitzeugennetzwerks, das Kinder in Schulen besucht und sie vor den Gefahren des Rauchens warnt. Von der Nichtraucherinitiative Deutschland habe ich eine Kladde mit Overhead-Folien bekommen, auf denen verfaulte Beine, fehlende Kehlköpfe, weiße und schwarze Lunge zu sehen sind. Irritierend sind immer wieder einige Zwischenrufe, denen zufolge die weiße Lunge „mindestens so eklig“ aussehe wie die schwarze. Das überhöre ich einfach.

Was ich nicht überhören kann (obwohl ich es gerne würde), das sind die Stimmen der „Freunde“ von früher. „Langweilig“ sei ich geworden, sagen sie, wenn sie – „auf eine Zigarette“, wie sie sagen – vor meiner Tür stehen. Mir fehle der „schwebende“ Blick des überlegenen Beobachters, und nicht zuletzt die Fähigkeit, Dinge zu „verknüpfen“, die eigentlich nicht zusammen gehörten. Ich verstehe diese Menschen ebenso wenig, wie ich sie zu mir herein bitte. Ich schließe die Tür und begebe mich zurück in den Salon, wo ich – auf einer Isomatte liegend – mein Powerhouse trainiere.

Manchmal, wenn ich dabei einschlafe, träume ich recht wild – einen immer wiederkehrenden Traum. Er handelt von einem Land lange vor unserer Zeit, in dem Männer und Frauen in verrauchten Eckkneipen sitzen und mit Bier, West und Wodka-Shootern der Kunst des Sich-langsam-Zugrunderichtens nachgehen konnten. In lauen Sommernächten lärmten Mädchen und Jungen durch Fachwerkgassen, eine grüne Glasflasche in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. „Fußpils und Kippe, eins an jeder Hand, dafür allein schon lieb‘ ich dieses Land“, ruft einer von ihnen aus der Traumwelt zu mir herüber. Ich schaue in sein Gesicht – und erkenne mich selbst.

Schweißgebadet wache ich dann jedes Mal auf. Mein erster Gedanke: Hoffentlich habe ich nicht zu laut gesprochen. Einmal schon stand die Nachbarin von unten vor der Tür, Lehrerin, allein erziehend, zwei Kinder: „Ich habe geträumt“, stammelte ich in ihr zornrotes Gesicht. Selbstverständlich dürfe ich träumen, was ich wolle, sagte sie darauf, mühsam beherrscht. Aber im Interesse ihrer Kinder müsse sie darauf Wert legen, dass nicht in deren Hörweite zum Bombenkrieg „oder Ähnlichem“ aufgerufen werde. Ich entschuldigte mich vielfach und bot ihr ein alkoholfreies, isotonisches und vitaminreiches Weizenbiergetränk an. Sie lehnte ab.

Nun, da ich schon seit mehreren Monaten nicht mehr im Schlaf nach Zigaretten gerufen habe, begleitet diese Nachbarin meine Fortschritte mit wachsendem Wohlwollen. Manchmal treffen wir uns morgens im Freibad. Dann dritteln wir das Becken mit zwei äquidistanten Keilen. Einmal, auf der Radfahrt nach Hause, erzählte ich ihr meinen Lieblings-Raucherwitz „Mitten im Krieg sitzt ein Raucher nachts im Schützengraben und raucht eine Zigarette – weithin sichtbar für den Feind. Ein anderer Soldat warnt ihn: ‘Tu das bloß nicht, das ist gefährlich.’ Der Raucher lächelt milde und antwortet: ‘Keine Sorge, ich inhaliere ja nicht.’“ Sie konnte darüber nicht lachen. Sonst verstehen wir uns aber sehr gut.

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Wie Wolf Biermann neulich meine Intimsphäre tangierte http://superdemokraticos.com/themen/koerper/wie-wolf-biermann-neulich-meine-intimsphare-tangierte/ Mon, 02 Aug 2010 13:39:58 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=563 Bei Begriffen und Fragen, die einfach klingen, es aber nicht sind, empfiehlt es sich, Gegensatzpaare zu bilden, dachte ich neulich, nach dem zweiten schlechten Text über die Geschichte meines Landes. Man könnte die Frage „Was ist für dich Intimität?“ also am besten erst einmal durch die Beantwortung der Frage „Was ist für dich nicht Intimität?“ beantworten. Bei so was fallen einem ja immer reichlich Dinge ein, nicht-intim ist ja quasi alles, was groß, öffentlich und unvertraut ist: Das Unintimste, was mir in meinem Leben untergekommen ist, war im Alter von neun Jahren der Fährhafen von Calais, nachts, im April. Jeder, der in diesem Alter und zu dieser Tages- und Jahreszeit – übermüdet und mit einem vergleichbar empfindsamen deutschen Bürgerkindergemüt – schon einmal dort war und im harten Licht gelber Dampflampen die ersten schlafenden Obdachlosen seines Lebens gesehen hat, kann sich jetzt meinen Begriff von Nicht-Intimität vorstellen. Für alle anderen rede ich noch ein bisschen weiter.

Also, abgesehen davon, dass große Menschenmassen, Institutionsgebäude, Warenhausketten und dergleichen mehr bestimmt nicht intim sind, würde ich so weit gehen, zu sagen, dass Intimität für mich nicht ohne ein gewisses Maß an gewachsener Vertrautheit möglich ist. Es mag Menschen geben, die Intimität überall verspüren können, wo sie wohlig mit einem kleinen Personenkreis oder einer einzelnen Person oder nur sich selbst zusammen sind. Ich würde in Anspruch nehmen, dass ich die umgebenden Personen, zumindest die Schlüsselpersonen, schon seit geraumer Zeit kennen muss, der Ort mir bis weit über die nächste Wegkreuzung hinaus vertraut ist und das Beisammensein eine Form hat, die ich ebenfalls seit geraumer Zeit praktiziere. Intimität setzt für mich ein hohes Maß an Sich-Auskennen an einem Ort, mit einer Gruppe Menschen und mir selbst voraus.

So weit, Intimität und Interkulturalität ein Gegensatzpaar zu nennen, würde ich zwar nach einigem Nachdenken nicht gehen (zumindest nicht nüchtern und öffentlich), aber dass zum Beispiel dieses Blog hier für mich das Gegenteil von Intimität ist, das kommt mir eigentlich – angesichts meines bis an die Grenzen des Wahnsinns engen Intimitätsbegriffs – nur folgerichtig vor. Man spricht in einen Raum und weiß noch weniger als anderswo im Netz (wo die eigenen Texte nicht gleich übersetzt werden und man es nur mit Lesern des eigenen Sprach- und Kulturraums zu tun bekommt), was aus dem Gesprochenen in diesem Raum wird. Immerhin kennen nur die wenigsten der hier Anwesenden die Haltung, aus der gesprochen wird, die zugrunde liegende (Pop-)Kultur, das Trauma, die Gesellschaft, die Schicht, die Landschaft (momentan deutsche Ostseeküste, zum Sterben schön, für mich). Damit wir uns nicht missverstehen: Das hier ist alles unsagbar aufregend, gut und richtig, aber eben nicht intim (wie auch, im Netz?).

Intimität braucht also eine kulturelle Vertrautheit, darüber hinaus eine gewisse Routine, einen Ritualcharakter. Bevor eine Situation wirklich intim sein kann, muss sie es für mich zuvor über Jahre nicht gewesen sein, beziehungsweise auf eine Art intim, die andere Leute vielleicht „intim“ nennen würden, die für mich aber nur unter „potentiell intim“ fällt. Potentiell intim sind Situationen, in denen man plötzliche Glücksgefühle empfindet, in denen das Herz hüpft vor Vertrauen und beginnender Vertrautheit und man denkt: „Wow, mit diesen Menschen, jetzt und hier, da könnte ich ja beinahe intim werden!“ Junge Freundschaft ist immer potentiell intim – speziell der Moment, in dem man aufgeregt ist, weil man merkt, dass es auch ohne die Aufgeregtheit funktionieren würde.

In wahrhaft intimen Situationen ist keiner aufgeregt. Da hüpft kein Herz, wir fühlen uns nicht federleicht und von allen Sorgen befreit, sondern relativ normal. Wie man sich eben fühlt, wenn man mit vertrauten Menschen Vertrautes tut: wie ein vertrautes Möbelstück in vertrauter Umgebung. Die Skala von „Fährhafen Calais, nachts“ bis „absolut intim“ abschreitend gelange ich in unmittelbarer Nähe zu „absolut intim“ zum „Gasthaus Gintoft“, einem Landgasthof an der westdeutschen Ostseeküste, wo ich seit 20 Jahren mit meinen Eltern, Freunden meiner Eltern und Kindern von Freunden meiner Eltern Sommerurlaub mache. Bei den annähernd uralten Wirtsleuten Erika und Uwe Jessen bin ich unaufgeregt vertraut in meinen Ritualen, gewöhnt an die Umsitzenden und das Geschehen im Schankraum, „eingesessen“, wie man zu sagen pflegt.

Gestern Abend prallte ich nun just an diesem magischen Ort auf dem Weg zur Toilette mit Wolf Biermann zusammen, jenem in Deutschland weltberühmten DDR-Dissidenten und Liedermacher, der 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde – aber das ist eine andere Geschichte, ebenso, dass er schon seit einigen Jahren ein Haus in der Gegend besitzt, wie im Anschluss schnell herauszufinden war. Worauf ich hier nur hinaus will und warum ich angesichts der jüngsten Ereignisse über das Gasthaus schreibe und nicht etwa über den Mutterleib oder die Segnungen einer Zweierbeziehung – allesamt ebenfalls gewiss gute Intimitätsmetaphern: Intimität ist nicht Zeitgeschichte! Intimität ist zeitlos, aus der Welt gefallen, utopisch. Im Gegensatz zum Zeitgeschehen ist Intimität gnadenlos privat, völlig unspektakulär und – vor allem anderen – nicht der Rede wert. Von und in intimen Situationen kann man schweigen, sie gehen keinen was an.

Deshalb ist der Einbruch von Ereignissen in die Intimität – und sei es auch nur durch die überraschende körperliche Präsenz gealterter Protagonisten einer über 30 Jahre vergangenen Zeitgeschichte – eine Monstrosität.

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Was ich schreiben könnte http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/was-ich-schreiben-konnte/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/was-ich-schreiben-konnte/#comments Mon, 19 Jul 2010 14:24:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=470 Ich könnte zur Abwechslung was Originelles schreiben

Ich könnte jetzt zur Abwechslung was Originelles schreiben. Zum Beispiel, dass Geschichte nicht mehr als ein Vorurteil ist, und dass ihre Bedeutung für die Gegenwart massiv überschätzt wird. Ich könnte schreiben, dass die Bevorzugung von diachronen vor synchronen Denkmodellen eine Altlast der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts ist.

Ich könnte schreiben, dass der Blick sich nur noch nach hinten richtet

Ich könnte sodann schreiben, was dabei besonders auffällt: Besonders fällt auf, dass – anders als zu Zeiten Marx‘ und Hegels – heute niemand mehr nach vorne, auf ein irgendwie geartetes „Ziel“ oder „Ende der Geschichte“ schaut; dass der Blick sich nur noch nach hinten richtet, auf das „Wie wir wurden, was wir sind“. Und dass so etwas eine Zivilisation lähmt…

Ich könnte schreiben, dass Geschichtsschreibung sich selbst schreibt

Ich könnte ewig so weitermachen. Ich könnte noch schreiben, dass Geschichtsschreibung ja sowieso immer nur sich selbst, die eigene Geschichte schreibt; dass die deutsche Altertumsforschung bis heute wesentlich mehr darüber aussagt, wie das 19. Jahrhundert mit Schliemann die klassische Antike idealisierte, als darüber, wie es in der athenischen Polis „wirklich“ war. Ich könnte sodann noch schreiben, dass doch nur noch irgendwelche halbblöden 68er-Lehrer, die ihren Adorno nicht bis zum bitteren Ende gelesen haben, noch glauben, man könne irgendwas aus Geschichte lernen.

Ich könnte schreiben: „Wir leben in einer Diktatur der Geschichte!“

Ich könnte schreiben, dass man, statt zu lehren, mit Geschichte nur Generation um Generation traumatisieren könne, gerade mit der deutschen. Ich könnte schreiben, dass die als Lehrstück ‚missbrauchte‘ deutsche Geschichte das Gegenteil von Freiheit und dass sie nur eine weitere Doktrin in dieser ‚ach so freiheitlichen Gesellschaft‘ sei. Schließlich sogar: dass wir in einer Diktatur der Geschichte leben. Ich könnte allen Ernstes schreiben: „Wir leben in einer Diktatur der Geschichte!“

Ich könnte schreiben: „Die machen ihr Ding, ich mach‘ mein Ding!“

Ich könnte es freilich auch volkstümlicher machen: wie die (angebliche) Hauptschülerin, die ich mal in einer Ausgabe der deutschen Late-Nite-Sendung „TV Total“ beim Bewerbungsgespräch beobachten konnte. Vom Personalchef auf ihr „Mangelhaft“ im Schulfach Geschichte angesprochen sagte sie, dass sie eben  „eher die Zukunft“ interessiere – und nicht, „was vor mir war“. Über das historische Personal sagte sie noch: „Die machen ihr Ding, ich mache mein Ding. Diese komischen Römer und so …“

Ich könnte schreiben: „Geschichte, schön und gut!“

Das alles könnte ich schreiben. Ich könnte mich auch hinsetzen und schreiben: „Geschichte, schön und gut. Aber das ist doch ein Auslaufmodell der Gutenberg-Galaxie. In wenigen Jahrhunderten wird entweder gar kein Quellenmaterial über vorangegangene Epochen vorliegen, oder so viel, dass sich jede historische Wahrheit im Nachhinein erstellen lässt. Was wiederum zeigt, dass es historische Wahrheiten überhaupt nie gegeben hat.“

Das alles könnte ich schreiben

Das alles könnte ich schreiben. Aber irgendwie hindert mich die Geschichte.

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Eine Jugend voller Schuld hat Folgen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/eine-jugend-voller-schuld-hat-folgen/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/eine-jugend-voller-schuld-hat-folgen/#comments Tue, 06 Jul 2010 16:57:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=424 Manchmal frage ich mich, was sich unsere Eltern wohl gedacht haben, wenn sie in den 80ern und 90ern im Kinder- und Jugendbuchladen nach neuen Kinder- und Jugendbüchern für uns Ausschau hielten? „Ui, ein Buch über einen 14-jährigen Flakhelfer, der in den letzten Kriegstagen getötet wird. Das nehmen wir!“ Und: „Oh, ein Buch über eine Zugfahrt nach Birkenau. Und am Ende sind alle tot. Das nehmen wir auch!“ Oder: „Oh lala, ein Buch über einen Widerstandskämpfer, der von der Gestapo zu Tode gefoltert wurde? Davon nehmen wir gleich drei.“

Was auch immer sie sich gedacht haben, sie haben mich früh zum Rechnen in Millionenbeträgen gebracht: 42.000 Zuschauer passten in das Stadion meiner Heimatstadt, ich stellte mir 1000 mal dieses Stadion vor, ausverkauft, 1000 Stadien aus der Luft, wie auf Kästchenpapier. Was Neunjährige halt so tun, wenn ihnen beständig gesagt wird: „Sechs Millionen!“

Dauerberieselung in Fragen einer monströsen „deutschen“ Schuld

Auf dem Gymnasium übernahmen die Geschichtslehrer: Ein konservativer zeigte uns den „Hitler“-Film von Joachim Fest und sich auch sonst recht überzeugt davon, dass es ohne das Charisma jener einen Person nie so weit gekommen wäre. Ein Marxist sprach viel von der Krise des Kapitalismus und den Verwicklungen des preußischen Großkapitals in Hitlers Aufstieg. Ein Intellektueller, dessen Frau Psychoanalytikerin war, las mit uns Klaus Theweleits „Männerphantasien“ und versuchte, uns von der verheerenden Rolle der preußischen Kadettenanstalten zu überzeugen. Welche Deutungsvariante auch vorgezogen wurde, eine westdeutsche Jugend in den 80ern und 90ern war stets düster eingefärbt: Es herrschte Dauerberieselung in Fragen einer monströsen, wenn nicht Kollektiv-, so doch eindeutig „deutschen“ Schuld.

Heute wird diese „schwarze Pädagogik“ gerne angeprangert, bevorzugt von jenen unheiligen Allianzen aus liberalen, libertären und nationalen Kräften, die sich auch gegen „Denkverbote“ stark machen und die „Diskriminierung“ derer geißeln, die keine „Maulkörbe“ mehr tragen wollen, „nur weil vor 70 Jahren …“. Wenn eine grenzdebile Nachrichtenvorleserin mit dem „Man muss auch mal sagen dürfen …“-Timbre in der Stimme die Olympischen Spiele von 36 für ihre perfekte Organisation lobt (ist noch nicht passiert, wird aber kommen), stehen diese „Neuen Konservativen“ bereit, um ihr ein „Forum“ zu geben, weil man „das in einer Demokratie aushalten können muss“.

„Kann man jetzt nicht langsam mal wieder?“ Nein, kann man nicht!

Muss man das wirklich? Ich meine nicht – meine Eltern, Lehrer und die Autorinnen und Autoren der Jugendbücher können in diesem Punkt wirklich stolz auf mich sein: Die Erziehung hat funktioniert, in der Krise der deutschen Schuldkultur erweist sich mein Temperament als erstaunlich krisenfest! So sicher, wie ich sonst für jeden Post-Irgendwas-Theoriescherz zu haben bin, so sicher gehe ich in absolute Relativismusverweigerung, wenn es um die Geschichte meines Landes geht. Und darum, ob man „denn jetzt nicht langsam mal wieder …“ Nein, kann man nicht! Und wenn neun Stunden „Shoa“ nicht reichen, um das ein für alle mal klarzumachen, dann weiß ich’s auch nicht.

Man muss hierzulande kein eingefleischter Marxist sein, um den Sinn der Geschichtsschreibung darin zu sehen, dass sie Irrwege der Geschichte expliziert und Menschen mit einem Funken Herz und Verstand sagen lässt: „Nie wieder!“ Und zwar immer wieder. Und wenn nun also Leute daherkommen und sagen, es müsse nun „auch mal gut“ sein, dann habe ich immer kurzzeitig den Impuls, ihnen von meiner schuldgetränkten Jugend zu erzählen und sie sodann mit den Worten abzufertigen, mit denen auch unsere Großeltern ihre Geschichten von einem zeitlich nicht näher bestimmten „Früher“ beschlossen: „Hat es mir vielleicht geschadet???“

Gefühlschaos aus Mitleid und voyeuristischer Lust

Im letzten Moment beherrsche ich mich dann, denn ich bin ja viel zu ehrlich, um die Frage unserer den Führer im Früher unterschlagenden Großeltern für mich eindeutig mit „Ja!“ zu beantworten. Natürlich hat mir das alles geschadet! Wahrscheinlich habe ich sogar ein handfestes Dritte-Generation-Trauma und schreibe deshalb hier so konfuse Sachen. Meine Jugendlektüren – als erstes las ich im Alter von acht Jahren Judith Kerrs relativ harmloses ‚Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‘ – waren das morbideste, was man sich nur vorstellen konnte – trotzdem fesselten sie mich wie sonst kaum was. Die Bücher stürzten mich zuverlässig in ein Gefühlschaos aus Mitleid und voyeuristischer Lust an der totalen Vernichtung. Das Gute aber war: Ich musste mich früh mit genau jenen Regungen meines Wesens kritisch auseinandersetzen. Ich merkte bald, dass ich den Dreck in mir trug. Nicht, weil ich Deutscher war. Aber weil ich Deutscher war, wurde ich rücksichtslos in diese Auseinandersetzung getrieben. Ich betrachte das heute als Privileg.

Wenn ich durch dieses Privileg eins über die Geschichte meines Landes gelernt habe, dann, dass sich neben allen Revisionismen und Verharmlosungen auch ausufernde dekonstruktivistische Eierschaukeleien à la „Was ist denn überhaupt ein Irrweg?“ verbieten. Wer schon als Kind auf Du und Du mit der Dichotomie „böse“ und „gut“ war und merkte, dass die Grenze einmal quer durch die eigene Familie und sogar durch die eigene Person verläuft, ist auf angenehme Weise etwas weniger tolerant gegenüber intoleranzverherrlichenden Toleranzausbeutern. Er kennt den Feind und nennt ihn so.

Man kann eben nicht alles „so und so“ sehen!

Ich kann mir inzwischen ganz gut denken, was sich meine Eltern gedacht haben, als sie Regalmeter um Regalmeter Krieg, Flucht und Vernichtung herbeischafften: Sie wollten aus ihren Kindern anständige Menschen machen (zumindest hoffe ich das mehr, als dass ich ihnen irgendeinen sado-masochistischen SS-Fimmel unterstellen würde). Sie wollten, dass wir aus der Geschichte „was lernen“, was Adorno angesichts der totalen Menschheitskatastrophe wohl für so deplatziert und naiv gehalten hätte wie ein Friedensliedchen von Joan Baez, aber das tut hier nichts zur Sache. Meine Eltern wollten zeigen, dass man nicht alles „so und so“ sehen kann, sondern manches auch mal nur „so“. Und dass es manchmal einfach keine Diskussion gibt, was denn nun „richtig“ und „anständig“ sei. Ich bewahre die Bücher auf. Für meine Kinder.

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