Gabriel Calderón – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Im Abschiednehmen war ich nie gut http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/im-abschiednehmen-war-ich-nie-gut/ Wed, 29 Sep 2010 15:00:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2325 Im Abschiednehmen war ich nie gut. Es ist nicht so, dass ich Abschiede nicht mögen würde, ich würde fast behaupten, dass sie mir egal sind. Ich werde mir einfach nie des Endes von etwas bewusst. Und nicht etwa, weil ich zu denjenigen Personen gehören würde, die sagen „man weiß nicht, was man hat, bis man es verliert“. Wenn ich mir dem Wert von etwas währenddessen nicht bewusst bin, würde ich wahrscheinlich den Moment des Verlustes nicht bemerken. Das ist kein Mangel an Zuneigung oder an Gefühlen. Es ist nur so, dass ich nicht an das Ende glaube. Die Welt von heute erlaubt keine Enden, noch nicht einmal der Tod ist ein Ende. Manchmal denke ich, dass ich zu der letzten Generation auf dieser Erde gehöre, dass wir geboren wurden, um das Ende dieser Welt zu erleben. Aber ich bezweifle auch, dass das dann das Ende wäre. Doch ich will nicht abschweifen, ich möchte hier von dem Abschluss dieses kostbaren gemeinsamen Schreibprozesses sprechen. Mich hat diese Übung des gemeinsamen Schreibens, in der man sich fremde Themen zu eigen macht, um sie interessant werden zu lassen, überzeugt, und sie hat mir viel Spaß bereitet. Mehr noch, es hat mir sehr gefallen zu sehen wie verschiedene Charaktere, Nationalitäten, Erlebnisweisen die selben Themen ihren Körpern-Herzen-Köpfen zuführten, wie ich sie gewissermaßen verdaute. Wir sollten uns ein Beispiel an dieser Erfahrung nehmen und sie in Tausenden von Formaten wiederholen. Schon kommen mir Projekte in den Kopf wie: Supereskritores (Superschriftsteller) –Superdeskonocidos (Superunbekannte) – Superfacebookeros (Superfacebookers) –Superkiudadanos (Superbürger) –Superkalifragilisticoespialidosos (Superkalifragilistikexpialigeten) und die Liste würde ewig weiter gehen. Tschüss, bis dann, man sieht sich, bis zum nächsten Mal, mach es gut, es gibt hunderte Art und Weisen sich zu verabschieden; die schönsten sind die, die bekräftigen, dass man sich wieder sehen, wieder treffen, lesen wird. Das sind ausführliche Abschiedszeilen, ein langer Abschiedszettel. Ich habe einen spanischen Freund, der sich immer sehr über eine Eigenschaft, von der er sagt, dass sie typisch für uns Uruguayer sei, wundert. Wir würden immer so lang für den Abschied brauchen, dass man denke, wir würden eigentlich gar nicht mehr gehen. Immer wenn jemand ankündigt aufzubrechen, wird dies etwa eine halbe Stunde vorher mit einem lakonischen „also gut, wir ziehen mal los“ angekündigt und dann verlängert sich das Abschiednehmen, das niemals konkret zu werden scheint, über etliche Minuten, bis die Person schließlich, nicht ohne sich mehrfach zu küssen und tschüss zu sagen, geht. Diese Zeilen sind ein langer Abschied mit mehreren Küssen und mehrfachem Tschüssrufen. Und ich betone noch einmal, dass ich tschüss sage, wie man hallo sagt, als würde ich mir selbst nicht ganz glauben, wie von etwas, das nicht zu Ende geht, dessen Ende nicht wahr ist, es wird nicht geschehen. Vielleicht gibt es ein wenig dieses Gefühls in der Demokratie, so als wäre die Demokratie nicht aus Schlusspunkten errichtet. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheinen mir die Enden eher faschistisch, nach Geschichten ohne Interpretationsspielraum, abschließend, endgültig, geschlossen. Die Demokratie hingegen, perfektionierbar, lang, komplex, divers, ist nichts als ein Prozess, ein langer Prozess, der vorher begann und danach enden wird, lange nachdem wir beschlossen haben, einen Schlussstrich unter sie zu setzen. Die Demokratie ist reinster Beginn. Ich muss an einige Passagen in diesem wunderbaren Buch „Der Tag eines Wahlhelfers“ von Italo Calvino denken, das ich jedem Liebhaber der Demokratie empfehle:

„Amerigo hatte begriffen, dass Veränderungen in der Politik ein langer und komplizierter Prozess waren, und nicht eine Sache, die von der man erwarten konnte, dass sie von heute auf morgen geschahen, wie eine Wendung des Glücks.“

„Ist es also so, dass allein der Moment zählt, in dem Dinge beginnen, in dem alle Energien in Spannung geraten und in dem nichts existiert außer der Zukunft? (…) was zählt, sind nicht die Institutionen, die veraltern, sondern die menschlichen Willenskräfte und Bedürfnisse, die sich weiterhin erneuern und den Instrumenten, von denen sie Gebrauch machen, Authentizität verleihen?“

Ich lade euch also alle zu einem neuen Anfang ein, dem Beginn davon, die Seite umblättern, den Computer ausschalten oder einen neuen zu starten, ein Superbürger, Superdemokrat, Superengagierter und Superoptimist zu sein. Ich lade euch dazu ein, heute viel Male tschüss zu sagen, viele Geschichten zu beenden, mehrere Freunde zum letzten Mal zu sehen und dass all diese Enden nichts als eine große Lüge sein werden, ein Wort, das bleibt, eine Absicht, die sich nicht konkretisiert, weil uns später die Zeit, das Leben, die Welt an dem wahrhaften Ort unserer Fabel einrichten wird.

Welchen Part unserer Erzählung werden wir verkörpern? Vorwort, Schluss, Epilog, Dyslalie, Randbemerkung, Titel, Fußnote? Welche Figur sind wir und welches ist unsere traurige oder schöne Rolle? Es geht zu Ende, da kommt es, beginnt.

Küsse
Tschüss
Auf Wiedersehen
Man sieht sich
Bis bald
Dicker Kuss
Fühl dich umarmt
Grüße
Ende….

Übersetzung: Anne Becker

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Wenn alles möglich ist, dann ist es gleichsam nichts mehr http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wenn-alles-moglich-ist-dann-ist-es-gleichsam-nichts-mehr/ Thu, 16 Sep 2010 20:26:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1940 Die Globalisierung gibt es nicht. Was es gibt, ist eine Verstärkung der Dominanz der mächtigen Kulturen über die schwachen. Das sage ich nicht, das sagen viele Theoretiker und ernster zu nehmende Experten als ich, gerade letztens habe ich das wieder bei einen von ihnen gelesen. Aber es scheint, als würde ein Funken Wahrheit dran sein. VERSTÄRKUNG DER DOMINANZ DER MÄCHTIGEN KULTUREN ÜBER DIE SCHWACHEN. Das kannst du deiner Tante erzählen! Nach so einem Satz will man lieber aufgeben und zur Theorie überlaufen. Doch ich finde diesen bombastischen Satz interessant und er erinnert mich an eine Anekdote.

Vor ein paar Monaten hatte ich eine Diskussion mit einem Theater in London – das ich ungemein schätze – über ein Drehbuch, das sie angefordert hatten. Ich sollte ein Theaterstück über die Realität meines Landes schreiben, natürlich aus meiner Sichtweise und mit meiner literarischen Stimme, um es irgendwie zu sagen. Ich entschied mich dann, ein Stück über die Diktatur zu schreiben oder, besser gesagt, ein Stück über die Nachwirkungen der Diktatur im Leben der Menschen. Aber ich habe das viel hin und her gewälzt, weil ich dem Ganzen eine eigene Note und Perspektive geben wollte. Ich entschied mich, über eine Familie zu schreiben, deren Tochter während der Diktatur verschwand und die ihr Familiengerüst seitdem um die Abwesenheit der Tochter herum konstruiert hatten. Eines Tages – das ist jetzt schon Teil des Plots– finden sie heraus, dass ihre Tochter zwar zur Zeit der Diktatur entführt worden war, aber nicht vom Militär sondern von Außerirdischen. Die Diktatur hatte es gegeben, es hatte Verschwundene gegeben, nur dass ihre Tochter nicht zu ihnen gehörte. Wie würde diese Familie reagieren, wenn von einem Tag auf den anderen all die Ideen, auf denen sie ihre Werte und moralischen Grundsätze gebaut hatte, auf falschen Annahmen fußten? Die Außerirdischen nehmen erneut die Erde ein,  und die Handlung geht weiter und sie wäre zu lang, um sie hier zu erzählen. Worum es mir hier geht, ist die Auseinandersetzung mit dem Theater in London. Das Theater nahm mein Stück sehr positiv auf, aber sie baten mich die Sache mit den Außerirdischen zu überdenken, da sie fanden, dass dies ein Stilmittel war, dass nicht zu der Dramaturgie und dem Thema des Stücks passte und ein Affront gegen den eigentlichen Wert des Stückes darstellte, der für sie darin bestand, über die Diktatur zu sprechen.

Im Folgenden möchte ich versuchen, so gut es geht einen Dialog wiederzugeben – den Schwachstellen meines Gedächtnis sei verziehen – denn ich erinnere mich nicht genau an den Wortlaut, und zudem erfolgte der Dialog über mehrere Emails verteilt. Zunächst erwiderte ich, dass mein Stück sich in eines der vielen Stücke über die Diktatur in Uruguay einreihen würde, würde ich die Außerirdischen rausnehmen, und dass es mich nicht interessieren würde, zur Fülle der Stücke über die Diktatur ein weiteres hinzuzufügen. Sie antworteten mir, dass sie meinen Einwand interessant und bemerkenswert fänden, weil sie es merkwürdig fänden, dass sie noch nie ein Theaterstück aus Uruguay über die Diktatur gelesen hätten, wenn es doch so viele gäbe. Worauf ich erwiderte, dass es interessant sei zu erfahren, wie viele uruguayische Stücke sie denn überhaupt über die Diktatur kennen würden, und ich schickte ihnen im Anhang eine Liste mit 15 Stücken aus Uruguay über die Diktatur. Die Antwort war klar, dass sie keines der Stücke gelesen hatten, und auf diese Weise blieben die Außerirdischen im Drehbuch, und diesen Monat hat mein Stück Premiere, aber logisch, nicht in London, sondern in Montevideo.

Die Moral von der Geschichte: Die Globalisierung ist nicht global, sie ist nicht in der uruguayischen Dramaturgie angekommen, so wie sie an hunderten von Orten nicht angekommen ist. Denn ich kann schnell deutsche, französische, US-amerikanische, sogar brasilianische und argentinische Theaterstücke ausfindig machen und lesen… aber wie sollte ich schnell und einfach Zugang zu marokkanischen, costaricanischen, iranischen, finnischen, oder, um noch ein außergewöhnlicheres Beispiel zu nennen, asiatischen Drehbüchern bekommen.

Es handelt sich nicht nur um mächtige und schwache Kulturen – da niemand die Stärke der eben genannten Kulturen leugnen kann – sondern auch darum, dass man sich immer mit den Nachbarländern vergleichen muss und darüber hinaus auch natürliche Hürden zwischen den Kulturen bestehen, und damit meine ich nicht nur die Sprache.

Uns erscheint es so, dass die Globalisierung und das Internet Hand in Hand gehen, dass alles überall hingelangt, doch wir wissen auch, dass obwohl die Welt jeden Tag vernetzter ist, sich weder der Reichtum globalisiert, noch die Macht, noch nicht einmal die Information. Man muss wissen, wie man zu ihnen hinfindet, man muss wissen, wie man sucht, man verliert sich in der Welt der Daten, wie man sich in der Welt verliert. Es ist unglaublich sich vorzustellen, dass die uruguayischen Drehbuchtexte, zumindest ein großer Teil von ihnen, auf der folgenden Internetseite zugänglich ist www.dramaturgiauruguaya.gub.uy. Aber das macht sie nicht global, sie stehen damit nicht der ganzen Welt zur Verfügung, sie macht sie noch nicht einmal den Zirkeln zugänglich, die sicher darauf brennen würden, sie zu lesen. Die Herausforderung gilt weiterhin, denn in einer globalisierten Welt sind die Barrieren immer noch so groß wie zuvor. Auf eine gewisse Weise ist das sicher pessimistisch, aber mit dem Optimismus der Hoffnung, dass dies nicht das Ende aller Tage ist, sondern einfach nur eine Etappe. Ich empfinde die Globalisierung wie diesen Satz von Baudrillard: „Wenn alles möglich ist, dann ist gleichsam nichts mehr möglich.“

Übersetzung: Anne Becker

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Alles ist gewalttätig http://superdemokraticos.com/themen/burger/alles-ist-gewalttatig/ Tue, 31 Aug 2010 17:08:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1324

Ich entschuldige mich, falls das hier sehr schwer zu lesen ist, aber ich wollte es auf diese Art ausdrücken.

Uruguay ist unterteilt in 19 Departments die Gesamtfläche von Uruguay ist kleiner als einige der Provinzen Argentiniens sehr oft behandeln uns die Argentinier als wären wir eine argentinische Provinz sehr oft verhalten wir uns so als wären wir eine ich möchte über die Gewalt schreiben über die Migration über das von Tag zu Tag ich möchte es versuchen und ich möchte es so tun wie ein Fluss wie ein Wortschwall und ich weiß nicht ob es auf Deutsch funktioniert aber ich werde es auf Spanisch versuchen ich will sagen dass Uruguay ein kleines Land ist wir sind drei Millionen Einwohner vielleicht dreieinhalb Millionen und dies halbe Million lebt außerhalb der Grenzen des Landes vor einiger Zeit kam es jemanden in den Sinn diese halbe Million die außerhalb von Uruguay lebt Uruguayer zu nennen sie wurden das 20. Departement getauft sie wollten signalisieren zu verstehen geben dass dort wo sie wohnten Uruguay sei aber es hat nicht funktioniert vor einem Jahr haben wir versucht die Briefwahl einzuführen oder etwas dass den uruguayischen Bürgern die im Ausland leben mehr Rechte verliehen hätte aber der Vorschlag wurde nicht verabschiedet die Idee überwog dass die im Ausland wohnhaften Uruguayer nicht die gleichen Rechte haben wie die Inländer wir sind Uruguayer einer anderen Kategorie dieses kleine und unterentwickelte Uruguay hat auf diesem Wege keine Zukunft eines unserer dringlichsten Probleme besteht in dem was man brain drain nennt das Problem besteht darin dass wir zwar eine gute und kostenlose Hochschulbildung haben aber das Land nicht all die Akademiker im Land halten kann die es ausbildet die sofort von anderen Ländern absorbiert werden wo sie sehr viel bessere Gehälter beziehen als in Uruguay also gehen die gut ausgebildeten Akademiker weg und ziehen es vor ihr Leben und ihre Karriere in einem Land zu verfolgen das dies ermöglicht es ist vernünftig Uruguay die Uruguayer die verschiedenen Regierungen haben versucht dem Einhalt zu gebieten in der Krise von 2002 emigrierten fast so viele Tausende von Personen aus Uruguay wie zurzeit der Militärdiktatur was mich daran erinnert wie ein Freund zu mir meinte dass die Diktatur des Geldes regiert über uns siegt uns foltert und dass sie kam um zu bleiben wir erhalten sie mit unserer Wahlstimme aufrecht und mit dem Schweigen ich denke dass es vielleicht sehr gewalttätig ist was ich sage und ich denke dass alles gewalttätig ist und das zu akzeptieren zum ehrlich sein dazu gehört gewaltsame Ehrlichkeit jeder Akt ist ein gewalttätiger Akt und bestätige das mit meiner täglichen alltäglichen Handlung jede Absicht ist zugunsten von etwas und gegen etwas anderes nichts ist unschuldig die Gewaltlosigkeit existiert nicht der Frieden existiert nicht nur im Grab und auf den Friedhöfen das Schweigen und die Grautönigkeit des absoluten Nichts des Endes nichts ist dem Leben entgegen gesetzter auch mein Schreiben dieser Akt ohne Punkt und Komma ist ein gewalttätiger Akt gegen meine Übersetzerin die alles neu schreiben muss alles was ich versucht habe zu schreiben wird sie neu schreiben und ihr Text wird meinen so umstellen dass er wieder meinem Gewalt antun kann sie wird ihre Gewalt der Interpretation nutzen um meinen gewalttätigen Akt zu übersetzen ich greife sie an sie greift mich an und alles aus Mangel an Punkten und Kommata was kann man sonst vom Leben erwarten wo die Punkte und Kommata nicht zählen aber vielleicht ist dieses Auslassen der Anfang von allen Auslassungen alles fängt in der Sprache an und so ist die Gewalt der Straße eine Gewalt der Sprache vielleicht provoziert mein Mangel an Orthographie am Ende eine Stammesfehde in Afrika prätentiös und Schwindel erregend aber jeder gewaltsame Akt ist in sich gewaltsam und nicht graduell ein Schrei ist so gewalttätig wie eine Bombe das was sich ändert sind die Konsequenzen die jener hervorruft  je nachdem in welchem Kontext er geschieht eine Bombe mitten im Ozean mag vielleicht weniger gewaltsam für uns sein als eine Schrei mitten in unserem Schlaf denn die Gewalt richtet sich immer gegen jemanden und sicher trifft es die Fische mehr als uns aber nur wir sind in der Lage über diese Gewalt nachzudenken über diese unaufhörliche Notwendigkeit  gewalttätige Akte hervorzubringen seit unserer Geburt wir kommen unter den Schreien unserer Mütter zur Welt und die erste Absicht ist es uns zum Schreien zu bringen und wenn wir es nicht tun wird der Arzt uns schlagen bis wir es machen versteh doch auf diese gewaltsame Tour die Welt ist Gewalt und der Frieden existiert nur auf den Friedhöfen.

Übersetzung: Anne Becker

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THEATER http://superdemokraticos.com/themen/burger/theater/ Wed, 18 Aug 2010 07:20:27 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=857

Theaterplakat zu "Las Nenas de Pepe" von Gabriel Calderón.

Theater ist mein Leben. Ich glaube, es gibt keine dramatischere, melodramatischere, klischeehaftere Art, einen Text zu beginnen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit 18 Jahren beschloss ich, dass ich mich dem Theater widmen würde und seitdem hat mein Leben nicht aufgehört, sich zu verändern. Theater ist nicht das, was ich in meinem Leben mache, sondern das Theater ist mein Leben. Ich denke und handle beim Aufstehen und ins Bett gehen in dem Koordinatensystem des Theaters. Ich erlebe die Stadt, das Land, die Welt durch die theatralische Linse, für die ich mich in meinem Leben entschied. Ich mache Theater und das Theater macht mich. Das klingt ein bisschen pupsig, simpel und billig, aber so ist es.

Ich kann Veränderungen in meinen Gedanken und in meinen alltäglichen Haltungen feststellen, die im Zusammenhang mit dem stehen, was in meinen Proben oder in einer Inszenierung passiert. Szenische Lösungen, die sich oft in Problemlösungen in anderen Bereichen meines Lebens übersetzen und viceversa. Wenn es mir in meinem Leben gut geht, mache ich besseres Theater, und wenn ich eine schlechte Zeit habe, erschaffe ich nur miserable Beziehungen in meinem Kreationsprozess. Ich denke nicht, dass das Allgemeingültigkeit besitzt, es ist einfach bei mir so.

Ich mache Theater nicht mit dem Ziel, dass es allen gefällt. Im Gegenteil, ich versuche verschiedene Geschmacksurteile zu erzeugen, Unterschiede zu fördern, und schon im Publikum vorhandene zu vertiefen. Ich tue nicht so, als ob ich nicht, wie alle Welt auch, geliebt werden möchte. Aber ich verfolge das nicht im Theater. Heiner Müller hat gesagt, dass die Zuschauer schon mit großen Unterschieden den Theatersaal betreten würden, und dass es vollkommen sinnlos sei, wenn das Theater danach streben würde, dass alle Zuschauer gleich dächten. Dass das faschistisch sei, und dem stimme ich zu.

Mir gefällt jenes Theater, das Differenzen vergrößert, so wie mir auch die Demokratien gefallen, die auf der Unterschiedlichkeit ihrer Bürger gründen und nicht auf deren Ähnlichkeiten. Ich glaube, dass eine Demokratie, die versucht, mit den Ähnlichkeiten zu arbeiten, die Unterschiede versteckt und verschiebt. Aus diesem Grund kehrten wir letztendlich zur Arbeit für Toleranz und Diversität zurück. Denn wir sind nicht alle gleich und wir sollten nicht alle gleich behandelt werden. Es gibt Menschen, die verwundbarer sind als man selbst, die angreifbarer und schwächer sind. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die stärker, mächtiger, stabiler sind.

Das Theater ist im Wesentlichen identisch mit den Beziehungen, die es herstellt, sowohl zwischen den poetischen Elementen der Inszenierung (Schauspieler, Kostüme, Beleuchtung, Bühnenbild, Musik) wie auch mit dem Zuschauer. Ich nehme die Welt, die mich umgibt, über diese Beziehungen wahr, definiere mich und vieles von dem, was ich fühle und denke anhand dieser Beziehungen. Wenn ich zu einer Gruppe von Beziehungen und folglich von Personen gehöre, kann es passieren, dass sich ein anderer, der nicht zu diesem Beziehungssystem gehört, aus dieser Welt ausgeschlossen fühlt und sich sodann eine Ideologie und Argumentationsweise zurecht legt, die begründet, warum es schlecht ist, zu meinem Beziehungsgeflecht zu gehören.

Zu einem Netz von Beziehungen dazuzugehören, ist einer der größten Wünsche überhaupt auf der Welt. Wir wollen alle zu einer Gruppe dazugehören, zu einer Klasse, zu einer Firma, zu einem Sektor. Und viele Menschen bauen ihr Glaubens- und Wertesystem auf dieser Gruppenzugehörigkeit auf. Ich habe es schon tausendmal erlebt, dass Personen aus dem einfachen Grund schlecht von anderen Gruppen reden, weil sie nicht Teil dieser Gruppen sind. Im Theater passiert es andauernd, das jemand schlecht von einem Stück spricht, weil er nicht dabei ist, oder man redet schlecht über einen Regisseur, weil dieser einen nie engagiert. Das Interessante daran ist, zu beobachten, wie das, was als ein Gefühl, ein Ressentiment beginnt, sogleich in eine ablehnende Argumentation verwandelt wird, bis man dann sagt, dass man nicht an einem bestimmten Ort oder in einem Stück mitarbeitet, weil man nicht einverstanden ist mit…bla…bla. Aber die Erfahrung zeigt, wie die Argumentationsweisen, die auf schwachen Überzeugungen fußen, bei vielen von uns dazu führen, dass wir am Ende etwas machen oder kreieren, was wir früher abgelehnt hätten. Und es geht nicht darum, das System von Beziehungen auszutricksen oder zu lockern, sondern darum, keine falschen argumentativen Eckpfeiler zu errichten, die auf Empfindlichkeiten gründen und nicht auf klugen Gedanken.

Dasselbe habe ich in meinem Leben beobachtet. Leute sprechen schlecht von einem Ort, weil sie nie dorthin eingeladen worden sind, Personen argumentieren gegen eine Kultur, nur weil sie nicht die ihre ist. An irgendeinem Punkt ist es so, als würde die Existenz des Anderen ein Angriff auf meine eigene Existenz darstellen, nur weil er existiert. Tschechow fragte es bereits: Warum schubsen sie sich, wenn doch Platz für alle da ist?

Mir gefällt es, wenn mein Theater (falls so etwas existiert) Ärger und Missfallen im Publikum auslöst. Sollen sie sich mit mir streiten und mit ihren eigenen Überzeugungen, unter sich und über ihre Ideen. Die Herausforderung besteht nicht darin, gutes Theater zu machen. Gutes Theater – das, welches gefällt, unterhält, beruhigt – zu machen, ist einfach und es gibt Hunderte von Kreisen, die damit ein gutes Geschäft machen. Die wahrhaftige Herausforderung besteht darin, ein Theater zu machen, das uns vor den Kopf stößt, das uns bewegt, das uns stört, das uns motiviert, alles zu überdenken … alles. Ein Theater, an dem wir zweifeln, so wie wir an uns selbst zweifeln. Ein Theater, das die tiefsten Wurzeln unser Überzeugungen umgräbt. Ein Theater, das uns dazu bringt, verärgert aus dem Saal zu gehen – nicht aus Langeweile – sondern, weil wir nicht einverstanden sind. Ein Theater, das sich mit uns als Zuschauer streitet und kein Einverständnis gibt. Theater, Leben, Theater, Leben.

„Der Rest ist Schweigen.“

Übersetzung: Anne Becker

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Die Stadt als Körper und Witz http://superdemokraticos.com/themen/koerper/die-stadt-als-korper-und-witz/ Tue, 03 Aug 2010 14:31:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=565

Ich wie ein Kind in der Stadt.

• Ich fahre im Taxi die Straße entlang und beobachte die Körper der Menschen, wie sie durch die Stadt laufen. Ich beobachte, ob ihre Körper sich an Montevideo anpassen oder ob es Montevideo ist, das sich an ihre Körper anpasst. Ich fahre eingeklemmt auf der Rückbank des Taxis, denn ich bin groß, 1,90 Meter, und in die Taxis von Montevideo wurde vor einigen Jahren aus Sicherheitsgründen eine Schutzscheibe eingebaut, die den Fahrer von den Fahrgästen trennt. Für Langwüchsige wie mich ist es sehr schwierig, Taxi zu fahren; wir müssen immer schräg sitzen, da in der normalen Position unsere Knie an die Scheibe stoßen. Wenn das Taxi ruckartig bremst, stoßen wir uns die Stirn an der Scheibe. Fährt das Taxi irgendwo gegen, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir uns einen Zahn ausschlagen oder irgendein Knochen im Gesicht brechen. Die Taxis in Montevideo sind nicht gemacht für die montevideischen Körper.

• Aus dem Taxi gucke ich mir die Fortbewegungsgewohnheiten der montevideischen Körper im Verhältnis zur Stadt an. Ich achte darauf, wie wir uns durch die Adern dieser Hauptstadt bewegen, wie sich die Bürger auf den Hauptarterien kreuzen, wie sie sich auf ihren offenen Plätzen tummeln, wie sie gegen ihre Knochen stoßen, in ihren Gelenken umbiegen, sich in ihren Löchern verstecken. Wenn die Stadt ein Körper wäre, welcher Teil von ihr wäre dann ihr Geschlecht?

• Zuerst dachte ich, es wären die Krankenhäuser. Dort werden die Kinder geboren, dort vermischen sich die krankhaften Körperflüssigkeiten der Leute, da sterben sie, da werden sie geboren, da beginnt und endet die große Masse der Bürger. Aber dann stelle ich fest, dass das Geschlecht mehr als das ist, dass ich danach suchen muss, welcher Part der Stadt sich reproduziert, sich amüsiert, sich selbst genießt. Wenn ich scheinheilig sein wollen würde, würde ich behaupten, dass sich das Geschlecht in jedem Bett unserer Haushalte befindet…..Lüge!

• Aus der Perspektive der Fortpflanzung betrachtet leidet Uruguay an einer Krankheit im Endstadium. Seine Bevölkerung wächst nicht und ist sowieso schon sehr klein, die wenigen jungen Menschen wandern früh aus. Wir sind knappe dreieinhalb Millionen Personen, und es scheint, als hätten wir nicht genug Lust zu wachsen. In solch einem Land sind die Betten kein Fest. Nein, die Betten in diesem Land sind mehr als für irgendetwas anders zum Schlafen da.

• Nichtsdestotrotz vögeln wir und pflanzen uns fort und amüsieren uns, aber wir sind nicht viele, wir sind sogar ziemlich wenige, aber wir halten unsere Adepten beieinander und missionieren neue Bürger. Ich schließe mich hier mit ein, da ich mich immer am Geschlecht der Stadt aufhalten werde. Ich ziehe das ihren arbeitsamen Armen, ihrem erfinderischen Kopf oder ihren geschickten Füßen tausendfach vor. Ich suche immer das Geschlecht von meiner Stadt, diesen Zugang zum Verborgenen, zum Genuss, zum Exzess, zum Obszönen, zur schönen, wundersamen Perle inmitten des Blutigen und Schmutzigen. Man muss in den Fluss hineinsteigen, um die Goldkörner zu finden.

• Meine Stadt ist ein alter Körper und wir sind alt in dieser Stadt. Wir sind ein junges Land  –  wir sind noch keinen 200 Jahre alt, auch wenn wir diese schon feiern, obgleich es offiziell noch so 20 Jahre bis dann hin sind – aber wir sind sehr alt. So habe ich mich am Anfang dieses ganzen Schreibspiels vor ungefähr fünf Essays vorgestellt. „Ich bin ein alter Mann im Körper eines jungen Mannes“ und das selbe gilt auch für die Stadt. Ihr natürliche Verfassung ist die Langsamkeit, die Traurigkeit und die Nostalgie. Zumindest empfinden…empfanden wir so.

• Etwas passiert gerade: Eine Art Benjamin Button auf Landesebene –  ha, ich weiß, dass der Vergleich fürchterlich ist, aber ich erinnere mich nicht an das andere, kultigere Buch, welches von der selben Geschichte handelt. Die Stadt und ihre Menschen, mit der Zeit hat sie angefangen, wieder jünger zu werden. Wir sind weit davon entfernt, Kinder oder Jugendliche zu sein, und schon gar nicht junge Leute in den 30ern. Aber eine Brise des Erwachsenenseins weht über den Boden unseres Vaterlands. So als wären wir plötzlich nicht mehr 70 Jahre alt sondern 50. Auf diese Weise wollen wir noch ein bisschen mehr vögeln, haben wir die Hoffnung und Lebenserwartung, dass uns noch ein wenig Zeit bleibt. Wir animieren uns sogar zu ein paar Fußballspielchen und dazu, sie zu gewinnen, wenn uns ein Wunder dabei hilft!

• Etwas verändert sich gerade. Uruguay hat das hohe Alter hinter sich gelassen und ist ins Stadium der Reife eingetreten, und mit ein bisschen Glück erfüllt sich jener Witz von Quino (bekannter argentinischer Comiczeichner; Anm.d.Ü.). Vielleicht ist Uruguay dieser Witz von Quino. HA! Hoffentlich.

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Das Leben laut Quino

…Ich denke, dass die Art und Weise, wie der Fluss des Lebens verläuft, falsch ist. Es müsste anders herum sein: Man müsste zuerst sterben, um das ein für alle Mal erledigt zu haben.

Dann eine Zeitlang im Altersheim wohnen, bis sie dich da rausschmeißen, wenn du nicht mehr alt genug bist, um dort zu weilen.

Dann beginnst du zu arbeiten, 40 Jahre lang, bis du jung genug bist, um deinen Ruhestand zu genießen.

Danach Partys, um die Häuser ziehen, Alkohol. Spaß, Geliebte, Freunde, Freundinnen, alles, bis du bereit bist, auf die Sekundärschule zu gehen…

Danach beginnst du die Grundschule und bist ein Kind ohne Verantwortlichkeiten irgendeiner Art…

Danach wirst du zu einem Baby und gehst erneut zurück in den mütterlichen Bauch und dort verbringt du die besten und letzten 9 Monate deines Lebens, schwebend in einer warmen Flüssigkeit, bis dein Leben sich mit einem heftigen Orgasmus ausschaltet.

DAS IST DAS WAHRE LEBEN!!!

Übersetzung: Anne Becker

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Ich, ein/e Unübersetzbare/r http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/#comments Tue, 20 Jul 2010 07:00:36 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=476

Die Betrachtung der Zukunft.

Sein oder nicht sein. Frau sein oder Mann sein. Oder keines von beidem sein. Ha! Die Relevanz dieser Frage fällt zweifellos unterschiedlich aus, je nachdem, in welcher Epoche und an welchem Ort sie gestellt wird. Sich zu fragen, was es im Mittelalter bedeutet hat, eine Frau zu sein, ist etwas anderes, als zu fragen, was es heutzutage bedeutet. Genauso wie es auch nicht dasselbe ist, sich diese Frage heute in Afghanistan zu stellen oder in Holland. Der jeweilige Kontext entscheidet über Relevanz und Bedeutung dieser Frage.

Wenn mich irgendetwas mit Stolz erfüllt, dann das: dass ich mich zu einem zweifelnden Wesen entwickelt habe. Ich bin davon überzeugt, dass diese Gemütsverfassung der Zeit und dem Ort entspringt, an dem ich lebe. Also: Uruguay im Jahr 2010. Die Möglichkeit, an allem zu zweifeln, was sich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt als sicher und unverrückbar dargestellt hat, erfüllt mich mit Hoffnung und Neugierde. Mich erfreut die – zumindest virtuelle –Möglichkeit, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass manchmal eine gute Frage ausreicht, um das institutionelle Fundament eines beliebigen Mythos zum Einsturz zu bringen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass ich ein Mann bin, zumindest physiologisch. Aber ich zweifle die ganze Zeit daran, dass ich kulturell ein Mann bin. Und ich will klar stellen, dass ich das nicht auf meine sexuellen Neigungen beziehe, da diese in den traditionellen Konzepten von „Mann“ und „Frau“ nicht zu fassen sind. Vielmehr spreche ich von der kulturellen Konstruktion des Archetyps – in diesem  Fall – Mann. Doch zugleich überzeugt mich die andere Option auch nicht genug. Auch wenn das Frausein mehrere Aspekte beinhaltet, die ich gerne mal ausprobieren wollen würde, ist nichts so verführerisch, dass es mich zum vollständigen Wechsel bewegen könnte.

Wir wissen längst schon alle, dass die Frage komplexer ist. Gibt es nur zwei Möglichkeiten zu existieren? Ist man entweder Frau oder Mann? Oder ist man einfach nur? Die Frage ist auf endlose Antworten angelegt, aber hier sollte man zumindest versuchen, eine persönliche Antwort auf sie zu geben. Diese Antwort erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie ist auch nicht übertragbar auch den Rest der Menschheit. Sie ist nur das Manifest einer Einzelperson, das eine weitere Farbe zu dem Farbspektrum der Antworten hinzufügt.

Also. Wer bin ich?

Ich bin ein Mann, der sich Feinde sucht, die stärker sind, als er selber, und eine Frau, die in Situationen der Ohnmacht ins kalte Wasser springt. Ich bin dieser Mann, der sichere Risiken eingeht, und diese Frau, die sich dort einen Platz sucht, wo sie nicht eingeladen wurde. Ich bin ein Mann, der es nie mochte etwas zu lernen, für das er sich nicht interessierte, und in der Schule nur so viel aufpasste, damit er nicht sitzen blieb, und für Prüfungen einen Tag vorher lernte und damit durchkam. Ich bin diese Frau, die, wenn etwas ihre Leidenschaft entfacht, bereit ist zu lieben, wie niemand je geliebt hat, alles zu geben und sich hinzugeben ohne abzuwägen, ohne zu spekulieren, ohne etwas zu erwarten. Ich bin dieser Mann, der weiß, wie er geliebte Personen verletzen kann, und der sich dann streitet, wenn er gute Chancen auf Erfolg hat, der versucht, unbeschadet aus den Konflikten anderer hervorzugehen, und sich nur so viel einbringt wie nötig. Ich bin diese Frau, die dafür kämpft, woran sie glaubt, und die ihre Ansichten vertritt und sich nicht der falschen Überzeugung der Mehrheit fügt. Ich bin diese Frau, die mehr schläft als nötig, und dieser Mann, der neidisch auf die Schönheit anderer ist. Ich bin diese Frau, die immer daran denkt, einen guten Eindruck zu machen und dieser Mann, der nichts ohne Hintergedanken tut. Ich bin ein Eigennutz und eine Bombenlegerin. Ich bin ein verzogener Junge und eine überhebliche Frau. Ich bin ein/e Unübersetzbare/r. Unverständlich außerhalb meiner selbst.

Ich kann mir den Tag nicht vorstellen, an dem wir alle so sehr Frau und Mann sein können, wie wir wollen, an dem Kulturen nach ihren Grund- und  Gegensätzen gelebt werden und an dem alles eine willkürliche und persönliche, gerechte und kollektive, zufällige und singuläre Konstruktion ist. An dem wir uns unabhängig von unserem Geschlecht gefallen oder uns zurückweisen, weil sich diese längst mit unseren Tugenden und Sünden zur Unkenntlichkeit verwischt haben. Und an dem wir uns in solch vernünftigen und erträglichen Maßen hassen und lieben werden, dass es möglich wird, dass sich die Welt dreht, ohne auch nur die Existenz der winzigsten Albinomücke in Mitleidenschaft zu ziehen. Und an dem es nur so viel Diskriminierung geben wird, dass ich diese in Frieden leben kann, weil sie nicht auf Ausgrenzung abzielt, sondern nur dazu dient, dass ich weiß, dass ich ein einzigartiges Wesen bin, welches zur Farbfülle der Welt beiträgt, ohne dabei die unerträglichen Farben der anderen auszugrenzen. Und diese Welt ist so undenkbar, so weit weg und so unwahrscheinlich, dass wir allein bei der Möglichkeit, sie uns vorzustellen, in Freudentränen ausbrechen werden, so wie jemand, der dem Wesen des Universums ins Gesicht blickt. Ich kann mir diesen Moment und diese Welt nicht vorstellen, aber ich möchte kein Stein auf dem Weg dorthin sein.

Ich werde daher warten, während ich die Gesichter meiner Nachbarn betrachte und darauf hoffe, dass ich die außergewöhnliche Geste erblicke, die Grimasse, die aus der Betrachtung der Zukunft unvermeidlich folgt. Und wenn das passiert, werde auch ich in die Gestik einstimmen, ich werde die Bewegungen kopieren, ich werde durch die Augen der Glücklichen blicken und dabei behilflich sein, als Mann und als Frau werde ich dabei behilflich sein.

Übersetzung: Anne Becker

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Die treue Hure Gottes http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-treue-hure-gottes/ Tue, 06 Jul 2010 12:11:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=425 „Die Geschichte ist wichtig“

Sagte mir die Mutter eines Freundes

So fängt diese Geschichte an

Ich spielte Basketball

Mehr aus Hartnäckigkeit meines Vater, denn aus eigenem Interesse

Die Geschichte, das Leben, der Alltagsverstand und meine Eigenliebe

Würden mir bald zeigen, dass der Sport nicht das Meine war

Aber zu jener Zeit wurden noch Hoffnungen in mich gesetzt

Ich hatte es sogar geschafft, Mannschaftskapitän zu werden

Im Jahr darauf

Als ich nicht mehr Kapitän war und wie blöd die Bank drückte

– was heißt, dass ich Auswechselspieler war und nur selten mitspielte –

In diesem Jahr wurden wir Erster in unserer Kategorie

Also wurden wir eingeladen zum Feiern

Zu einem Grill

– hier feiert man immer mit einem Grill –

Wir wurden zu einer Ferienanlage des Militärs gebracht

Es ist merkwürdig, aber die Ferienanlagen des Militärs sind billig

Eine der schönsten und zugänglichsten Ferienanlagen in Uruguay ist ein ein Campingplatz

Der an der Atlantikküste liegt und Santa Teresa heißt

Und der natürlich vom Militär ist

Aber nun gut

Die Geschichte würde sagen, dass die Militärs in diesem Land für andere Dinge in Erinnerung bleiben werden

Nicht wirklich für ihre Ferienanlagen

Ich kehre zu der Geschichte zurück

Wir Basketballspieler werden zu diesem Ort zum Grillen gebracht

Also, ich erinnere mich nur wenig

Aber etwas hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt

Für immer

Es war schon spät, fast nachts

Wir waren im Aufbruch

Und während wir auf den Bus warteten, der uns nach Hause bringen würde

Sah ich etwas, was ich bis zu diesem Moment noch nie gesehen hatte

Ein Soldat holte die Nationalfahne vom Fahnenmast ein

Ich weiß nicht, warum ich zu ihm hin rannte und ihn bat, mich das machen zu lassen

Ich wollte den Clown spielen, schätze ich mal

Meinen Freunden mich selbst darbieten, wie ich die Fahne einholte

Die Sache ist die, dass der Soldat einwilligte und ich mich dabei wiederfand, wie ich die Fahne einholte

Meine Freunde guckten mich an und lachten

Ich schnitt Grimassen für sie

Und mitten drin, die Nationalfahne

Die fast unwichtig war in dem Sketch

In dem Moment passierte es

Die Mutter von einem meiner Mitspieler

Stürzte sich auf mich

Schob mich von der Fahne weg

Und holte sie zu Ende ein

Ich war verwundert über ihre Gewalttätigkeit

Meine Freunde lachten jetzt nicht mehr

Als sie die Fahne ganz eingeholt hatte, sah sie mich an und sagte

„Vor ein paar Jahren wurden wir gezwungen, dieser Fahne Respekt zu zollen

Und dieser Respekt, der uns nur schwer begreiflich war, ist verloren gegangen

Die Geschichte ist wichtig

Aber du bist ein frecher Rotzbengel

Und denkst jetzt, dass ich eine verrückte alte Schrulle bin

Aber an dem Tag, an dem die Diktatur wiederkehrt, wirst du dich an das hier erinnern

Und daran, wie du die Fahne behandelt hast.“

Nimm das für dich und deine Tante Gregoria!

Und bis zum heutigen Tag erzähle ich diese Geschichte und bekomme eine Gänsehaut

Ich erinnere mich nicht, wie die Mutter dieses Freundes vom Basketball hieß

Es ist nicht wichtig

Für mich ist nur wichtig, wie sie damit irgendwie definierte

was für mich in Zukunft die Geschichte sein würde

Die Geschichte würde für mich

Die Drohung

Der Buchstabe, der mit Blut einschießt

Sein

Die harte Lektion, die mir das Leben einmal erteilen würde

Die Geschichte

Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen

Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen

Um mich zu zwingen, die Fahne mit Respekt zu behandeln

Um mich bezahlen zu lassen für meine Sünden

Die Geschichte so wie die Religion machten mir Angst, als ich jünger war

Und eine Spur davon ist geblieben

Aber ich glaube nicht an Gott

Und noch viel weniger an seine treue Hure

Die Geschichte

Übersetzung: Anne Becker

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Die Erinnerung, diese bezwungene Gelatine http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-erinnerung-diese-bezwungene-gelatine/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-erinnerung-diese-bezwungene-gelatine/#comments Mon, 21 Jun 2010 20:33:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=322 Wenn ich hier über der Geschichte meines Landes sitze, komme ich mir ganz klein angesichts der Geschichte der Menschheit, der Weltgeschichte, der Geschichte des Universums. Vor ein paar Tagen fiel mir der letzte Satz von Blade Runner wieder ein: „Alle Dinge, die man erlebt, werden verloren gehen in der Zeit, wie eine Träne im Regen.“ Irgendwie so ist mein Land, irgendwie so etwas ist meine Lebensgeschichte, eine Träne in einem Ozean der Ozeane. Was für eine Bedeutung kann der Ozean für diese Träne haben?

Manchmal spüre ich, so wie heute, dass die Geschichte bedeutungslos ist. Die Diktatur in Uruguay – eine zivil-militärische Diktatur, die vom 27. Juni 1973 bis zum 28. Februar 1985 andauerte – bedeutet nicht nur eine einzige Sache. Natürlich bedeutet sie etwas ganz anderes für einen Militär als für einen Zivilisten, sie bedeutet sogar etwas anderes für meinen Vater als für mich. Aber darüber hinaus bedeutet sie auch verschiedene Dinge für einen selbst. Auf diese Weise, wenn alles so viel bedeutet, bedeutet es nichts mehr. Wenn alles möglich ist, ist gar nichts mehr möglich.

Ich kehre zu diesem Thema Geschichte versus Erinnerung zurück, weil es mir bedeutsam erscheint. Es ist die Erinnerung – wir erinnern in Funktion dessen, was wir der Gegenwart erleben und wir erinnern, indem wir entscheiden, etwas anderes zu vergessen–, die für mich am meisten Relevanz hat. Was ist die Geschichte für mich? Ein paar Daten, die willkürlich aus der Vielzahl von Geschehnissen, von denen mir immer nur Versionen zugänglich sind, ausgewählt wurden. Was ist die Erinnerung für mich? Alles. Weil die Erinnerung sich als komplexe, zweiflerische, willkürliche animmt und versteht. Es ist meine Erinnerung, nicht die, der anderen.

Mir gefällt das Klischee, dass die Erinnerung ein Fotoalbum ist. Ich gebe zu, dass es mir etwas Mühe bereitet hat, eine dermaßen ausgelutschte und oberflächliche Metapher zu verwenden. Aber es ist doch so, wenn einem keine bessere einfällt, dann Augen zu und durch, und weiter, auf zu etwas anderem.

Die Geschichte hingegen ist die Reihenfolge, in die ich die Fotos bringe, sie ist ausgerichtet auf das Heute als Endpunkt. Was für eine Geschichte erzählt mir dieses Foto in Hinblick auf meine Gegenwart?

Ich weiß, dass ich abschweife, so bin ich, konfus, nebulös, grau…wie die Erinnerung.

Erstes Foto: Ich mit sieben Jahren, vielleicht weniger, fünf, sechs…ich wache mitten in der Nacht auf und rufe nach meinen Eltern, ich rufe ein ums andere Mal, sie sind nicht da, ich fange an zu weinen, ich schreie, sie kommen nicht, ich klettere aus meinem Bett, laufe den Flur entlang bis zu ihrer Tür, ich weine, sie machen nicht auf, ich weine und weine, die Nacht ist lang und nichts geschieht, nichts, nichts, nichts, meine Faust, wie sie auf die Tür meiner Eltern einhämmert, ein weiße Tür und nichts, nichts, nichts. Plötzlich höre ich die Schlüssel in der Haustür, meine Eltern kommen nach Hause, ich weiß nicht, woher sie kommen, ich erinnere es nicht, ich weiß nicht, ob ich wirklich allein war, warum ich so viel weinte, wie viel Zeit vergangen war. Das nächste Bild, es ist aus derselben Nacht: Meine Eltern lassen mich mit bei ihnen im Bett schlafen, sie geben mir einen Becher mit dulcedeleche (eine Art Caramelcrème), die ich gierig verschlinge, ich beruhige mich, ich gucke mit ihnen fern und schlafe ein.

Die Geschichte wird sagen, dass ich nie wieder auf diese Art und Weise dulcedeleche gegessen habe, dass mir dulcedeleche gar nicht besonders schmeckt, sie ist mir zu süß. Die Geschichte würde auch berichten, dass meine Eltern sich kurz daraufhin getrennt und dann geschieden haben, dass ich nie wieder eine Nacht mit ihnen zusammen im Bett verbrachte, dass ich nie wieder nachts aus meinem Bett in ihres umzog, wie es Kinder zu tun pflegen. Die Geschichte wird verkünden, dass ich nie wieder Ohrenschmerzen habe. Mein Gedächtnis erinnert sich nicht, aber meine Geschichte belegt es. Die Geschichte wird Spekulationen anstellen über die Verbindung zwischen dem Verlassensein in jener Nacht und dem Auszug meines Vaters, mit dem Wegzug meiner Mutter in ein anderes Land, als ich 18 Jahre alt war, mit dem all dem Verlassenwerden, was seit dem meine Familie durchlebt hat.

Ich glaube daran nicht, erst einmal deshalb, weil ich nicht an das Verlassenwerden glaube, ich weiß, dass niemand mich verlassen hat, ich glaube auch nicht an endgültige Schlussstriche oder das Nimmerwiedersehen, ich glaube noch nicht einmal an den Tod. Und wie Calamaro schon sagte: „Ich werde unsterblich sein, bis mir das Gegenteil bewiesen wird.“ Für mich, und da mag die Geschichte noch so viel beweisen und in Büchern verewigt werden, existieren jene Eltern nicht, die Zigaretten holen gehen, und nie mehr wieder kommen, so wie für mich auch die Helden nicht existieren.

Stattdessen glaube ich an die Gleichgewichte, an die Veränderungen, an die Transformationen, daran, dass meine Familie ihre Form verändert hat und dass ich heute eine andere Familie habe, dass mein Geschmack sich weiter entwickelt hat und dass ich heute andere Sorten von Süßigkeiten mag, dass sich meine Art zu weinen und zu schreien transformiert hat, so wie alles sich immer ändert, so wie nichts mehr je so sein wird, wie es in jener einen Nacht war, und dass das kein Problem ist, dass es das wirklich nicht ist, mir geht es besser ohne diesen Becher dulcedeleche.

Die Geschichte verlangt nach Abschluss und Schlussstrich, was mir nicht gefällt. Die Erinnerung aber, diese Hure, die mit jedem meiner Gedanken und all meinen Intentionen ins Bett steigt, dieser instabile und fragile Nebel, diese bezwungene Gelatine, die gefällt mir.

Übersetzung: Anne Becker

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Ich bin so etwas wie http://superdemokraticos.com/laender/uruguay/ich-bin-so-etwas-wie/ Sat, 12 Jun 2010 10:10:11 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=193 Hier nun eine Form der Selbstdarstellung, die mich schon jetzt in Zweifel stürzt. In jedem Selbstdarstellungsakt wird immer eine falsche und eine wahre Idee von einem selbst vermittelt. Also können wir zugleich sagen und bezweifeln, dass mein Name Gabriel Calderón ist und dass ich in Montevideo, Uruguay, lebe, wo ich als Theaterregisseur, Dramaturg, Schauspieler und sonst was arbeite. Ich sage sonst was, nicht weil mir das total egal wäre, sondern weil mir zunächst einmal nichts zuwider ist, auch wenn ich keinen Fisch mag und dieser mir sehr wohl zuwider ist, aber wenn es ums Arbeiten geht, bin ich mir für nichts zu fein. Die Zeit und die Selbstkritik werden zeigen, ob es der richtige Weg ist oder nicht. Mir wird schon langweilig, diese Selbstdarstellung zerrinnt mir zwischen den Fingern, etliche werden schon aufgehört haben zu lesen, mich zu lesen, selbst ich bin es schon leid, mich zu lesen, ich schreibe ohne darauf zu achten, was ich schreibe, eine Todsünde, eine Lüge. Ich bin also dies alles und zugleich auch wieder nicht.

Ich bin 27 Jahre alt und altere jedes Jahr ein bisschen mehr, aber wie Tschechow schon sagte: „Ich bin ein Greis von 90 Jahren in dem Körper eines jungen Mannes.“ Es ist eine Frage der Einstellung, der Erfindung von Figuren mit bestimmten Haltungen, und nicht der Authentizität der Person. Doch mit der Zeit wird eine Haltung zu einer wahrhaft zweiten Natur, und die Figur frisst nach und nach die Person und auf diese Weise wissen wir nicht mehr, ob der junge Mann alt wirkt oder der alte Mann jung, wir wissen nicht, ob jener junge Calderón sich alt gibt oder der alte Calderón jung. Etwas kann ich schon noch sagen: Ich mag mein Land und ich lebe hier liebend gerne. Das ist keine patriotische oder nationalistische Haltung, denn ich glaube weder, dass mein Land der beste Ort auf Erden ist, noch dass Uruguayer zu sein, etwas Besseres oder ein Verdienst ist. Ganz im Gegenteil, ich denke, dass die Menschen, die hier geboren wurden, ganz schönes Pech haben, aber in meinem Fall ist es genau anders herum. Für mich ist es ein Glück, ich bin zufrieden, um es mal salopp zu sagen, ich bin nicht einverstanden, aber es stellt mich zufrieden, ich könnte eine ganze Weile so leben. Dieses Land ist eine Rarität, ein Experiment, ein Projekt. Irgendjemand hat sich ausgedacht, dass dies hier ein Land sein sollte, dass wir nicht mit Brasilien und Argentinien identisch seien, und so zogen sie los. Und Horden von Historikern waren zur Stelle und riefen im Chor, dass die uruguayische Identität eine ganz besondere sei, dass wir nicht genauso, dass wir kein Zufall, kein Unfall der Geschichte seien. Was soll ich dazu sagen, ich leugne den Willen und den Idealismus nicht, welche die Geburt dieses Landes voran gebracht haben, aber ich möchte mich auch nicht von der Idee des Zufalls trennen, von dem Eindruck, dass vieles daran Zufall ist – und ich schreibe dies während auf meinem uruguayischen Fernseher argentinische Nachrichten laufen und auf der Straße ein Trupp von Trommlern vorbeizieht, der mit seinen Trommelschlägen die Sonntagnachmittagruhe durchkreuzt. Hier sind wir, auf einem kleinen Fleckchen Land auf der Erdkugel, in Frieden, und versuchen, unsere Unterschiede zu verstehen, während wir uns als Gleiche anerkennen: europäische Architektur, Seefahrergeist, afrikanische Wurzeln, französische und italienische Ideale, US-amerikanisches Fernsehen, und so dringt die Globalisierung mit voller Wucht in mein Bett und mein Gesicht. Und ja, so bin ich, das bin ich und jeden Tag verwandle ich mich ein bisschen, viel, ein bisschen und noch ein bisschen; etwas zu tun, etwas zu denken, etwas zu wachsen, das wird so wichtig…wie ein uruguayischer Sänger namens Fernando Cabrera singt „Das wenige, was wir tun können, ist es wert/ das Nichts durchschneiden“.

Übersetzung: Anne Becker

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