Fernando Barrientos – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Dichter im Profil http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/#comments Sat, 09 Oct 2010 01:57:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2639

Erlaubt mir diese letzte, schamlose Übung. Heute möchte ich von Julio Barriga sprechen, dem ersten wahren Künstler, den ich kennen gelernt habe. 1995 entdeckte ich seinen Namen in der Literaturbeilage einer heute nicht mehr existierenden Lokalzeitung. Er tauchte als Herausgeber der Beilage Eventual auf (ich wusste noch nicht, dass in diesem Titel der Wesenszug seines flüchtigen Enthusiasmus – eventuell –  steckte, der ihn in merkwürdigen Ausnahmefällen zum Handeln bewegte). Der Inhalt war exquisit, ironisch und fast schon revolutionär für eine konservative und scheinheilige Stadt. Es erschienen nur vier Ausgaben (ein Monat) der Beilage. Von der Neugierde getrieben fragte ich nach ihm in einer winzigen, verruchten Kneipe (die von einem trotzkistischen Theaterliebhaber geführt wurde), in der sich Exemplare einer sehr vielfältigen und vom Aussterben bedrohten Fauna trafen, die ich wie alte Bekannte zu behandeln begann, ganz dem Ausspruch von Monterroso folgend: „Die Zwerge haben eine Art sechsten Sinn, mit dem sie sich auf den ersten Blick erkennen“. Man sagte mir, dass dieser Barriga auch oft in die trotzkistische Theater-Kneipe kam, aber ich war ihm noch nie dort begegnet. Eines Tages zeigten sie ihn mir. Er sah aus wie Edgar Allen Poe („Edgar Allan guckt mich aus dem Spiegel an“) und als ich auf ihn zuging, störte er sich daran, dass ich ihn siezte. Ich fing an, ihn oft aufzusuchen, und um mich los zu werden, lieh er mir Bücher, die mich begeistert oder verstört zurück ließen. Barriga hatte damals schon seine zwei ersten Bücher veröffentlicht: El fuego está cortado (Das Feuer ist abgeschnitten) (das mit einer Variation des „make a mask“ von Dylan Thomas anfängt: „Mach mir eine Maske/ denn ich bin einsam und möchte mich noch einsamer fühlen“) und dem sehr kurzen Aforismos desaforados (Rabiate Aphorismen).

Aus einer Dorflehrerfamilie stammend waren Bücher seit seiner Kindheit Teil seines Lebens gewesen und nachdem er zwei Familien aufgebaut und wieder demontiert hatte, zog er sich hinter die Maske des Berufs zurück, den er mit vielen Jobs (in Tarija, La Paz, Salta und Mendoza) vor sich her geschoben hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon ein drittes Buch fertig gestellt, Versos perversos (Perverse Verse) (eigentlich so lang wie drei Bücher), das geradezu niederschmetternd kühl war (so wie ein Schatten in einer sehr dunklen Ecke). Eine Art Tagebuch seiner Unruhe („allein ich schicke mir/ dringliche Briefe an mich selbst“). Es interessierte ihn nicht, das Buch zu veröffentlichen, und es dauerte noch zehn Jahre, bis andere davon erfahren durften, was wir längst schon wussten. Sein variationsreicher Stil hatte eine Tendenz zum Erzählerischen, zwischen Barockem und mündlichen Straßenjargon, war wirr durch falsche oder aus dem Kontext gerissene Zitate und er bediente sich ohne Unterschied der „Hochkultur“ wie der Massenmedien. In diesen Gedichten sprach er von seiner permanenten Beklemmung, von seinen Freunden, von seinem Fahrrad, von Städten, die sich ihm ins Mark gebrannt hatten, von seinem Viertel, von der Einsamkeit, von der ewigen Gegenwart des Alkohols. Dank dieser Gedichte wuchs sein fast geheimer Ruhm (für mich gehört er zusammen mit Humberto Quino und Juan Cristóbal MacLean zu den drei besten lebenden bolivianischen Lyrikern). Außerdem hatte er dieses unnachgiebige ethische Credo „wie ein Dichter zu leben“ (ein Drang, das irdische Dasein intensiv und zuneigungslos zu leben, mit der gewaltvollen Passivität eines Bartleby), das eine performative Stütze des geschriebenen Werks zu sein schien. Ein Typ, der sich vor allem für das gerade aus der Mode gekommene interessiert (derzeit, beispielsweise, die Disketten) und der zu einer extrem pessimistischen Skepsis in der Lage ist („ich bin dazu verdammt, eine geschmacklose Existenz zu verlängern/ bis zum Ende seiner sich wiederholenden Momente“) und auch dazu, sich dreist über alles lustig zu machen, besonders über sich selbst („Was würde ich machen, wenn ich Gott wäre?: Abdanken“) Ein Typ, der in die Pedale tritt, um vor dem Horror zu fliehen und der aus der größten Tiefe seiner persönlichen Finsternis Funken von Klarheit hervorholt („Ich bin ein Zentaur der Einsamkeit/ und die Brillengläser der Landstraße, Ramón“).

Aus dieser Illusion einer geteilten Vergangenheit, die die Freundschaft schafft, habe ich 2008 sein Buch Cuaderno de Sombra (Heft des Schattens) verlegt, in welchem er den Ton ändert, indem er die Stimme eines befreundeten Dichters, Roberto Echazú, annimmt, der gerade gestorben war. Das, was Bloom Apofraden nennen würde. In diesem rigorosen Trauerbuch, unterhält sich Barriga mit sich selbst aber auch mit Roberto, mit dem er den Beruf, den Alkohol und die Vorliebe für das Erhellen der dunklen Seite der nahen Dinge teilte. Ich habe dabei nicht nur ein paar zentrale Grundsätze im Verlegen von Büchern gelernt, sondern bin auch mit einer bestimmten Art und Weise des in der Welt seins in Kontakt gekommen: sein eigenes Schicksal anzunehmen. Barriga hat, wie ein verschwiegener Mönch, schon zu vielen Dingen Lebwohl gesagt und Hallo! zum Tod. Vor einer Woche habe ich ihn gesehen und er sieht aus wie immer, er lebt weiterhin nach seinem eigenen Kodex und zu diesem Zeitpunkt wird er sich nicht mehr ändern, zum Glück.

Übersetzung: Anne Becker

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Globusse, Balkane und Literatur http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/espanol-globos-balcanes-y-literatura/ Mon, 27 Sep 2010 15:01:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2230 Wir waren 18 Jahre alt, ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende entgegen und ich und mein Freund Boris suchten wie Drogensüchtige nach Büchern. Da es in unserer Stadt keine Buchhandlungen (bzw. eine mit geringer Auswahl) gab, konzentrierten wir unsere Suche auf die Bücherregale unserer Verwandten und Freunde: Wir fragten nach, liehen Bücher aus oder klauten welche (aus den Bibliotheken, die durch Einschränkungen, schlechten Geschmack und Betriebsroutine verwaist waren). Es war uns egal; wir machten Gebrauch, von dem, was wir fanden: Wir waren glücklich in unserer Beschränkung. Das Lesen hielt uns an, immer mehr zu lesen, ohne dass wir sonderlich an die Zukunft oder die Konsequenzen dachten. Eines Tages erreichte uns das Gerücht, dass Herr Soundso angeblich die gesammelten Werke von Jorge Luis Borges in der Emecé-Ausgabe von 1979 besaß. Nachdem wir die ungefähre Adresse des besagten Besitzers ermittelt hatten, fuhren wir auf Boris’ schrottreifen Motorrad los und klingelten zwischen zwei Straßen an jeder Haustür, bis wir an die richtige Tür gelangten. Ein Typ, den wir noch nie gesehen hatten, öffnete uns die Tür, verschwand nach einer kurzen Erklärung von Boris wieder in der Wohnung und kam mit besagter Ausgabe in grünem Einband wieder. Wir fuhren sofort zum Kopierladen und brachten ihm nach einer Stunde sein Buch zurück. Dass es keine Bücher gab (heute gibt es auch nicht viel mehr als damals), schien mir auch ein Symptom des spießigen und obskuren Angestelltenprofils in der Stadtverwaltung: Es ist schließlich leichter, jemanden zu beherrschen, der uninformiert ist oder nicht weiß, was er mit Informationen anfangen soll.

Uns war die Welt damals weit und fremd, auch wenn dies gerade dabei war, sich zu ändern. Wir sollten bald dazu gezwungen werden, unsere Antennen vom analogischen auf das digitale Modell umzustellen. Ein Jahr bevor das 20. Jahrhundert zu Ende ging, konnten wir schon Zeitungen und Magazine im Internet lesen, die vorher für uns nirgends zugänglich gewesen und in unserem monothematischen Zirkel mythischen Status genossen hatten: Mit einem Klick fühlten wir uns selbst gegenüber nun wahrhaft zeitgenössisch. Aber in der „Realität“ zirkulierten weiterhin sehr wenige Bücher und der Klang der „Realität“ hatte mehr Akkorde in Moll denn in Dur: übertrieben hohe Buchpreise bei Lumpengehältern, deren Kaufkraft jeden Tag abnahm, Geringschätzung der Rolle der Literatur, das Aufkommen multinationaler Konsortien, die sich anschickten, unsere „Nationalliteratur“ zu umsäumen (indem sie tendenziöse Debatten führten, Autoren und Werke ignorierten, den Dialog zwischen literarischen und linguistischen Traditionen, die sich nicht um ihr mittelmäßiges Kriterium der nationalen Grenzen scheren, nicht berücksichtigten, indem sie Schulbuchtexte herausbrachten, in denen der Sinn der Literatur in der erzieherischen Funktion verloren ging etc.). Die von diesen Konsortien geförderte „Nationalliteratur“ war in vielen Fällen nichts als ein ideologischer Pakt zwischen einer Öffentlichkeit (die diese teuren Bücher kaufen und die Lektüre dieser klassistischen Bücher genießen konnte) und einem Autoren (der oftmals aus eben dieser sehr begrenzten Öffentlichkeit stammte). Viele Aspekte haben diesen perversen Effekt zu unterminieren begonnen, unter anderem der Zugang zu Literatur über das Internet.

Auch wenn es hier keine Buchhandlungen gibt, die an Supermärkte erinnern, in denen Bücher wie Waren mit einem Verfallsdatum verkauft werden (wodurch viele wertvolle Bücher in Vergessenheit geraten), so verharren wir doch in der Position eines kulturellen Flohmarkts, auf den nur die Abfallprodukte und Überschüsse der großen Märkte gelangen. Das, was einige Autoren (unter anderen Piglia und Link) die „Balkanisierung“ der lateinamerikanischen Literatur nennen. Ramsch wie Selbsthilfeliteratur, miserable Übersetzungen von Klassikern, unechte Bestseller, aber fast nie jene Werke, die unsere (gemeinsame, aber unendlich vielseitige) Sprache transformieren und erweitern, die unser Verständnis davon, was es heißt, Lateinamerikaner zu sein, verändern, die den Kanon reformieren etc. Solange das so bleibt, werden wir dank des Internets – mit all seinen Begrenzungen und unseren Illusionen, mit Geduld, aber auch mit Zorn – weiter Widerstand leisten. Seiten aus Sandstein, die ich mit meinem Freund Boris weiter verschlingen werde. So einfach geben wir nicht auf.

Übersetzung: Anne Becker

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Leben in der Fremde http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-vivir-afuera/ Mon, 13 Sep 2010 07:04:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1867 In letzter Zeit denke ich darüber nach, fortzugehen und mich den fast drei Millionen Bolivianern im Ausland anzuschließen (obgleich diese Ziffer offiziell nicht bestätigt ist). Für andere Länder wäre das keine bedeutsame Größenordnung, aber für Bolivien, das innerhalb der Landesgrenzen circa 10 Millionen Einwohner hat,  ist diese Zahl bolivianischer Migranten der Schwerpunkt wissenschaftlicher Überlegungen, Grund zum Handeln für die Internationale Zusammenarbeit und Gegenstand von Regierungsprogrammen. Die Motive, das Leid und die Routen derjenigen, die migriert sind, weil sie Schulden haben, die aufgrund von Tilgungsverzug und der Zinsen unbezahlbar geworden sind, derjenigen, die weggehen,  weil es hier immer schwieriger wird, Arbeit zu finden oder die Kaufkraft der Gehälter lächerlich ist, derjenigen, die gezwungen sind zu gehen, weil der Boden unfruchtbar geworden ist oder wegen des Klimawandels, derjenigen, die aufbrechen, weil sie es hier nicht mehr aushalten. So verschiedene Städte wie Buenos Aires, Madrid, Washington, Sao Paolo gehören zu den bevorzugten Zielorten der bolivianischen Diaspora. Ich weiß nicht so recht, was mich im Ausland erwarten würde,  aber ich ziehe, genauso wie viele der Ausgewanderten,  diese ferne Ungewissheit des Fremden der Masse von lokalen und vertrauten Unsicherheiten vor. Aber ich weiß, dass ich zurückkommen will, und ich habe schon im Vorhinein Heimweh: Die Beklemmung der Grenzen ergreift mich.

Das Phänomen ist nicht nur komplex und mit einer Reihe anderer sozialer Prozesse transversal verknüpft, es hat auch historische Vorläufer. Migrationsbewegungen sind eine Konstante, deren Richtungen zahlreich waren: von den mitimaes, den Zwangsumsiedelungen während des Inkareiches zu politischen, ökonomischen und territorialen Herrschaftszwecken bis zu den Pionieren gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die still und leise die Netzwerke gesponnen haben, entlang derer heute massenweise Bolivianer leben. Wenigen von ihnen geht es sehr gut, viele andere werden Opfer von Menschenhandel oder leben in sklavenähnlichen Verhältnissen, werden diskriminiert und schlecht behandelt. Hinzu kommen diejenigen, die noch nicht einmal den anvisierten Zielort erreichen, sondern festgenommen und abgeschoben werden. Und die Odyssee all derer, die das Land verlassen haben, weil sie keine Zitronen mehr verkaufen oder betteln wollen und an fremden Orten als anonyme Gespenster enden (neulich hat mir jemand, der vom Land kommt, erzählt, dass er sich im Ausland wie auf einem anderen Planeten gefühlt hat: Es war nicht nur so, dass ihm alles fremd und widrig vorkam, sondern er wurde auch wie ein Außerirdischer behandelt).

Der Exodus wird wohl nicht aufhören, auch wenn die Verschärfung der Grenzkontrollen, die immer restriktivere Einwanderungspolitik des Nordens, wie beispielsweise die Lage in Iowa oder die Rückführungsprogramme deutlich machen, die Situation der Migranten ohne Papiere kriminalisieren (vor allem die Lateinamerikaner und Afrikaner). Diese Situation der Verwundbarkeit und Segregation (zusätzlich zu den Auswirkungen der globalen Rezession) hat inzwischen den Traum der Rückkehrer, die sich gescheitert fühlen, zerstört. Sie hat auch den Traum der Zurückgebliebenen zerstört, die das Leben der anderen in der Ferne erwartungsvoll mit verfolgen (die remesas, die Geldüberweisungen der Migranten stellen eine der Haupteinnahmequellen des Landes dar). Unerwünschte Ausländer: Der universalistische Diskurs der Toleranz wird  von dem kapitalistischen Utilitarismus in sein extremes Gegenteil verkehrt. Bewegung ist ein so unabdingbares Menschenrecht wie Wasser; und Bewegungen einzudämmen zu wollen ist so, als wollte man einen Fluss mit einem Deich aus Sand stoppen.

Aber wir sind an Widrigkeiten und Unglücke gewohnt und wir werden weiterhin gehen (und zurückkommen). In letzter Zeit sind wir sogar optimistisch. Wir haben gar angefangen, die Mythen zu überprüfen, die uns manchmal das Atmen schwer machten: Wir sind nicht so traurig und auch nicht so mediterran und auch nicht so selbstzentriert. Außerdem können wir an jedem Ort ein Stück der imaginären Gemeinschaft (mit Musik, Bildern, Essen oder einer Unterhaltung) reproduzieren – wie eine Projektion eines Familienhologramms. Wir ziehen schweigsam los, so als würden wir die Welt einnehmen wollen, mit einem ají (Chilischote) in der Jackentasche. Lass uns los gehen. Schweigen, Exil, List.

Übersetzung: Anne Becker

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Leiser Komplott http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/#comments Fri, 27 Aug 2010 15:47:39 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1313
Ich praktiziere einen einsamen Aktivismus: Ich treffe mich mit anderen, um Bücher zu verlegen. Getrieben von der unschuldigen Perversion, das Buch als ein quasi magisches Objekt zu betrachten, habe ich mich mit ein paar weiteren Personen fast aus Zufall zusammengetan und damit begonnen, der Kulturindustrie ein wenig von dem verdorbenen, verführerischen Aberglauben zurückzugeben, der uns in unserer Kindheit eingeimpft wurde. Leute mit unterschiedlichen ästhetischen Auffassungen, verschiedenen Geschmäckern und Lektüren, die sich in einem unbesiegbaren literarischen Kampfgeist vereinen. Ein Miniaturheer, das bereit ist, aufs Ganze zu gehen, ohne viel zu erwarten. Alles wegen eines Objekts aus Papier.

Dieses scheinbar bedeutungslose Ding, das Buch heißt, ist für mich (und für die halbwegs verrückte Truppe) von großer Bedeutung. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die glaubt, dass man durch die Lektüre eines Buch jede Erfahrung vorweg machen kann: vom Bau einer Bombe bis zu den unergründlichen Mysterien der Liebe über den Fischfang und die Entdeckung von bisher unbekannten Orten in einem selbst. Ich habe mich für alle möglichen Verrichtungen der Bücher bedient, einschließlich für den Gesetzesbruch (klar, Bücher habe ich auch geklaut, was für eine Frage). Der Einfluss, den die Lektüre eines Buches auf das Leben von jemanden haben kann, ist unermesslich: Ich habe die rebellische Seite der Politik durch underground fanzines entdeckt, die ich in meiner Jugend in den 90ern (des vergangenen Jahrhunderts!) gelesen habe. Für mich charakterisiert das Prä-Internet, das Netz unplugged, jene Epoche des Austauschs und der Entdeckungen. Seit damals habe ich begonnen, an dem zu zweifeln, was für normal oder natürlich gehalten wird, seit damals habe ich das Gefühl, dass alles einen anderen Sinn hat.

In einem Land, in dem die Analphabetenrate extrem hoch ist (man muss abwarten, wie die jetzige Alphabetisierungskampagne vorankommt), das intellektuelle Leben wenig Tradition hat und für die große Mehrheit der Bevölkerung Bücher unerschwinglich sind, haben mich in meiner Arbeit drei Personen sehr inspiriert: Franco (ein reiselustiger Anarchist, der in einer Stadt ohne Buchläden Raubkopien von Klassikern und avantgardistischer Literatur anfertigte), Marcelo (jemand, der auf die harte Tour lernen musste, dass nicht nur „das Schöne“ zählt, sondern auch so prosaische Dinge wie der Markt) und Alison (eine promovierte Anthropologin mit einem exquisiten, freakigen Literaturgeschmack, die ihre eigenen Werke verlegt hat  – und die zu den besten meines Landes gehören – und die von weiteren mit Feder und Faust zur Randexistenz Verdammten). Von Nahem zu sehen, wie diese drei durch Widrigkeiten hindurch surften, brachte mich dazu, meinen eigenen Weg in der Welt der Verlage einzuschlagen. Eine Welt, in der die Autoren sich über den Mangel an Aufmerksamkeit und Privilegien seitens der Verleger und über die geringe Anzahl guter Lektoren und scharfsinniger Kritiker beklagen, eine Welt, in der die Verleger sich über den nachlässigen Umgang der Grafiker mit der Rechtschreibung und über die schonungslose Logik des Größenvorteils der Druckereien beschweren, eine Welt, in der die Drucker über die Schikanen der Papierlieferanten jammern, etc. Anstatt in diesem Beschwerdezirkel zu verbleiben, beschlossen wir, unsere Kontingenz mit Hoffnung und Dankbarkeit anzunehmen.

Im Mai 2008 habe ich mich mit anderen zusammen geschlossen, um unseren Narzissmen großzügiger zu dienen und Bücher zu verlegen (bisher ein Gedichtsband, drei Bücher mit Erzählungen und eine Anthologie lateinamerikanischer Literatur) und ein Blog zu betreiben, mit dem Ziel den Prozess zu rationalisieren. Wir wollen einen fehlerlosen und repräsentativen Katalog schaffen: Wir bewundern alle den Fetisch des „Neuen“. Manchmal ist es sehr schwer, und wir haben das Gefühl, alles sei verloren. Aber dann erinnern wir uns wieder daran, dass wir unser Schicksal auf uns nehmen. Wenn es einfach wäre, wäre es witzlos.

Übersetzung: Anne Becker

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Körperstücke http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-pedazos-de-cuerpo/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-pedazos-de-cuerpo/#comments Fri, 13 Aug 2010 08:02:21 +0000 http://superdemokraticos.com/espanol-pedazos-de-cuerpo/ Ich verstehe meinen Körper nicht immer. In meiner Jugend habe ich den traumatischen Veränderungen, die meinen Körper – ohne Vorankündigung und ohne mein Einverständnis – in ein mysteriöses Wesen verwandelten, welches ich nicht zu kontrollieren vermochte, fast meine ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Es geschahen auch andere, nicht sichtbare Veränderungen, aber diese beachtete ich kaum. Dann erwachte in mir eines Tages nach so viel Terror die Hoffnung, dass die Veränderungen irgendwann aufhören würden und mein dünner Körper sich ein einen athletischen Körper transformieren würde. Ich warte immer noch.

*

Als ich entdeckte, dass auch mein Körper ein Ausdrucksort war, begann ich, ihn mit simplen Prothesen abzuändern und neu zu kleiden, um auf diese Weise Dinge auszudrücken, die ich mich nicht zu sagen traute. Vor allem aber machte ich aus meinem Körper einen Tempel, den ich der Verehrung der Jugend widmete (Ferdydurke ist mein Held). Aber der Körper ist eine eigensinnige Uhr, und die Spiegel lügen nicht.

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Ein tief liegendes Brustbein, sehr dünne Beine, die Nase eines Boxers, eine geteilte Stirn, zu lange Arme, zahlreiche Leberflecken und Narben. Ein klitzekleiner, alles andere als perfekter Raum, in dem ich die Gesetze mache.

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Ich wollte den Ratschlag mens sana in corpore sano (gesunder Verstand in gesundem Körper) umkehren. Meinen „Verstand“ kultivieren, um meinen Körper zu perfektionieren. Gehirntraining, das meine Muskeln stärken würde. Mit der Zeit bemerkte ich, dass der Körper seine eigene Sprache spricht und sagt, was er will: Er spricht mit der starken Stimme des Begehrens.

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Verrückte Körper in geistesgestörten Hirnen: Ich sehe Die Fliege von Cronenberg wie eine freie und aktuelle Adaption von Kafkas Verwandlung.

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In dieser dualistischen Welt vermag es niemand, seinen Körper zu überspringen. Gänzlich versteht niemand den eigenen Schauplatz seines Herzschlags, das Territorium seiner Krankheit, sein unkontrollierbares Archiv. Opfer und Täter des Schmerzes und der Lust, Opfer von kollektiven Somatisierungen.

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Cutter, Autopornographen, Transformatoren: Häftlinge im engen Gefängnis des Körpers.

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In der Jugend dachte ich, dass mein Körper eines Tages seinen unveränderlichen und definitiven Zustand erlangen würde. Jetzt weiß ich, dass die Pubertät nie aufhört.

Übersetzung: Anne Becker

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Fragmente der Intimität http://superdemokraticos.com/themen/koerper/espanol-fragmentos-de-intimidad/ Thu, 29 Jul 2010 07:00:27 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=546 Manchmal glaube ich, dass ich meine eigene Intimität verloren habe. Dann nehme ich alles wie auf einem entfernten Bildschirm wahr, und mir scheint es, als lebe ich das Leben von jemand anderem. Eine nervöse Stummheit angesichts einer dringenden Frage. Das Gesicht im Spiegel ist eine neue Maske, mein Name eine vorschnelle Fälschung, meine Freunde und Familie verwandeln sich in unergründliche Wesen und meine Stimme gehorcht einem Unbekannten. Dann bin ich durchsichtig wie ein leeres Glas, und von allem trennt mich eine Wand aus weißem Rauschen. Ich fühle mich so merkwürdig, dass ich vergesse, was Intimität bedeutet.

Nach innen tauchen macht mich traurig.

Seit vier Jahren kann ich keine Fiktion mehr schreiben. Ich kann Chroniken, Essays, Berichte schreiben, aber keine fiktionalen Texte. Ich versuche, die Worte zu erzwingen und erziele Resultate, die mich nicht überzeugen. Habe ich vergessen, was ich sagen wollte? Die Show ist sehr real geworden und etwas hat crack gemacht. So viele Versuche, die persönlichen Spuren zu tilgen und mich in einen Mann ohne Eigenschaften zu verwandeln (war nicht das Ich die größte Fiktion?). Jetzt habe ich keinen Zugang mehr zu der geheimen Stimme, so als gäbe es nichts in meinem Inneren. Ich sehe, wie die anderen ihre Lippen bewegen, ohne etwas zu sagen und bekomme Lust, alleine zu bleiben, um zu versuchen, die geheime Stimme zu vernehmen. Einsamkeit und Stille.

Ich suche in mir drinnen. Begierig, entledige ich mich jeder bunten Maske, so als spielte ich mit einer Matroschka. Ich halte plötzlich inne angesichts der Ungewissheit, was ich finden könnte.

Resigniert, versuche ich wie ein Privatdetektiv die Intimität der anderen zu beobachten: Was denkt mein Bruder, der so wenig redet und ein geborener Einzelgänger ist; welche Form hat die Seele meiner Freundin, was tut ihr weh, was macht sie glücklich, was verbirgt sich hinter all den Schleiern, die mich verführen, welche Linien zeichnen diese letzte Falte, wo es keine Wörter gibt? Ich finde Fährten, die wie ein Blatt aus Sand zwischen meinen Fingern zerrieseln, sobald ich mich ihnen zuwende, um sie zu lesen.

Ich sehe im Innersten meiner Generation die Angst, nicht mehr jung zu sein, tätowiert. Angst davor, sich in Menschen zu verwandeln, die das Schlimmste als natürlich akzeptieren und die glauben, dass alle sich daran gewöhnen sollten. Älter werden wie die Signatur des Feindes. So als sei das Erwachsensein die letzte Kapitulation, so als sei die Verwandlung in die Eltern schlimmer als die Verwandlung von Samsa. Oder vielleicht ist das nur eine Projektion meiner eigenen partikularen Sorgen.

In der Tiefe meiner selbst bewahre ich ein Fotoalbum in Bewegung auf, die Schatten von zwei Freunden, die unsichtbar geworden sind, das Schwert des Vaterlands meiner Kindheit, ein Hund, der unter einem Baum schläft, der gutmütige Blick meines Großvaters Tomás, der mir Lesen beibrachte, eine Pille gegen den Sonntagsspleen, ein Pflasterstein einer Straße, die es nicht mehr gibt, ein paar Verse, die ständig ihre Bedeutung ändern, ein Taschentuch, mit dem ich jedes Mal winke, wenn ich Aufwiedersehen sage, eine Faust voll gealteter lauter Musikstücke, eine schwarze Gitarre, ein paar Versprechen. Nachdem ich ein Labyrinth durchquere, gelange ich zum intimen Archiv meiner Erinnerungen.

Sie kommt an, wir reden ein wenig und ziehen uns dann aus. Zur Abwechslung ist es mal kalt, aber die Körper erwärmen sich gegenseitig bis die Temperaturen sich vermischen. Ein Körper, der zuvor unbekannt war, strahlt jetzt die vertraute Illusion der Komplizenschaft aus. Ich hoffe, dass sie sich fühlt – wie ich jetzt, so wohlig wie das Hologramm von der Erfindung von Morel, der sich mit dem Wohlgefühl desjenigen bewegt, der sich nicht beobachtet fühlt. Ich vergesse für einen Moment, dass ich alles durch den Filter des Bewusstseins registriere, ich vergesse das Melodrama der Identität, die Unwegbarkeiten der sozialen Reproduktion, die updates des Superegos, die Politik. Ich atme ruhig und innig mit mir selbst. Zwischen Zizek und einem nackten Mädchen spricht die geheime Stimme.

Übersetzung: Anne Becker

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Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

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Lektionen des Vergessens http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/lektionen-des-vergessens/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/lektionen-des-vergessens/#comments Thu, 01 Jul 2010 09:30:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=409

cuadro del pintor Arturo Borda

Als ich acht Jahre alt war, erzählte uns ein Lehrer im Geschichtsunterricht von dem Pazifikkrieg. Zuhause hatten sie mir schon das Wesentliche erzählt: 1879 hatte Bolivien seinen Zugang zum Meer verloren. Unser Lehrer sah schon tief betrübt aus, bevor er überhaupt zu reden anfing. Zu Beginn der Stunde malte er ein Bild an die Tafel, so als wolle er die Spannung erhöhen. Ich erinnere mich nicht mehr an seine Einleitung (manche Bereiche der kindlichen Erinnerung sind von Nebel umwoben), aber die Erzählung begann damit, dass Chile uns wegen unserer Bodenschätze (Guano und Salpeter) den Krieg erklärte. Sie liegen in einem Gebiet (welches, so betonte der Lehrer mit Nachdruck, schon immer zu uns gehört habe), dessen Grenzverlauf über Jahre hinweg umstritten war.

Da gerade Karneval war, wurde die Kriegserklärung auf die leichte Schulter genommen, um das Fest in Frieden zu Ende zu feiern. Als die chilenischen Truppen kurz davor waren, die Stadt Calama einzunehmen, stellte sich ihnen ein bolivianischer Bewohner des umkämpften Gebiets, der ein improvisiertes, dem Feind klar unterlegenes Heer kommandierte, entgegen. Der Held mit ausladendem Bart hieß Eduardo Abaroa. Abaroa und seine Leute leisteten erbitterten Widerstand trotz der Unterlegenheit, sagte der Lehrer. Als nur noch er übrig geblieben war (alle anderen waren tot oder gefangen genommen), feuerte er weiter Schüsse ab, bis er von chilenischen Soldaten umringt wurde, die – voller Bewunderung für seine heldenhafte Standhaftigkeit – die Waffen auf ihn richteten und ihn aufforderten, sich zu ergeben. Auf den Befehl „Ergeben Sie sich!“ von dem chilenischen Kommandeur, habe Abaroa erwidert: „Ich, mich ergeben? Soll sich doch verdammt nochmal Ihre Großmutter ergeben!“ Im Laufe einer zaghaften, den Krieg verlängernden bolivianischen Verteidigung, wurden die Bolivianer schließlich – rasend schnell und nun ohne aufopferungswillige Helden – geschlagen. Seitdem haben wir keinen Meereszugang mehr und sind deshalb arm. All das sagte jener von mir fast vergessene Geschichtslehrer, der seine Traurigkeit schon an uns weitergegeben hatte, und selbstsicher wiederholte, was er als Schüler gelernt hatte.

Jahre später (auch in Hörsälen, aber dieses Mal aus eigener Entscheidung) würde ich lernen, dass alles komplizierter gewesen ist. Dass es sich beim Pazifikkrieg nicht nur um einen weiteren Krieg (an dem später auch Peru teilnahm) zwischen zwei Ländern, sondern um einen „Streit um den Überschuss“ gehandelt hatte, der von ausschließlich kommerziellen Interessen angekurbelt worden war, eine weitere blutige Schlacht, die von dem seelenlosen Geist des Kapitalismus ausgelöst wurde. Dass die herrschende Klasse, die seit Generationen den Staatsapparat unter sich aufteilte und weiter vererbte (und das noch fast weitere 100 Jahre lang so machen würde), das noch amorphe Land als ihr Familienerbe auffasste und Gebiete gering schätzte, die sich weitab von ihrem Herrschaftszentrum befanden, welches sich auf die Diskriminierung und Ignoranz gegenüber der indigenen Bevölkerung gründete. Dass diese Gebiete sich selbst überlassen wurden und die Herrschenden sich nicht die Konsequenzen dieser Amputation ausgemalt hatten. Dass mit dem Verlust der Küste eine erfolgreiche, aus der Zeit vor der Eroberung stammende Logik der räumlichen Organisation und Nutzung, die transversale Kontrolle mehrerer ökologischer Kreisläufe, zerstört wurde, was sich als ein ebenso schwerwiegendes Problem herausstellte, wie das Unvermögen, mit der Welt Handel zu treiben oder mit großer Verspätung in die Moderne einzutreten. Dass das Ressentiment gegen Chile eine weitere Fiktion des Nationalismus der Revolution von 1952 ist. Dass der Pazifikkrieg der Gründungsmythos der nationalen Schmach ist, der Beginn unserer Tradition als Gescheiterte, das Stigma des Unglücks. Dass alle Geschichte für politische Zwecke – zum Guten oder zum Schlechten – das Vergangene manipuliert. Dass uns die Selbstbeobachtung über so lange Zeit hinweg traurig und solipsistisch gestimmt hat. Dass uns manchmal die Kenntnis der Geschichte nicht nur nicht davor bewahrt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, sondern uns auch daran hindert, uns aus unserer Gegenwart zu befreien.

Aber die Zeit ist auch unsere Lehrerin. Heute wissen wir, dass man nicht nur auf die Rekonstruktion der Vergangenheit zurückgreifen soll, um ein nationales Bewusstsein auszubilden oder uns minderwertig zu fühlen, dass aber auch der Rückgriff auf die Vergangenheit nicht ausreicht, um Utopien zu kreieren. Aus diesem Grund darf man nicht aufhören, Schiffe zu bauen.

Übersetzung: Anne Becker

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Sich lustig machen über Pilatus http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/ http://superdemokraticos.com/poetologie/sich-lustig-machen-uber-pilatus/#comments Thu, 17 Jun 2010 17:20:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=268 Er heißt Fernando Barrientos, aber fast alle nennen ihn flaco, den Dünnen. Er wurde 1977 während des Karnevals geboren, just zu dem Zeitpunkt, als das Farbfernsehen nach Tarija kam und diesen Ort in noch ein telenoveleskeres Dorf verwandelte. Er glaubt, sich genau an den Moment zu erinnern, als von ihm im Alter von vier Jahren ein Foto gemacht wurde, das bis heute im Haus seiner Eltern vergrößert an der Wand hängt, und in Originalgröße seinen Kinderreisepass schmückt. 1986, kurz vor dem Morgengrauen eines merkwürdigen Tages, sah er den Kometen Halley vorbeifliegen. Als er zwölf Jahre alt war, kaufte er sich seine ersten Schallplatten und wurde ein Fan der Gewalt in der Musik. Nachdem er mit 18 Jahren seinem dogmatisch-militanten Dasein in der bedeutungslosen Heavy-Metall-Szene abgeschworen hatte, das ihm fast die Stimmbänder gekostet hätte, irrte er ein wenig unsicher umher, auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit, seine Gangster-Energie zu entladen.

Aus Neugierde für den Rauch, der aus einer Bruchbude mit unleserlichem Klingelschild stieß, lernte er ein Paar exzentrische Personen kennen, die ihn sogleich adoptierten. Doch kurz darauf floh er zum Soziologiestudium nach La Paz und befreite sich so für eine kurze Weile von ihnen. Im Jahr 2000, so als hätte ihn der Y2K Millenium-Effekt getroffen, stürzte er in eine neue Krise. Er verbarrikadierte sich zum Lesen, brachte die Zeit durcheinander und begann, ein paar kurze Texte zu schreiben, die in den Anthologien „Memoria de lo que vendrá“ (Erinnerung an das, was kommt), „Conductas erráticas“ (Irrige Verhaltensweisen) und anderen Sammelbänden, Magazinen und Zeitungen erschienen. In der dritten Person Singular zu sprechen, ist für ihn eine Art Therapie.

Er hat all seine Eigenschaften und Fehler einer Prüfung unterzogen und zieht es derzeit vor, leichterdings durchs Leben zu gehen. Eine andere, unverhofftere Metamorphose machte ihn 2008 zum Verleger (eine Tätigkeit, bei der man nichts verdient, aber die man genießt) des Verlags „El Cuervo“ (der Rabe). Er brüstet sich wie ein Pfau mit den ersten drei von ihm verlegten Büchern: „Cuaderno de Sombra“ (Heft des Schattens) von Julio Barriga; „Diario“ (Tagebuch) von Maximiliano Barrientos und „Vacaciones permanentes“ (Permanente Ferien) von Liliana Colanzi. Er ist verliebt in Miss Thailand. Dieses Jahr hat er vor, noch drei weitere Bücher zu verlegen und sich über Pilatus lustig zu machen.

Übersetzung: Anne Becker

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