Alan Mills – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Das transtemporäre Schawarma http://superdemokraticos.com/laender/guatemala/das-transtemporare-schawarma/ Fri, 23 Sep 2011 06:29:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5099 In jener kleinen Straße in Kreuzberg gibt es einen ganz besonderen Schawarma-Laden. Ich werde euch die genaue Adresse nicht verraten, denn es ist einfacher sich der Entropie hinzugeben und einfach auf ihn zu stoßen.

Genau so habe ich ihn gefunden, aus blindem Zufall, nachdem ich drei Stunden lang verloren durch Berlin irrte und versuchte die Bibliothek des Iberoamerikanischen Instituts zu finden. Ich wollte dort ein bisschen über Zeitreisende nachlesen und in einigen brasilianischen Chroniken des deutschen Expeditionsteilnehmers Hans Staden recherchieren, aber schlussendlich besiegte mich am Ende der Hunger und die Verzweiflung, darum betrat ich den kleinen Schawarma-Laden.

Ich bestellte mir zwei.

Sehr lecker das erste Sandwich. Und dann das zweite, irgendetwas mussten sie mir hineingemischt haben, denn auf einen Schlag verstand ich, dass der Drehspieß, auf dem das Fleisch seine Runden drehte, in Wahrheit eine Vorrichtung sui generis ist, welche dimensionale Sprünge von Personen aus verschiedenen Zeiten und Orten ermöglicht. Ich schwöre, genau so ist es. Warum sollte ich euch auch anlügen? Das ist ein Artikel und keine Fiktion. Jedenfalls sah ich, während ich auf einem saftigen Stück Lammfleisch kaute, wie vor diesem Drehspieß ein Kubaner erschien, oder er erschien mir eben als solcher, dunkelhäutig, gekleidet genau wie ein Galan der 1950er, in Begleitung von drei Frauen, herausgeputzt für den Karneval von Rio.

Der Kubaner und seine Begleiterinnen erstrahlten im Glanz der Aale in Gewässern der Dunkelheit. Sie begannen Hegels Dialektik zu diskutieren und hauten sich gleichzeitig gegenseitig auf den Hintern. Sie sprachen perfektes Englisch und schienen wirklich aus einer anderen Zeit zu sein, denn mit keinem Wort erwähnten sie Fidel Castro. Das fand ich sehr gut. Cha Cha Chá: Der Drehspieß war ein einziger Lichtstrahl.

Nach kurzer Zeit sah ich ein neues Funkeln aufleuchten … ein Gesicht zeichnete sich ab, wie ein außerirdisches Poster an der Wand eines Teenager-Zimmers. Es war eine Albino-Frau. Ich würde sie ja blond nennen, aber das Wort würde ihr nicht gerecht werden. Weiß, wie die weiße Magie des Milchpulvers. Ihre Gesichtszüge hingegen waren die eines Menschen mit indio-amerikanischen Wurzeln. Aztekin, vielleicht. Das auffälligste an ihr war aber, dass sie einen Huipil, einen traditionellen Umhang aus präkolumbischer Zeit trug, mit all den typischen Färbungen, aber mit einem sehr modernen Hoody integriert als schillernden Federbusch. Sie sah mir direkt in die Augen und vermittelte mir ein telepathisches Wissen, das mich zum Weinen brachte. Die anderen Gäste dachten, meine Tränen rührten daher, dass ich zu viel Chili in meine Tacos getan habe.

Ich ging auf die Toilette und kam nach wenigen Minuten zurück.

Der Nächste, der erschien, war Muammar al-Gaddafi. Oder jemand, der ihm wirklich sehr ähnlich sah, etwa 15 Jahre älter. Ein Klon, der aus der Zukunft kam? Genauso gruselig und grausam, er wand er sich in einer Sprache an mich, von der ich annahm, dass es Griechisch sei: „Was guckst du, blöder Hund?“, keifte er. Und ich verstand es. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass er mir keine Angst gemacht hat, aber anstatt zurückzuschrecken konterte ich mit einer heftigen, politischen Tirade, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere und die den libyschen Führer nicht einmal mit der Wimper zucken ließ. Er ging einfach weiter, sein Schawarma kauend, mit einer Afri Cola in der Hand.

Während ich verdaute, wurde mir bewusst: Das ist mein Berlin.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Bertolt Brecht Roadkill (Berliner Chronik in 6 Akten) http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/bertolt-brecht-roadkill-berliner-chronik-in-6-akten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/bertolt-brecht-roadkill-berliner-chronik-in-6-akten/#comments Mon, 29 Nov 2010 10:59:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3245

1. Berlín, Pulquería

Vor ein paar Wochen lud mich Nikola Richter in ihre schöne Kreuzberger Wohnung zum Essen ein. Niko ist eine junge deutsche Frau, die, abgesehen davon, dass sie eine exzellente Schriftstellerin ist, Jazzgeige lernt und verschiedene kulturelle Projekte mit der Geschicklichkeit einer Logos-Athletin leitet.

Bevor wir uns an jenem Abend an den Tisch setzten, sagte ich zu ihr, dass Berlin sich – mit der Geschwindigkeit und der Gewalt eines Blitzes – in das Hätschelkind des Parnass meiner Lieblingsorte verwandelt hatte. Möglicherweise erschien Nikola diese Behauptung etwas frühreif, aber sie akzeptierte sie mit einem Lächeln, während sie die Zucchini in die vorgefettete Pfanne legte.

Die Nudeln waren ausgezeichnet, fast so gut wie das Gespräch. Wir haben über alles Mögliche geredet, von alternativen argentinischen Verlagen (wie Clase Turista) bis hin zu den intimen und aufschlussreichen Eindrücken, welche die verschiedenen Mitwirkenden von „Los Superdemokraticos“ bei uns hinterließen. Ja, ich stimme Luis Felipe Fabre zu: Es gibt nichts Schmackhafteres als literarische Gerüchte, so gingen wir ohne die Last des Gewissens zum Vergnügen über.

Die Nacht davor haben wir den ein oder anderen Mezcal in der „Pulquería“ Kreuzbergs getrunken, gegenüber vom Görlitzer Park. Ich hatte gerade eine fast 20stündige Reise hinter mir, mit Zwischenlandungen und Flughafen-Wartezeiten, aber ich beschloss, mich der lustigen Truppe anzuschließen und mich vor dem Schlafengehen zu betrinken. Das könnte ich gleich nutzen, so dachte ich, um allen das Amulett, das ich vor ein paar Wochen in Buenos Aires erstanden habe, zu zeigen: einen Plastik-Gorilla, der aus dem Mund Feuer spuckt und seinen Blick mit Infrarot-Licht entzündet.

Es war die totale Freude, als ich meinen neuen Freunden ihre Gauloises damit anmachte… Alle zeigten sich vom Feuer des magischen Affen in den Bann gezogen. Vor allem ein Mädchen, Aline-Sophia, die auch in Delfine verliebt ist.

2. Lucullus, der Prozess

Beim Schreiben vollziehe ich ein Crossover. Ich gehe von einer Sprache in eine andere über. Ich bin ein Geschichtenerzähler, der von seinen Lügen bis zum Text reist.

Auf der Seite sehe ich wie das, was ich vorher erfunden habe, stirbt. Und dieser Kadaver ist es, den einige Literatur nennen.

Wenn ich gefragt werde, warum ich zu schreiben begann, habe ich zwei, oder sogar drei Geschichten als Antwort parat. Es kommt darauf an, ob ich in einer Bar oder in einer Buchhandlung bin. Oder ob mich ein Journalist fragt. Ich wähle die Geschichte je nach meinem Umfeld und meiner momentanen Stimmung aus.

Der Ausgangspunkt für meine Liebe zur Poesie, so erzähle ich Nikola, während ich meine Gabel in der Zucchini-Pasta versenke, lag in einer Oper in gebundener Rede: „El proceso de Lúculo“ von Bertolt Brecht.

Mit 17 spielte ich als einer der Schauspieler das besagte Stück mit der Theatergruppe der Schule. Meine Rolle war die des „Schattens“, der mit fahler Stimme das Gewissen des römischen Generals Lucullus anklagt, der kurz davor steht in der Intra-Welt verurteilt zu werden. Die fahle Stimme, der Schatten, geschminkt im Stil von Brandon Lee in The Crow (Die Krähe), erklärt dem Publikum das Ausmaß des Schadens, den der Diktator seinem Volk zugefügt hatte. Die Figur spricht auf eine metaphorische Weise, elliptisch, und entfaltet eine dichte Aura des Mysteriums, während die anderen Figuren, die Mitglieder des intraweltlichen Gerichts, sich von einem triumphalen Fries lösen.

Es ist sehr witzig, sehr seltsam, aber niemand von meinen Bekannten hat jemals dieses Stück von Brecht gelesen. Nichtmal die Brechtischsten unter den Brechtischen. Es hat sogar schon mal jemand mir gegenüber angedeutet, dass die Regisseurin der schulischen Theatergruppe möglicherweise den Autor verwechselt hat und wir schlussendlich das Stück eines anderen inszeniert hätten. Eine befreundete Schauspielerin, die etwas dreister, skeptischer und misstrauischer ist, sagte zu mir, dass es sich unter Umständen um eine Farce handelte, etwas, das ja in der Welt des Theaters gar nicht so ungewöhnlich ist: ein Werk, das von genau der Regisseurin verfasst wurde, die zu uns aus einer seltsamen Mischung aus Schüchternheit, Opportunismus und Scham meinte, dass das Stück von Brecht sei.

Ich erinnere mich daran in den letzten Jahren öfter Google-Suchen gestartet zu haben, alle vergeblich. Ich gab „El proceso de Lucullo“ ein – nichts, kein einziges Ergebnis… Manchmal habe ich „El proceso de Lucuyo“ eingegeben und die Leere wurde noch unermesslicher. Es kam sogar so weit, dass ich dachte, das Stück hätte in Wahrheit nie existiert und mein Kopf habe es nur erfunden, um dem Moment meiner Initiation in die Kunst einen würdevollen Ursprung zu verschaffen. Nikola war von der Geschichte fasziniert und schlug mir vor das Brecht-Haus und sein Grab, das sich auf dem Friedhof genau gegenüber von seinem Wohnhaus, in der Chausseestrasse, befindet, zu besuchen. Mit Begeisterung antwortete ich ihr: Ja, das müssen wir machen, sobald es geht, dorthin gehen, fragen, Fotos machen, und es dazu nutzen, dass ich eine Chronik über die Suche nach diesem unbekannten Brecht-Stück schreiben könne.

Das wäre ein perfekter Text für Los Superdemokraticos!

3. Fotos im Görlitzer Park

Am Morgen des 12. November 2010, einem Freitag, hatte ich einen Termin mit dem Fotografen Ekko von Schwichow, im Görlitzer Park, zu einer Fotosession.

Die Nacht davor hatte ich meine Lesung auf der Latinale. Ich las verschiedene Gedichte, wahrscheinlich nicht diejenigen, die ich bevorzuge, aber ich kam mit einem blauen Auge davon. Obwohl ich eigentlich ein „alter Hase“ bei öffentlichen Lesungen bin, war ich diesmal wesentlich nervöser als sonst und brachte sogar die Reihenfolge der Seiten, von denen ich las, durcheinander, was mich dazu zwang, das Lesen meines wohl besten Gedichtes zu unterbrechen. Ich musste die Veranstaltung vor einem erwartungsvollen Publikum im Saal des Berliner Instituto Cervantes eröffnen.

Als er mich in den Park kommen sah, fragte mich Ekko wie es mir bei der Lesung ergangen sei. Ich zog es vor ihm, die Details nicht zu erzählen und fasste alles mit dem klassischen „Gut, sehr gut“ zusammen.

Ekko von Schwichow machte unter anderem schon Aufnahmen von Haruki Murakami, Susan Sontag, Jean Baudrillard, Umberto Eco und Henning Mankell, aber das wusste ich vor dem Shooting noch nicht. Das war für mich von Nutzen, denn es erlaubte mir voller Ungezwungenheit zu posieren, mich mit einer gewissen Verwegenheit durch die herbstliche Berliner Gegend zu bewegen (wenn man von meinem blutenden Kater absieht).

Als das Shooting vorbei war, erzählte mir Ekko von seiner Leidenschaft für das brechtsche Werk, einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Das kam mir weder seltsam, noch mystisch vor… bedenkt man die Popularität, die der Dramatiker, vor allem in Deutschland, genießt. Brecht zu mögen ist fast schon natürlich, deshalb fragte ich Ekko, ob er das Theaterstück „El proceso de Lucullo“ kenne.

Wie alle anderen auch, verneinte er dies.

4. Rery, Superdemokratica

Die Vergangenheit ist ein Polaroid der Zukunft. Und die ewige Gegenwart ist die Bewegung der Fotografie in unseren Händen, während sie sich entwickelt.

Als ich Rery Maldonado (die andere Kommandantin von Los Superdemokraticos, neben Niko) kennen lernte, fühlte es sich an, als würde ich eine Bewohnerin meiner Zukunft und meiner Vergangenheit treffen, die sich in dieser Gleichzeitigkeit präsentiert. Der Archetyp der kämpferischen Frau in bolivianisch-deutscher Version, die einfach so auf mich aufpasst. Eine Süßigkeit, ein Bonbon aus anarchistischem Zyanid.

Rery ging nach Bolivien, gleich nachdem die Latinale vorüber war, und überließ mir deshalb leihweise ihre Wohnung, die auch in Kreuzberg liegt. Eine schöne Wohnung, geräumig und voller Bücher, in der ich begann, Werke von Brecht zu suchen, um mich dann von den verschiedenen Wundern ablenken zu lassen, die ich fand: von Drei traurige Tiger bis hin zur ersten Ausgabe von Entre la piedra y la cruz (Zwischen dem Stein und dem Kreuz) von Mario Monteforte Toledo.

Als ich mich bei Rery eingerichtet hatte, war das erste, versuchte ich als erstes, ins Internet zu kommen, wie ich es immer mache. Aus irgendeinem Grund konnte ich das WLAN nicht benutzen und musste deshalb den Computer meiner Freundin anschalten… Die deutsche Tastatur verursachte mir zu Beginn schwerwiegende Probleme, aber ich konnte sie mit Hilfe meiner Erfahrung mit der französischen Tastatur bändigen.

An jenem Nachmittag las ich die Mails und stieß auf diese Email von Ekko von Schwichow:

„Hallo Alan,

wie läuft deine Nachforschung? Das Stück von Brecht, das ursprünglich für das deutsche Radio geschrieben wurde, heißt: „Das Verhör (interrogatorio) des Lukullus“, 1951. Hast du sonst noch was gefunden?

Ich schicke dir als Anhang die Daten der Bilder – wenn sie dir gefallen, sag mir welche genau; ich hoffe du kannst die Nummern sehen??

Liebe Grüße

Ekko“

Als ich diese Mail las, wurde mir klar, dass ich aus einem einfachen Grund niemals Ergebnisse für den Prozess des Lukullus auf Google gefunden habe: ich hatte „Lucullo“ oder gar „Lucuyo“ in das Suchfeld geschrieben…

Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ein paar Buchstaben den Übergang in die unbekannte Dimension bilden können.

5. Berlin, Axolotl Roadkill

Vor einer Woche konnte ich, dank Johanna Richter (die übrigens nicht mit Nikola Richter verwandt ist) den touristischen Rundgang absolvieren und die Fotos machen, die ich mich immer weigere zu machen, wenn ich Reisen dieser Art unternehme. Ich hatte mich dazu entschlossen, da ich kürzlich in einem Artikel las, dass die touristischen Orte von den Snob-Reisenden vermieden werden, ohne dass diesen klar wird, dass diese Orte berühmt für etwas sind, dass es einen Grund für ihre Popularität gibt.

Im Fall von Berlin bestätige ich diese Behauptung. Die gesamte, für die Touristen bereitstehende Szenerie ist wirklich magnetisch. Eine Stadt, die die historische Erinnerung als Referenz für den Konsum von Bildern der Postmoderne benutzt: meta-historischer Tourismus.

Ich machte einige Bilder mit der Kamera von Johanna, die mit mir eine gekürzte, aber effiziente Tour durch die Zone, in der die Mauer stand und durch das Zentrum machte, mitten im aufkommenden Berliner Winter.

Die Konversation bei der Rückkehr nach Kreuzberg war eine wahre Freude: Johanna macht ihren Doktor in Literatur des 19. Jahrhunderts und sprüht vor Weisheit. Ein Teil unseres Gesprächs drehte sich um den aktuellsten und aufsehenerregendsten Fall von Plagiat in der deutschen Literatur: das Buch Axolotl Roadkill von Helene Hegemann. Es handelt sich um einen Roman (Bestseller), in dem die Technik der Montage verwendet wurde, Fragmente von Blogs und Büchern, welche die Autorin gelesen hatte, wurden darin wiederverwertet. Ausgehend von diesem Fall, diskutierten wir lange über die Grenzen der Urheberschaft, über die Gestaltung eines Buch in der heutigen Zeit, wie das Schreiben funktioniert, usw.

Wir haben auch unsere Nostalgie für Ezequiel Zaidenwerg geteilt, der nach dem Abschluss der Latinale Deutschland verlassen hat. Eze, wie wir Freunde ihn nennen, war zweifelsfrei die Offenbarung des Treffens lateinamerikanischer Poeten in Berlin, er zog das Publikum mit der Kraft und der Eleganz seiner Poesie in seinen Bann. Dieser geschätzte Freund und argentinische Dichter war gemeinsam mit der Puerto Ricanerin Mayra Santos Febres, die am stärksten leuchtenden Perlen der Veranstaltung.

Es bleibt nur nebenbei zu erwähnen, dass Mayra mir mit der Hilfe ihrer Orishas, während eines Abendessens, fast am Ende des Festivals, eine spirituelle Lesung abhielt. Den Nagel auf den Punkt treffend, sagte sie zu mir: „weißt du, du fühlst einfach genau das, was die anderen auch gerade fühlen“…

Und ja, das ist es was mit mir los ist.

6. Brecht, der Affe

Während wir auf einer wirklich, aber wirklich verrückten Party, ebenfalls in Kreuzberg, tanzten, erklärte ich Barbara Buxbaum, meiner Übersetzerin und Freundin, warum ich schlussendlich das Haus von Brecht doch nicht besucht hatte:

– Naja, weißt du, der Affe. Erinnerst du dich? Der, der aus dem Mund Feuer spuckt? Der hatte meine Seele all die Tage entführt, mir die Freiheit genommen… und mir nur erlaubt zu feiern – sagte ich.

– Ach, mein lieber Axolotl – antwortete Barbara und lachte laut auf.

– Aber wir waren auf einem Konzert von Brecht-Weill, mit Nikola – füge ich hinzu.

Bilder: Alan Mills

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Der Traum der Bestie http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/der-traum-der-bestie/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/der-traum-der-bestie/#comments Mon, 04 Oct 2010 15:30:53 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2387 Ich verspüre keine Verlangen danach, einen Hund zu adoptieren und ihm einen literarischen Namen zu geben, der ihn für meine Sicherheit verantwortlich macht, während ich die Grenzen zwischen Realität und Traum bewohne. Ein Nomade sollte sich niemals im Stich gelassen fühlen, denn er hat eine archetypische Familie, die in unterschiedlichen Dimensionen Gestalt annimmt. Er kann auf die Straße gesetzt werden und in einem Park voller wunderschöner Blumen schlafen. Dort wird er träumen, und später muss er nur schreiben: Das ist seine Residenz, seine Begleitung.

Ich habe nichts als ein literarisches Werk im Kopf. Ein Werk, das ich schreibe. Ein Werk, das ich will. Ein Werk, das in mir Herzrasen hervorruft; mich dazu drängt Arzneimittel auszuprobieren; mich zum Weinen bringt; mich glücklich macht; mich aufregt, mich in den Selbstmord treibt; mich nervt, mich wie einen Idioten fühlen lässt; mich gesegnet fühlen lässt. Ich wache auf und stelle mir vor, dass ich es nun schreibe. Der Tag schreitet fort und ich ärgere mich, weil ich immer noch nicht dabei bin es zu schreiben. Ich schiebe es auf. Ich nehme Anrufe entgegen, checke wieder und wieder die E-Mails. Ich habe Sex und gebe das über Twitter bekannt. Ich erhalte Smileys 😉 Mein Vertrauensbruchs ruft ReTweets hervor und ich bin das Stadtgespräch. Ich gehe eine Runde drehen und denke weiterhin über die Kapitel nach. Ich komme einfach nicht dazu, sie zu schreiben. Ich durchstreife die Stadt in der Nacht; ich verwickle jemanden in ein Gespräch, um ihm von dem Roman zu erzählen, den ich schreiben will. Zusammengefasst: Ich schreibe nicht.

Beim Aufwachen kümmert sich der Kater darum, mich daran zu erinnern, dass ich wieder einen Tag verloren habe. Ich zittere, während ich mir die Zähne putze. Ich öffne Gmail, mit der Erwartung auf etliche dringende Arbeit zu stoßen: Das hat sich für mich als eine Art erwiesen, die Gewissensbisse wegen des spärlichen Vorankommens mit dem Roman zu beschwichtigen. Ich überfliege ein paar Übersetzungen, mache hier eine Korrektur, da eine Bearbeitung. Ich mache die Copy für eine Werbekampagne. Placebos, Arten zu schreiben, ohne zu schreiben, bis ich auf eine liebevolle Mail meiner deutschen Übersetzerin Barbara stoße, die mir sagt, dass ich mich schon wieder einmal mit meinem Text für die Superdemokraticos verspätet habe!

Das macht mich glücklich. Ich bin ein Schuft, aber das macht mich glücklich. Ich verstehe das als eine exquisite Verpflichtung, ein Hybrid zwischen den Arbeitsanforderungen und dem Vergnügen. Ich stelle mir sogar Barbara als eine Text-Dominatrix vor, die mich mit der Peitsche schlägt, um mich so dazu zu bekommen, die Seite zu füllen. Zack! Und ich muss das tun, denn Los Superdemokraticos ist ein Projekt, das Teil meines Arbeitsplans ist. Aber gleichzeitig ist es auch ein Projekt, das mir wenigstens einen Funken Würde wiedergibt, etwas zu schreiben, das dem ähnelt, was ich „das Werk” nenne!

Zack!

Barbara hat mich erneut um meinen Text gebeten, und diesmal war es der letzte Aufruf, denn Los Superdemokraticos ist ein Projekt, das genau jetzt endet. Und aus genau diesem Grund geht der Text nun dazu über, aus der Vergangenheit zu sprechen.

Während dieser Zeit konnte ich mit unterschiedlichen Artikeln, rings um die von den Herausgeberinnen der Superdemokraticos vorgeschlagenen Themen, literarisch experimentieren. Sie gaben mir die Freiheit, so schwerwiegende Themen wie die Globalisierung, aus Sicht eines Axolotl anzusprechen; so bedeutsamen Themen, wie die soziale Gewalt wurden von meinen Ninjahänden beschworen, die eine Art unsichtbare Kalligraphie praktizierten; als es nötig war über Sexualität zu sprechen, konnte ich eine ziemlich ausführliche Autobiographie präsentieren; die Geschichte meines Landes stellte ich mir wie eine kleine Maistortilla vor, die über einem kosmischen Comal glüht. Ich konnte die Formen zeigen, in denen ich die Realität wahrnehme, indem ich aus meiner textuellen Körperlichkeit heraus verschiedene Mutationen ansprach.

Mit dem Schreiben versuchte ich mir selbst zu beweisen, dass das Bewusstsein die Schöpferin der Realität ist…und es war sehr amüsant zu sehen, dass sich als schlagkräftiger Beweis jener Hypothese in Berlin sogar eine Ninja-Party organisierte.

Vielleicht erinnert ihr Euch daran, dass ich dieses Abenteuer begann, indem ich mein Nahual, den Jaguar, anrief, um die dafür nötige Kraft zu erhalten. Deshalb werde ich wieder an der gleichen Stelle enden, und ihn anrufen, um diesen Kreis zu schließen.Durch meine Superdemokratischen Texte wollte ich ausdrücken, dass die Poesie ein Double von sich selbst schaffen muss, dass in die Zeit projiziert wird: ein Tier, das den Weg seines Geist im Dschungel der Archetypen beschützt. Dass der Poet der Traum der Bestie ist, die ihren Körper in der Vegetation fortbewegt und mit katzenhafter Gewandtheit die Leere überspringt, welche die Worte vom Geist des Lesers trennt: Ideen betrachte ich wie Schmetterlinge, welche die Unmöglichkeit, aus der Seite herauszufliegen, überwunden haben.

Ich bin nicht sicher, ob ich diese Botschaft in der nötigen Qualität vermitteln konnte…Die alchimistische Begegnung der Zeit mit den Lesern wird die einzig mögliche Antwort darauf geben können. Ich habe auf jeden Fall die Magie genossen, mich in einer Sprache zu lesen, die ich nicht verstehe und die ich nun lernen will….aber ich habe es noch viel mehr genossen, die Beiträge meiner lateinamerikanischen und deutschen Kollegen zu lesen: Ich kann euch garantieren, dass ich nicht eine einzige Zeile, von dem, was ihr geschrieben habt, verpasst habe. Ich habe versucht, das Handwerk und die Originalität zu erlernen, von denen sie nur so trieften. Ich habe auch gelacht und sogar geweint, wenn es ein Text schaffte, die sensibelsten Punkte zu berühren.

Für alles Gesagte und Nichtgesagte, an alle, Herausgeberinnen, Übersetzerinnen, Leser und Schriftsteller, Superdemokraticos: Vielen Dank! Ich hoffe euch sehr bald in irgendeiner Ecke des Kosmos begrüßen zu können.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Axolotl Cyborg http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/#comments Thu, 16 Sep 2010 06:25:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1789

Axolotl. Foto: Ethan Hein, http://www.flickr.com/photos/ethanhein/

Ich bin mir sicher, dass sich niemand von euch jemals die Frage gestellt hat, wie die Globalisierung von einen Axolotl, der aus seinem natürlichen Lebensraum entführt wurde, wahrgenommen wird, und der nun in diesem Fischglas, das ich ihm mit viel Liebe hergerichtet habe, lebt.

Die erste Frage, die dem Tierchen bestimmt in den Kopf kommt, ist die nach dem Ursprung meiner Grausamkeit. Aus welchem Grund ich ihn wohl aus seinem wunderschönen Zuhause in der Lagune von Chapultepec, Mexiko, herausgerissen habe, um ihn an diesen kalten, geschlossenen Raum in Guatemala Stadt zu bringen. Er wird auch nie gänzlich diese Geräusche verstehen, die sich durch das Wasser schleichen und ein bisschen Wellengang verursachen. Er zieht es vor, wenn ich ganz laut ganz harte Musik aufdrehe, dann kann er kleine Kunststücke aus seiner Zeit als Surfer in den Pfützen aufführen. Bei Cannibal Corpse flippt er aus. Bei der nationalen Musik steht er auf Evilminded, auf jeden Fall.

Mein Akzent und der meiner Freunde kommt dem kleinen mexikanischen Salamander nicht ganz so fremd vor. Ab und zu benutzen wir den Ausdruck „pinche“ (mex. für unwichtig, scheiße) und es kommt sogar vor, das wir „buey” (mex. für Alter) als Abschluss des Satzes sagen. Auch Rancheras singen wir ganz gut. Und wenn auch nicht ganz so gut, dann wenigstens mit derselben Leidenschaft. Das machte den Umzug für ihn etwas weniger traumatisch. Hier schlagen Los Tigres del Norte auch ein. Klar, wenn wir dann sehr betrunken sind, wollen wir auch „Unseres“ wieder aus kramen und tanzen einen Danzón, zu irgendeinem Stück (das Land der schönen Frauen und der Marimba, sagt man) von Checha y su India Maya Caballero.

Dieser Axolotl ernährt sich von der Musik und der giftigen Strahlung, die der Tagebau in diesen Gebieten hinterlässt. Dank dieser hat er die Fähigkeiten Lesen und Im-Internet-Surfen entwickelt, ohne auch nur eine Tastatur zu benötigen. Ich lebe mit einem telepathischen Froschlurch und er liebt es, in meinen Emails herumzuschnüffeln. Meine Korrespondenz findet er sehr unterhaltsam, mit all ihren Verwirrungen und Leidenschaften. Er taucht in meinen Twitter und vertreibt sich die Zeit damit, die Texte zu lesen, die ich als Forschungsmaterial für den Roman sammle, den ich gerade vorbereite. Es begeistert ihn, alles bezüglich des Transhumanismus und dessen Möglichkeiten als Werkzeug zur Aktivierung einer neuen Form des globalen menschlichen Bewusstseins zu lesen. Er überdenkt und debattiert mit sich selbst ziemlich komplexe Problematiken: ob die Hypervernetzung zum Web der erste Schritt zur Entwicklung eines kollektiven Gehirns ist; ob er der erste Replikant einer neuen Rasse, Axolotl Cyborg, ist; ob ich in Wirklichkeit gar nicht existiere und lediglich ein Hologramm seines Bewusstseins bin.

Plötzlich blickt mir der Axolotl in die Augen, spielt eine Szene aus dieser Erzählung von Cortázar nach. Er fragt sich, ob mit uns dasselbe passiert ist, wie mit diesen Figuren, und ob ich jetzt in seinem Körper stecke und unter seiner so dünnen Haut denke. Ich stelle mir die gleiche Frage, während ich zusehe, wie er sich dreht und einen spektakulären halben Salto macht, der gefährlich nahe daran herankommt, das Universum wieder instandzusetzen. Ich atme ein und aus, und beruhige mich. Ich bin immer noch auf dieser Seite des Fischglases.

Für meinen fluoreszierenden Salamander ist die Sache mit den Sprachen nicht so ganz klar. Regelmäßig vergisst er die Sprache, in der er einen Text gelesen hat, der ihn dazu veranlasst zu denken, dass das Gehirn die Ideen in einem Code versorgt, der nicht notwendigerweise linguistisch ist.Vor kurzem wollte er ein paar farbigen Fischchen erzählen, dass die Poesie der historische (genetische) Mechanismus ist, den wir benutzen, um die Gestaltung dessen, was wir als materielle Realität wahrnehmen, in Frage zu stellen. Das wir uns durch sie, die Poesie, weiterentwickeln. Danach zitierte er elegant ein japanisches Haiku, das eine kleine Reihe von Blasen auslöste. Aber, echt, er hat all das in so einem ernsten und phlegmatischen Tonfall gesagt (wie ein deutscher Philosoph), dass mir das Desinteresse der Fische sehr lustig erschien. Diese Armen wissen ja kaum, ob sie im 21. Jahrhundert oder im Paläolithikum leben. Und, wo wir schon dabei sind, das Siglo de Oro oder die Romantik ist ihnen auch scheißegal.

Mein Axolotl Cyborg wurde durch zu viel Kabelfernsehen schlussendlich von der Werbung erobert.

Er hat sogar ein exzellentes Produkt entwickelt, eine Erfindung, etwas, das er gerne vermarkten würde: eine Serie von Bucheinschlägen von Thomas Pynchon, worin die farbigen Fische ihre Bücher von Paulo Coelho einbinden können. Damit können sie diese lesen, ohne der Diskriminierung der Hipster-Umgebung zum Opfer zu fallen. Ich informiere ihn darüber, dass seine Initiative in diesem Land nicht sehr erfolgversprechend ist, denn die Leute ziehen es sowieso vor, gar nicht zu lesen. Hier ist es hip, nichts zu wissen und zu Partys zu gehen, electroclash. Der Axolotl erschreckt sich, und ich muss ihm versprechen, dass er mich bei meiner nächsten Reise nach Buenos Aires begleiten darf, damit er durch die Buchläden planschen kann. Es gibt dort ein paar sehr gute, erzähle ich ihm.

Ja, dieses Tierchen hat sich langsam zu einem Zyniker und einem Frechdachs entwickelt. Aber die Wahrheit ist, ich akzeptiere ihn so wie er ist, mit all seinen Fehlern. Das ist das mindeste was ich tun kann, bei dem Schaden, den ich ihm zugefügt habe – ihn aus seiner idyllischen natürlichen Umgebung zu reißen (wo er mit Kaulquappen und Industriemüll zusammengelebt hat) und ihn hierher zu bringen, um in einer neuen Landschaft zu leben: in einem Habitat, das aus einem durchsichtigen Fischglas besteht und gegenüber von ein paar Bildschirmen aufgestellt ist.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Beamen http://superdemokraticos.com/themen/burger/beamen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/beamen/#comments Thu, 02 Sep 2010 15:06:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1382 Die Sprache der sozialen Gewalt erzwingt auf verschiedenen Ebenen Modifizierungen, selbst beim Schreibakt. Die Finger zittern, körperliche Ticks, übersetzt in Bilder, treten auf und Metaphern schaffen Strukturen, in denen ihr Licht an die Verzweiflung appelliert. Die Schriftstellerei verkündet für einige Momente eine Fluchtmöglichkeit von der Paranoia oder wirkt zumindest wie ein Placebo, mit dem wir in der Lage sind, das Innerste unseres Zynismus, den wir wie ein Schutzschild entwickelt haben, ein wenig ruhig zu stellen. Das ist mehr als Resignation, das ist ein Schutz. In anderen Momenten ist die Schriftstellerei die wörtliche Transkription eines permanenten Terror- und Panikzustands.

Wenn Gewalt sich in fast vollständiger Dunkelheit abspielt und der Operateur der Beleidigung virtuell unsichtbar und nicht greifbar ist (man kann ihn nicht gänzlich dem Staat zuordnen, aber den parallelen Mächten, die mit jenem zusammenspielen können oder auch nicht), ist die Interpellation, die von der Poesie als eine Art des Widerstandes entwickelt wurde, genauso mobil, nomadisch und vorübergehend. Das Gedicht transmutiert seine Materie, verkleidet sich und stellt das Klagegeschrei dar, das für die Vortäuschung des tatsächlich empfundenen Schmerzes steht (Pessoa).
Ein Leser dieser Poesie versucht gar, vor ihr zu entkommen: Er vergisst sie, er beseitigt sie, er verschmäht oder ignoriert sie ganz einfach. Ein anderer Leser zollt ihr Anerkennung, bebt mit ihr und verknüpft sie mit der tatsächlichen Entwicklung einer rettenden Fiktion. Wieder ein anderer Leser hält sie für eine minderwertige Form der fantastischen Literatur („Poesie mit Special Effects“), für Effekthascherei und Übertreibung. Die testimonialen Elemente, die diese Poesie vermittelt, werden stur in Frage gestellt. Spott kommt auf. Diese Leseweise ist somit eine andere Form der Gewalt, aus der sich die Poesie selbst weiter speist.

Die Qualität dieser gewaltsam behandelten Poesie steht in direkter Beziehung zum Grad der technischen Entwicklung, der durch die Erarbeitung von Rahmenbedingungen erreicht wurde, in denen jene maßlose Lyrik stattfindet. Die Poesie muss ihre schwarze Epiphanie mit der Geschwindigkeit und der Schlagkräftigkeit von jedem wichtigen Werk umsetzen. Der ästhetische Genuss, als oberstes Ziel, ist nicht verschwunden, jedoch zeigt sich ein möglicherweise unterirdischer oder heimtückischer Aspekt, bei dem die eigentliche Form sich der symbolischen Mutation angepasst hat, die sich auf der sozialen Bühne ereignet.

Im Kontext des möglichen Endes der Nachkriegszeit in Guatemala (wo wir in eine Epoche eingetreten sind, die bislang noch keinen Namen hat) wird der Poet nur ganz selten als ein für seine soziale Umgebung „engagiertes Subjekt“ wahrgenommen. Seine Vision reicht aus, um zu erkennen, dass auch die sozialen Räume verwüstet wurden, in denen sich einst die verschiedenen Milizen der öffentlichen Ordnung abgezeichnet hatten. Eine fragmentierte Stimme, die genauso hybrid, mestizisch, nomadisch ist, kann sich sicher sein, dass sie nie wie ein Slogan oder eine Losung aufgenommen wird.

Und der gedruckte Rhythmus dieses literarischen Geschehens entfernt den Poeten von dem kurzem Lehrgang oder der langatmigen Rede. Die Zukunft oder das Überleben der Textualität, die aus diesem Chaos entsteht, ist eng verbunden mit einer konstanten Mobilität und einem transgeographischen Puls. Sie bieten Schutz und ermöglichen Flucht vor der multiplen Gewalt, die den Körper und den Geist desjenigen erschüttern, der sich dafür entschieden hat, eine schriftstellerische, autonome und freie Tatsache zu vollstrecken. Diese Distanz würde die Darstellung einer Art des „imaginären Ninjitsu“ erlauben, geschmiedet aus einer neuen Variante des Exils (inklusive des inneren Exils), in das man sich vor einem spektralen, transkörperlichen und transideologischen Verfolger flüchtet, dessen Gesicht gänzlich unbestimmbar ist.

Deshalb nutzen wir das Beamen als ein Mittel, die Paralleluniversen zu besuchen, dort wo imaginäre Lösungen immer möglich sind.

Erinnern wir uns an Les Épiphanies von Pichette:

“Monsieur Diable: Au besoin mon garçon, libère tes jurons, vomis tes déboires. C’est de bonne médecine”…

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ninja-Metamorphose http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/#comments Thu, 19 Aug 2010 07:16:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=941 Vor ein paar Monaten begann ich mit meiner zaghaften aber entschiedenen Verwandlung in einen Ninja. Und nun werde ich versuchen, meinen Freunden, den Superdemokraticos, die Gründe dieser Metamorphose zu erklären:

Erstens, die wirtschaftlichen Bedingungen. Die eiserne Disziplin, der sich ein Ninja unterwirft, erlaubt es ihm nur an wenigen Stunden in der Woche, sich dem Laster hinzugeben: Wein, Bier und anderen Substanzen erhalten einen bestimmten Platz. So wird ihr rituelles Wesen wiederhergestellt. Auch dem Sex, dieser kostspieligen Angewohnheit, wird ein Platz zugeteilt, aber anstatt nach Quantität zu suchen, besinnen wir uns auf seine mystische Qualität. Geld ist nicht weiter ein Feind, damit es wie Energie fließen kann.

Zweitens, wahre Freundschaften werden gepflegt. Ein Ninja hat diese falschen Freunde nicht nötig, von denen es nur so wimmelt, wie Fliegen, die sich auf einen Teller Milch stürzen. Man lernt, auf den allerersten Blick zu erkennen, welche Seelen unserer Verbündeten im Kampf, den Himmel zu erleuchten, sein werden. Der moderne Ninja von heute akzeptiert die spirituelle Bruderschaft, welche die Menschen mit all den tierischen, pflanzlichen und mineralischen Spezies verbindet, eingeschlossen Chihuahua-Hunde und Axolotl-Schwanzlurche. Wenn ihr genau hinschaut, könnt ihr erkennen, dass der Axolotl eine Art Ninja des Wassers ist, von dem er denkt, es wäre Luft. Sein amphibisches Naturell erlaubt es ihm, die Vergangenheit und die Zukunft zu bewohnen.

Die unsichtbaren Gegner bestraft ein Ninja mit Schweigen und Missachtung. Er widersetzt sich Beleidigungen, Verleumdungen und übler Nachrede durch lange Meditationssitzungen vor der aufgehenden Sonne. Wir lösen uns aus dem feindlichen Szenario und hinterlassen lediglich eine Wolke der Poesie.

Drittens, das Thema fashion. Manche sagen uns, dass das Äußere nicht wichtig ist, aber wir wissen genau, dass sie lügen. Wie müssen erfinderisch sein und Klamotten wie eine Sprache benutzen. Kleidung ist eine Textualität, deshalb kommen der Orden oder der schwarze Anzug mit Maske (verankert in der Populärkultur) niemals aus der Mode. Es ist die Zusammenfassung des Mysteriums und eine Ermahnung für das, was noch geschaffen wird.

Viertens, der Gewalt wird die Eleganz gegenübergestellt. Während sich in diesem Land alle kreuz und quer umbringen, ziemlich blutrünstig und würdelos, schlagen wir modernen Ninjas lieber mentale Kämpfe vor, die an den heiligen, präkolumbinischen Stätten ausgetragen werden sollten. Dieser allegorische Vorschlag impliziert nicht, dass wir verleugnen würden, dass der Ursprung der aktuellen (und realen) Gewalt in der sozialen Ungleichheit, der Korruption und der Straffreiheit zu findet ist, die während der gesamten Geschichte Zentralamerika verwüstet haben.

Ein fünfter Grund, warum man Ninja werden sollte, ist die Gesundheit. Ein Ninja ernährt sich gesund und äußerst maßvoll. Die körperliche Ertüchtigung ist für ihn lebensnotwendig. Spaziergänge im Wald und im Dschungel sind grundlegend, um sich fit zu halten. Auch das Fliegen zwischen den Häusern der Stadt ist eine weitere, sehr unterhaltsame Trainingsübung.

Und – last but not least – die Teleportation. Ein Ninja zu sein, erlaubt es mir, in ein anderes Land zu kommen, ohne mich von meinen Lieben trennen zu müssen.Guatemala ist ein wunderschönes Land, aber gleichzeitig stellt es ein Trainingscamp dar: den idealen Ort, um die Überzeugung und die tatsächliche Berufung eines Schriftstellers auf die Probe zu stellen. Hier reicht es nicht einmal, den Nobelpreis verliehen zu bekommen, damit einem Autor Ruhm erwiesen wird, was auch Miguel Ángel Asturias schon lernen musste … Etwas, das in jedem anderen Land in der Gegend sogar dazu geführt hätte, dass eine Provinz umbenannt wird, löst hier lediglich weiter Groll, Argwohn, Ärgernisse oder völliges Desinteresse aus.

Die Moskitos sind die einzigen, die würdevoll während des Klatschen sterben, predigt das japanische Bildungswesen. Wer es also in diesem Land tatsächlich anstrebt, Literatur zu schreiben, muss von einer inneren Wahrheit besessen sein, die unbedingt und entgegen alle Hindernisse offenbart werden muss. In meinem Fall manifestiert sich diese innere Wahrheit in einem Schreiben wie das eines Ninjas, der mit den Händen fantasiert. Ein Ninja, der die Kalligraphie wie eine Vorbereitung auf den Kampf praktiziert, der versucht, den nationalen Himmel zu verändern, in dem er verbale Sterne versprüht.

(Leer: Manifiesto de la Literatura Ninja)

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Orangensaft http://superdemokraticos.com/themen/koerper/orangensaft/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/orangensaft/#comments Thu, 05 Aug 2010 07:00:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=573 Seitdem ich denken kann, wollte ich etwas anderes sein. Mit sechs Jahren habe ich mich im Hof unseres Hauses auf den Rücken gelegt und die Sterne betrachtet; ich war mir sicher, dass dort meine wirklichen Artgenossen auf mich warteten. Einige Außerirdische, die genauso wie ich waren, lenkten ihre Blicke auf die Erde, und ich konnte sie in Form von Licht sehen. Tagsüber hielten wir durch Zeichnungen in den Wolken Kontakt.

Als Jugendlicher wollte ich eine andere Augenfarbe haben. Ich war kurz davor, mir schreckliche blaue Kontaktlinsen zu kaufen, aber dank meiner Armut tat ich es dann doch nicht. In den 90ern kam es vor, dass dein bester Freund eines Morgens an deine Tür klopfte, du ihm öffnetest und er freudestrahlend vor dir stand mit plötzlich seltsam jadefarbenen Augen. Dein Freund hatte sich in eine Mörderpuppe verwandelt, aber du sagtest nichts.

Niemals werde ich jenen halluzinogenen Nachmittag vergessen: Als wir an einem bestimmten Punkt angekommen waren, begann mein Freund mich „Orangensaft“ zu nennen. In seiner Wahrnehmung hatte sich mein Körper komplett aufgelöst und er sah mich als orange Flüssigkeit in einem Glas. Anfangs haben wir uns wie zwei Idioten darüber kaputtgelacht, bis ich zu sehr die Paranoia bekam und begann ihn zu bitten, mir genau zu erklären, was eigentlich los war. Mir ging auch sein blondes Haarbüschel auf die Nerven, so dunkel wie er war, sah es einfach nur lächerlich aus.

Wir waren 15, solche Dinge können da schon mal passieren.

Jahre später nervte es mich, dass ich so dünn war, und ich wollte mich mit Muskeln aufpumpen. Also begann ich mit meinem Kameraden, der von seinem Dicksein gequält wurde, ins Fitnessstudio zu gehen. Die Frauen flüchteten alle vor ihm, und es störte ihn, dass es mir in dieser Beziehung gar nicht so schlecht ging. Wir waren eigentlich in allem das genaue Gegenteil. Unser Trainer dort war zufälligerweise ein berühmter Medaillengewinner der Paralympics und sein Körper von der Hüfte aufwärts überdurchschnittlich ausgeprägt. Als erstes verschrieb er uns eine Proteinbomben-Diät. Sie verwandelte meinen Freund schon nach kurzer Zeit in die chichimekische Version von Hulk, während sie mich zunächst aufschwemmte und mir dann die Luft rausließ – ich verlor fast das gesamte Muskelgewebe.

Nach diesem anabolischen Experiment haben sich unsere Wege getrennt, und wir haben uns für eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Eine sehr lange Zeit. Bis vor ein paar Monaten, als ich durch das Zentrum fuhr und eine schreckliche Vorahnung in der Brust spürte. Ich wandte den Blick zurück und sah den Körper meines Freundes, durchlöchert, hingestreckt auf dem Asphalt.

Jetzt versuche ich ihm zu erzählen, dass ich mich immer noch auf den Rücken lege, um die Sterne zu betrachten. Dass ich die Botschaften von jenen Alanians und deren Freunden in Texte verfasse. Da sie mir weiterhin die Notwendigkeit zeigen, mich zu transformieren, je nach den jeweiligen Umständen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Privatsphäre konfigurieren http://superdemokraticos.com/themen/koerper/privatsphare-konfigurieren/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/privatsphare-konfigurieren/#comments Wed, 21 Jul 2010 07:00:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=491

Gif: Carolina Niño, http://photobucket.com/

1983. Zungenküsse mit Silvana del Carmen auf den Schaukeln vor ihrem Haus. Sie ist sieben Jahre alt.

1984. Ich bin nur knapp einer Entführung entkommen. Ich ließ eine schöne Frau in mein Haus. Sie stahl die Juwelen meiner Mutter und ein paar Dessous. Hand in Hand gingen wir zum Bahnhof. Die Frau bereut es im letzten Moment und lässt mich zurück, ohne sich zu verabschieden. Enttäuscht von ihrer Zurückweisung gehe ich zurück nach Hause.

1986. Ich höre sexuelle Geräusche im Dunkel meines Zimmer. Ich halte es für ein Kätzchen, das Milch trinkt. Wenigen Stunden davor war ich wegen einer plötzlichen schweren Asthmaattacke ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich sage zu der Krankenschwester, dass Sauerstoff nach Vanille schmeckt. Sie antwortet mir nicht.

1989. Ich spiele Atari und springe über die Dächer in meiner Nachbarschaft. In der Schule wählen mich die Mädchen zur männlichen Begleitung der Klassenvertreterin für die Wahl zur „Patin des Sports“. Sie heißt Marianne und ich bin verliebt. In der Nacht lenke ich meine Tagträume, in denen wir am Ende immer heiraten. Mein Vater streitet vor dem kindlichen Schönheitswettbewerb mit meiner Mutter. Meine Mutter versichert, dass sie mich immer wegen meiner Größe wählen. Meine Nachbarn spielen schon Nintendo.

1992. An einem Samstagmorgen bekam ich überraschenden Besuch von meinem Cousin. Er hatte erfahren, dass wir endlich einen Videorekorder bekommen hatten und führte mich in die audiovisuelle Welt der Pornos ein. Mein Ruf verbreitet sich, und ich erfreue mich wachsender Beliebtheit im Viertel. Rosa arbeitet bei uns als Hausangestellte, ich mag sie sehr gern. Rosa würde mir gefallen, wenn ihr nicht die beiden Schneidezähne fehlen würden. Einige meiner Freunde aus der Nachbarschaft stören sich nicht an solchen Kleinigkeiten: Sie machen einen Quantensprung im Vergleich zu mir und meiner Pornographie. Bevor sie das Haus verließ, musste Rosa abtreiben, mit einer selbstgebrauten Mixtur aus irgendwelchen Kräutern.

1993. Riesige Poster von Nirvana in meinem Zimmer. Ich trete von der Virtualität in die Wüste der Wollust ein.

1996. Ich spiele die „Stimme des Schattens“ in einem Brecht-Stück. Ich finde es großartig, weil ich wie Brandon Lee in Die Krähe geschminkt werde. In dieser Nacht im September treffen ich einen meiner Lehrer, einen Priester, im einem Nachtclub. Zum Jahresende unterzeichnen die Guerrilla und die Regierung den „festen und dauerhaften Frieden“.

1998. Wir geben mit unserer und anderen Bands ein Konzert, aus Solidarität für die Opfer des Hurrikan „Mitch“. Als Eintritt müssen die Leute einen Sack Mais oder Bohnen mitbringen.

1999. Ich reise nach Nicaragua, zu den Feierlichkeiten anlässlich des 20. Jahrestags der sandinistische Revolution. An der Grenze hatte ich ein Offenbarung. Meine Freundin schreit mich an, dass ich ihr ein Sandwich machen solle, weil sie gleich verhungert. Ich mach drei aus Schinken und gebe eins dem Bettler, der zu uns kommt um Geld zu schnorren. Der Bettler gibt von seinem Brot die Hälfte seinem Hund. Als wir nach Guatemala zurückkommen, beenden wir die Beziehung.

2000. Ich übe täglich „Die Sims“, ein Videospiel mit Strategie und Gesellschaftssimulation. Ich werde „Prehistorik 2“-abhängig. In Havanna kaufe ich eine wundervolle Ausgabe der „Gesammelten Kurzgeschichten“ von Edgar Allan Poe, übersetzt von Julio Cortázar.

2002. Ich miete mir ein Haus in der Straße Roosevelt. Ich leben mit meinem Hund Rilke. Ich feiere viel. Ich höre hartnäckig die CD Sub von Bohemia Suburbana.

2003. Aus Schamgefühl kann ich gar nichts erzählen, was in diesem Jahr passiert ist.

2005. Während einer Party in unserem Haus in der Rue d’Alésia in Paris fange ich Feuer. Ich hatte mich zu nah an ein paar Duftkerzen gesetzt. Ich habe keine Verbrennungen, bin aber vor allen nackt. Viele lachen und zeigen mit dem Finger. Meine Freundin lädt mich auf das R.E.M. Konzert in das Palais des sports ein. Auf das von Tori Amos will ich sie nicht begleiten. Im Internet lese ich, dass der Tropensturm Stan den Ort Panabaj dem Erdboden gleichgemacht hat.

2006. Ich surfe durch die Realität zwischen Fehlgeburten, schweren Depressionen, almodovorianische Partys und den Wundern der florentinischen Renaissance.

2008. Während meines Aufenthaltes in Medellín, lass ich mich von einem einheimischen Vergil führen, der Erfinder eines Stadtrundgangs, der sich „Anthropologie des Todes“ nennt. Poesie-Vorleserinnen schieben mir Zettelchen unter meiner Tür im Hotel Nutibara durch. Ich lege mir ein Facebook-Profil an. Ich durchquere Frankreich in Hochgeschwindigkeitszügen. Ich erlebe ein wundervolles Jahresende an den Stränden der Copa Cabana. Dort kommt mir die Idee ein Buch über mexikanische und zentralamerikanische Frauen zu schreiben, die nach Brasilien reisen, um ihre flüchtigen Ehemänner einzufangen.

2009. Ich informiere mich endlich über die Operation, die ich schon lang hätte machen lassen müssen, und finde heraus, dass ich mich für eine Prothese entscheiden kann. Ich nehme an Poesielesungen in Second Life teil und verwandle meine Chat-Sucht auf Gmail in ein Werkzeug meines Schreibens. Viele meiner Phantasien werden erfüllt, ohne das es meine Absicht war. Aus Versehen wasche ich meinen Reisepass in der Waschmaschine mit. Er kommt aufgelöst wieder heraus, als wäre ich nie geflogen. Wie ein Zombie irre ich auf der Straße Guatemala in Buenos Aires umher – so endet für mich das Jahr.

2010. Ich stelle die Privatsphäre auf meinem Facebook-Profil auf die höchste Stufe.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Gif: Carolina Niño

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Telepathie http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/telepathie/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/telepathie/#comments Mon, 05 Jul 2010 16:12:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=391 Die Telepathie wird das literarische Genre der Zukunft sein: Wir üben sie – wenn auch auf eine primitive Art – beim Chatten. Die Poesie von heute ist die greifbare Metapher einer fünften Dimension, ein visueller Beweis unserer mentalen Kommunikation. Die Sprache reproduziert die organische Bewegung der Natur und der Imagination, auf die gleiche Weise wie die Mayas die Bahnen der Sterne durch ihr Ballspiel symbolisiert haben. Es existiert ein immenser Text, der über die Seiten und Bildschirme hinausgeht, den wir alle interaktiv schreiben müssen. Unsere gemeinsame Geschichte, die sich telepathisch vermittelt.

Geschichte kommuniziert sich von einem Denken zum nächsten. Derjenige, der sie liest und aufschreibt ist ein Astrologe und ein spiritueller Astronaut, der das sichtbar machen konnte, was die Worte in ihrer Schwärze verbergen. Seine Zeit wird gemessen von einer Uhr, die nicht angehalten wurde, sondern sich nur vor und zurück bewegt: von einer Sekunde zur nächsten. Derjenige, der die Geschichte schreibt, ist kein unbeteiligter Beobachter, seine eigenen Schriften wandeln und verändern sie radikal. Sein Handeln stellt ein konstantes Geschehen nach außen wie nach innen dar. Es gibt weder ein Ende, noch einen Moment, in dem die Handlung beginnen kann. Jedes Buch ist leer, bis jemand es öffnet und darin die tote Katze entdeckt, aus der ein episches Gedicht wurde, oder die lebendige Katze in strahlenster und verbrennender Lyrik. Der Tod ist eine Quantenproblematik, genau wie das Lesen. Und die Geschichte ist der öffentliche Text, in den wir eingreifen sollen.

Ein platonisches Delirium veranlasst mich zu glauben, dass die Leser dieses Artikels die Geschichte meines Landes sehr gut kennen, aber sich nicht daran erinnern. Jetzt haben schon einige search in Google geklickt, und schwupps! haben sie sich erinnert. Sehr gut gemacht, Freunde! Ich musste euch gar nichts über den mentalen Weg erzählen! Klar, wenn ihr noch einige Zusatzdetails wollt: ihr wisst, ihr müsst mich nur fragen. Was sagt ihr mir? Wie?! Ihr glaubt nicht an die Telepathie?

Ich gebe euch mal ein Beispiel: In dem Buch Legenden aus Guatemala, von Miguel Ángel Asturias, gibt es eine unvergessliche Figur: „La Tatuana“, eine Frau, die in Gefangenschaft ist und eine Tätowierung von einem Boot auf dem Arm trägt. Am Vorabend ihrer Hinrichtung, da sie vom Teufel besessen sei, malt die „Tatuana” genau dieses Boot an die Wand ihres Gefängnisses (oder in die Luft) und schafft es, damit zu fliehen, auf ein unsichtbares Meer auszulaufen. Mehr brauche ich euch nicht zu sagen? Oder? Stimmt doch! Die Details dieser Geschichte habe ich euch mental vermittelt, richtig oder? Eure Schlussfolgerung ist gut: Die Poesie ist die Tätowierung und das Meer, die Sache die wir malen, um dem Gefängnis unseres Körpers und der Beklemmung über ein aufgezwungenes Schicksal zu entfliehen. Gut! Poesie bedeutet, sich ein Paralleluniversum so gut vorstellen zu können, dass man schwupps! auch da ist.
Was sagt ihr nun? Glaubt ihr, ich lade euch ein, der Geschichte zu entfliehen? Überhaupt nicht, meine Lieben. Ich schlage nicht eine einfache Flucht aus der Wüste der Realität vor, sondern ich versuche hier vielmehr ein Konzept zu formulieren, in dem die Poesie die Imagination von dem ist, was wir immer noch nicht gewagt haben zu leben und gleichzeitig als eine Vorrichtung, die in der Lage ist, den historischen Ereignissen, bei denen wir Akteure oder Opfer sein mussten, eine andere Dimension hinzuzufügen. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ sagte schon dieser berühmte deutsche Philosoph… Also, schließe ich daraus, dass die Poesie eine Strategie sein muss, um großartige Träume zu produzieren, die es uns erlauben, das individuelle und kollektive historische Trauma zu überwinden, und mit der wir die Zukunft – basierend auf den intensivsten Daten der Vergangenheit, die unsere Erinnerung geprägt haben – neu zeichnen können. Wir werden den Alptraum überwinden, in dem wir telepathisch kommunizieren. Und uns das Meer vorstellen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Pictún http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/pictun/ Sun, 20 Jun 2010 21:13:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=307 Ich versuche über die Geschichte meines Landes nachzudenken und das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist meine Oma wie sie mir beibringt, aus Maisteig Kugeln zu formen. Dieser Teig hat eine ähnliche Konsistenz wie Plastilin, deshalb reicht es, mit diesen Kugeln immer wieder in die Hände zu klatschen und schon formt man einen kleinen platten Vollmond, den wir „Tortilla“ nennen. Der comal, die Kochplatte der Tortillas, ist rund und aus schwarzem Ton. Er symbolisiert das Universum. Unter dem comal; glüht das Holz und mit der Hitze verwandeln sich die Maismonde in jene Tortillas, die zu jedem Essen der Guatemalteken gereicht werden. In meiner Tagträumerei sehe ich meine Oma, wie sie mir Anweisungen gibt. Aus einer kleinen Kugel wird eine kleine Tortilla gemacht – das ist logisch. Mit einer größeren Kugel hätten wir eine größere Tortilla. Aber wenn wir eine noch größere Kugel formen würden, einen riesigen Maisball, dann hätten wir keine Tortilla, sondern ein pixtón;. Ich erinnere mich, dass ich diese besonderen Tortillas am liebsten mochte, obwohl meine Oma etwas darunter litt, ihrem kleinen Enkel dabei zuzusehen, wie er mit so viel Maisteig in die Hände klatschte und ein totales Chaos hinterließ.

Was mich auch an den pixtónes faszinierte, war der Klang des Wortes. Pixtón. Das wird “pischton” ausgesprochen. Ich habe es geliebt, das immer und immer wieder zu sagen. Dieses Wort hatte etwas Magisches an sich, etwas noch Magischeres als die anderen Wörter, die meine Oma benutzte. Ihre stolze spanische Abstammung ließ mich Berge von Archaismen heraufbeschwören, die ich erst Jahre später bei meinem Aufenthalt in Brasilien und der zwischenzeitlichen Übernahme des Portugiesischen als meine dominante Sprache zurückgewinnen konnte. Aber, obwohl das Wort pixtón im Wörterbuch der Königlichen Spanischen Akademie für Sprache aufgelistet ist (pixtón: 1.m. Guat., dickere Tortilla aus Maismehl), hat es mit dem Mutterland nicht viel zu tun. Noch mit den galicisch-portugiesischen Bruderschaften.

Der Traum von den pixtones aus Mais ist in Wahrheit ein trojanisches Pferd, damit manche Weisheiten eine Zeitreise antreten können, um in meine Psyche zu gelangen. Ich meine Folgendes: Laut der traditionellen Zeitrechnung der Mayas, der „Langen Zählung“, schließt mit dem 12. Dezember 2012 der Zyklus der 144,000 Tage: das Dreizehnte baktún. Für die Mayas bedeutet eine Periode von 13 baktunes (5.125 Jahre) die komplette Länge der menschlichen Ära. Und nach diesem System der „Langen Zählung“ ist ein pictún ein enormer Zeitabschnitt, der sich aus 20 baktunes (7.885 Jahre) zusammensetzt. Hören wir gut hin: pictún klingt wie pixtón. Ich glaube sogar, dass es sich um das gleiche Maya-Wort handelt. Demzufolge glaube ich auch, dass es sich bei dem Akt des Tortilla-auf-den-comal-Legens um eine performative Metapher handelt, welche die Zeitrechnung symbolisiert (die Kreise des Maisteigs stehen für die Zyklen der Jahre), bei der das pixtón für einen enormen Zeitraum steht.

Betrachtet man die Welt auf diese Art und Weise, ist die moderne Geschichte Guatemalas nur eine kleine Tortilla, eine von denen die meine Oma gerne auf den comal gelegt hat. Weniger als 20 katunes (200 Jahre). Auch wenn wir einen größeren Zeitabschnitt betrachten -sagen wir seit der spanischen Eroberung- würde die Tortilla nicht viel größer werden. Zumindest würde sie kein pixtón sein. Spricht man über die aktuelle Geschichte (die letzten 40 Jahre) ist die Menge des Mais auf dem comal, genau wie mein Land im kosmischen Spektrum, wirklich sehr gering. Trotz allem ist das eben die Zeit, in der ich leben muss und der Mais, den ich essen muss. Denn wir ernähren uns von der Zeit, genau wie ein Land sich von seiner Geschichte ernährt. Oder besser gesagt, von seinen Geschichten.

Wenn wir uns vom Glauben an eine einheitliche Geschichte abwenden, wenn wir uns bewusst machen, dass es niemals nur eine Geschichte über irgendeinen Ort geben wird, stehen wir an der Schwelle zu einer besseren Welt. Die Geschichte ist die Vibration der kollektiven Erinnerung im permanenten Wiederaufbau. Die Geschichte als gemeinsame Wahrheit lässt sich als eine konstante Interaktion von Erzählungen beschreiben, als eine Reihe von symbolischen Austauschbewegungen, die teilweise gewaltsam sein können. Die Geschichte eines Landes ist weder geradlinig noch linear. Die offizielle historische Erzählung sieht sich mit den anders denkenden Zeitzeugen konfrontiert. Und dies alles wird vertieft und erweitert durch die Fiktion und die Poesie.

Für mich ist Geschichte die Geschichte, die ich lebe, das heißt, die Geschichte, die ich schreibe – die Geschichte, die ich als wahrhafte empfinde, die, die es am meisten verdient, erzählt zu werden. Aber es ist auch die Geschichte, von der ich träume und die Geschichte, die ich mir vorstelle – in der Vergangenheit und der Zukunft. Die Schriftstellerei nährt Träume und Alpträume. Sie ist meine Art, die Zeit zu bewohnen. In der Gegend, in der ich geboren wurde, bildeten imaginierte Geschichten schon immer den Blutkreislauf dessen, worüber ich schreiben will. Die Literatur ist die historische Verlängerung des kollektiven Traums. Die Maya-Quichés gehen davon aus, dass das Morgengrauen selbst der Akt ist, in dem das Saatgut im Firmament ausgestreut wird. Schriftstellerei könnte somit die Agrikultur der Leere oder des Himmelsraums sein. Jeder Buchstabe wäre ein leuchtender Samen. Die leere Seite ist die einzig mögliche Perfektion, deshalb ist die Schriftstellerei an sich ein Knäul von Wünschen und Unreinheiten. Jeder schwarze Buchstabe drückt gleichzeitig ein bisschen Dunkelheit aus. Und so ist der Lauf der Geschichte, den wir für unser Land niederschreiben, ein ewiges Schwanken zwischen den Leben spendenden und Tod bringenden Kräften.

Es lassen sich mehrere Konstanten in der Geschichte Guatemalas ausfindig machen, die sowohl die präkolumbianische, die koloniale, als auch die moderne Epoche dieses Landes kennzeichnen: eine davon, vielleicht die schmerzhafteste, ist der Wille der Macht, alles Andersartige vollständig zu unterdrücken. Die politische, wirtschaftliche und diskursive Macht entscheidet, welche Sektoren die Zivilgesellschaft hassen soll, und legitimiert dadurch eine Vielzahl von Aktionen, die den Status quo fördern und untermauern. In jüngster Zeit hat uns das einen Bürger- und Bruderkrieg eingebracht, der über vier Jahrzehnte –bis ins Jahr 1996– andauerte. Dieser Krieg setzt sich heute in einer blutigen Nachkriegszeit fort, in der neue (??) Vektoren mobilisiert werden, die davon profitieren, dass sich die Gewalt als privilegiertes soziales Verhalten festigen konnte: das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel, kriminelle Jugendbanden usw. Der Status quo erhält sich aufrecht und bestätigt sich dabei auch -beachten wir das Paradox- dank der Existenz des „Anderen“. Dessen Gegenposition rechtfertigt nicht nur die Machtausübung, sondern macht auch Wohltätigkeit und Paternalismus, als Formen der Aufrechterhaltung des Bestehenden, praktikabel. Man muss verstehen, dass das Entwürdigende, das, was wir die Barbarei nennen, nicht die Ausnahme in einer Gesellschaft oder in einem Land ist. Es ist Teil eines feinmaschigen Netzes, aus dem die gesellschaftlichen Organisationsmodelle auf globaler Ebene gesponnen sind. Die Geschichte Guatemalas ist nur ein Fragment, ein Fraktal, eine hauchdünne Faser der glühenden Kristallkugel, die unsere Welt und Moderne darstellt. Und dasselbe gilt für das spirituelle Erbe, für die Schönheit der guatemaltekischen Vielfalt: es ist nur das Blütenblatt einer wunderschönen, ökumenischen Blume, eine der Tausend spirituellen Landschaften, die den vollständigen Mensch ausmachen, der die Vollendung des aktuellen piktún bewohnt.

Meine Art, in dieser Zeit zu leben, steht in direkter Verbindung mit der Bereitschaft, weiter von der Geschichte meines Landes und deren Verwaltern zu lernen. Vielleicht ist es meine Rolle dabei zu helfen, die Vorstellung einer Gegenwart, die sich auf die immer erträumte harmonische Zukunft projiziert, anzudeuten. Mir würde es beispielsweise gefallen, meiner Oma beizubringen, wie man diese Art Überlegungen im Web findet, oder wie man ihr bescheidenes Haus im Osten Guatemalas mit Google Earth sehen kann. Es geht darum, alles mit dem Herzen zu tun: genauso wie sie mir an einem wunderschönen Nachmittag in meiner Kindheit beibrachte, Kugeln aus Maisteig zu formen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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